Die Kritik an Samuel Huntingtons Thesen über den „Clash of Civilizations“, wie sie unter anderem auch auf diesen Seiten geäußert wurde, zielt vor allem auf seine angebliche Überbewertung historisch-kultureller und ethnisch-religiöser Faktoren – und damit weitgehend ins Leere. Als Huntington vor zwanzig Jahren seine Thesen niederschrieb, waren noch immer die „Modernisierungstheorien“ en vogue. Ja, Fukuyama träumte vom „Ende der Geschichte“.
Wer damals Kultur, Religion, Sprache, Ethnizität usw. als relevante Faktoren zur Erklärung politischer Entwicklungen ins Spiel brachte, wurde als hoffnungslos rückständig angesehen. Die sogenannten „sozioökonomischen Faktoren“ waren einzig zulässiges Erklärungsmuster, mit dessen Hilfe man sich etwa bemühte, die Machtergreifung und den brutalen Machterhalt der alewitischen Minderheit in Syrien zu erklären.
Selbstverständlich sind sozioökonomische Faktoren wichtig. Den syrischen Alewiten etwa ging und geht es sicher auch um die Teilhabe an ökonomischen Ressourcen. Aber eben nicht nur. Heuten sehen wir: Es ging auch um die Selbstbehauptung als religiöse, von der sunnitischen Mehrheit jahrhundertelang unterdrückte Minderheit. Wenn diese innerislamischen Auseinandersetzungen als Beleg für die Schwäche von Huntingtons Thesen herangezogen werden („Die meisten Opfer des IS sind nicht Andersgläubige, sondern Muslime!“ ), dann verkennt man, dass Alewiten und Schiiten für die IS-Islamisten erst recht als todeswürdige Apostaten gelten.
In Bosnien und Kosovo spielt sich der „Clash of Civilizations“ quasi unter den Gewehrläufen europäischer Friedens- und Polizeitruppen vor unserer Haustür ab.
Doch, die von Huntington bezeichneten „Bruchlinien“ lassen sich derzeit vor allem zwischen dem Islam und den anderen Zivilisationen erkennen: Auf dem Balkan, im Kaukasus, in Sinkiang, in Kaschmir, im Sudan und in Nigeria – heute mehr denn je. Und wer glaubt, dies spiele bei formeller Akzeptanz „europäischer Werte“ keine Rolle mehr, dem sei eine Reise nach Bosnien und Kosovo empfohlen. Dort spielt sich der „Clash of Civilizations“ quasi unter den Gewehrläufen europäischer Friedens- und Polizeitruppen vor unserer Haustür ab. Sie konnten einen offenen Ausbruch bisher verhindern. Doch der ist jederzeit (wieder) möglich.
Damit sind wir beim zweiten Punkt der Kritik: Huntingtons pessimistischer These einer Zunahme interkultureller Konflikte wird die Strahlkraft der europäischen, von den UN als global sanktionierten, Werte gegenübergestellt. Dabei wird übersehen: Diese Strahlkraft ist im Abnehmen begriffen, wenn es sie denn – über aufgeklärte, säkulare Minderheiten außerhalb des Westens hinaus – je gegeben hat. China jedenfalls hat sie sich nie zu eigen gemacht. Und im Fall des Ukraine-Konflikts haben es Indien, Brasilien und Südafrika schlicht abgelehnt, in die Sanktionspolitik gegen Russland eingebunden zu werden. Unter Hinweis auf die Rolle des Westens im Kosovo-Konflikt und im Irak werden doppelte Standards beklagt, die „der internationalen Ordnung einen weitaus größeren Schaden zufügten als jegliche russische Politik“ (so Andreas Zumach in einem Bericht aus Genf in „Neue Gesellschaft“/FH).
Man kann natürlich der Meinung sein, dies sei lediglich die Haltung der machtbesessenen Eliten, die mit solchen ideologischen Feindbildern ihre Privilegien bewahren wollen. Doch – zumindest in der islamischen Welt – werden in freien Wahlen die Vertreter anti-Westlicher Strömungen gewählt: von der Türkei über den Irak, Palästina, Ägypten, Libyen und Algerien bis nach Marokko. Lediglich in Tunesien konnten sich die säkularen Kräfte knapp durchsetzen. In den Augen von Modernisierungstheoretikern und Werteuniversalisten kann es sich dabei nur um „falsches Bewusstsein“ im vulgärmarxistischen Sinne handeln. Doch was, wenn die Menschen in diesen Ländern mehrheitlich stärker an „ihre“ Werte glauben als an die westlichen? Hat Huntington also nicht doch Recht gehabt?
Mehr westliche Bescheidenheit ist auf jeden Fall angebracht. Letztlich geht es, wie Huntington zu Recht prophezeite, schon längst nicht mehr um die Ausbreitung westlicher Werte, sondern um die Bewahrung in unserem Kulturkreis. Schon in der europäischen Nachbarschaft, ja sogar in manchen EU-Staaten steht es um diese Werte bekanntlich alles andere als gut. Wenn Europa jedoch nicht handlungsfähiger wird, so hat Helmut Schmidt schon vor Jahren festgestellt, dann „ist eine selbstverursachte Marginalisierung der einzelnen europäischen Staaten und der europäischen Zivilisation nicht auszuschließen“. Die Folge: „Der Prozess der weltweiten Aufklärung würde aus Europa keine wirksamen Impulse mehr erhalten.“ Dann wäre das Setzen auf universelle (westliche) Werte nicht viel mehr als wishful thinking.
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