Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen erlassen. Eine Überraschung?

Nein, der Gerichtshof sieht klare Anhaltspunkte für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter das systematische Aushungern der Bevölkerung. Ebenso wird die Verfolgung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe angeführt. Relevant für den Haftbefehl sind insofern die katastrophale Versorgungslage in Gaza sowie die seit Monaten prekäre medizinische Versorgung, die ja auch medial stark thematisiert werden.

Deutschland ist seit dessen Gründung ein wichtiger Unterstützer des Internationalen Strafgerichtshofs. Welche rechtlichen und praktischen Konsequenzen hat der Haftbefehl für die Bundesregierung und deutsche Behörden?

Die zentrale Frage ist, ob Deutschland verpflichtet wäre, Netanjahu bei der Einreise festzunehmen. Grundsätzlich genießen amtierende Regierungschefs Immunität aufgrund der Staatenimmunität. Allerdings gibt es für internationale Strafgerichte Ausnahmen. Der Internationale Gerichtshof hat 2002 im sogenannten Haftbefehlsfall bei einer Klage der Demokratischen Republik Kongo gegen Belgien entschieden, dass gewohnheitsrechtliche Immunitäten von Offiziellen gegenüber internationalen Gerichten nicht gelten.

„Netanjahu wird nicht nach Deutschland reisen.“

Ein wichtiger Punkt ist, dass Israel kein Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs ist. Daher wird diskutiert, ob diese Ausnahmeregel auch für Staaten gilt, die nicht dem Gerichtshof angehören. Viele Experten argumentieren, dass es bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Immunität geben kann. Dafür spricht aus meiner Sicht einiges – auch wenn die Rechtslage nicht vollständig geklärt ist, und in der Vergangenheit Staaten ähnliche Haftbefehle teils nicht konsequent umgesetzt haben. Deutschland als Mitgliedstaat des Internationalen Strafgerichtshofs müsste Netanjahu demnach festnehmen und überstellen.

Wie realistisch ist es, dass ein israelischer Regierungschef auf deutschem Boden festgenommen wird?

Es ist sehr unwahrscheinlich. Netanjahu wird nicht nach Deutschland reisen – und falls doch, wäre das eine massive Provokation. Sollte er sich tatsächlich ankündigen, müsste die Bundesregierung mit allen diplomatischen Mitteln eine solche Situation vermeiden. Denn wenn er einreist, steht Deutschland vor der Wahl: ihn festnehmen und ausliefern oder eine klare Verletzung der Verpflichtungen gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof riskieren. Jede Reise nach Deutschland oder in andere EU-Staaten könnte man als Test verstehen, ob die Vertragstreue gegenüber dem Strafgerichtshof Bestand hat. Ein solcher Test müsste mit der klaren Botschaft beantwortet werden, dass Deutschland seinen Pflichten nachkommt.

Israel und die USA erkennen den Internationalen Strafgerichtshof nicht an. Welche Auswirkungen hätte es auf das internationale Rechtssystem, wenn Haftbefehle wie dieser nicht umgesetzt werden?

Viele Haftbefehle sind in der Vergangenheit nicht umgesetzt worden, weil man die Angeklagten nicht greifen konnte. Zum Beispiel im Zuge des Ruanda-Tribunals. Das allein würde die Legitimität des internationalen Rechts oder des Strafgerichtshofs nicht erschüttern. Ähnliches gibt es ja auch auf nationaler Ebene. Problematisch wird es, wenn Mitgliedstaaten die Haftbefehle systematisch ignorieren. Sollte Netanjahu weiterhin unbehelligt reisen können, könnte das die Glaubwürdigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs erheblich beschädigen. Besonders kritisch ist dies im Kontext des Vorwurfs, der Gerichtshof sei ein Gericht nur für Afrika oder für Angeklagte aus dem Globalen Süden. Wenn westliche Politiker wie Netanjahu anders behandelt würden als Angeklagte aus Afrika, könnte der Internationale Strafgerichtshof seine Legitimität dauerhaft verlieren. Das ist eine Gefahr, welche die Bundesregierung bei ihrer Entscheidung unbedingt berücksichtigen muss.