Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Am Silvesterabend kam es in Berlin sowie weiteren deutschen Städten, aber auch im Ausland, in Brüssel, in den Niederlanden und anderswo zu massiven Ausschreitungen und Angriffen auf Polizei, Feuerwehr und Rettungskräfte. Seitdem kocht die Debatte hoch. Manche fordern ein Böllerverbot, andere weisen auf tiefere gesellschaftliche und soziale Problematiken hin. Wie ist Ihre Sicht auf die Ereignisse?
Ein Böllerverbot wird ja gerade vermehrt auf linker Seite gefordert. Dies ist mir ein wenig zu uninspiriert. Wir müssen einen Blick darauf werfen, wo diese Ausschreitungen passiert sind. Wer hat da gehandelt? Wo sind diese Menschen sozialisiert worden? Wie sind sie in unsere Gesellschaft integriert oder auch nicht? Welche Chancen und Möglichkeiten haben sie? Die Antworten auf diese Fragen müssen Grundlage linker Innenpolitik sein.
Die Ausschreitungen haben größtenteils in Bezirken mit hohem Migrationsanteil stattgefunden. Die Akteure waren männlich und hatten zu großen Teilen einen Migrationshintergrund oder waren ausländische Staatsbürger. Welche Schlüsse sollten daraus gezogen werden?
Wir brauchen verschiedene Maßnahmen. Es braucht zum einen die Härte des Rechtsstaats. Diese ist ganz uneingeschränkt anzuwenden und zu demonstrieren. Dadurch wird dann auch das Signal an die anderen Mitglieder migrantischer Communitys gesendet: Der Staat hat euch und euren Lebensraum nicht aufgegeben. Deswegen setzen wir darauf, dass strafrechtliche Konsequenzen eure Jungs auch in unsere Gesellschaft reintegrieren. Da sind wir als linke Kräfte natürlich ganz besonders gefordert, die anderen haben an wahrer Integration kaum ein Interesse.
Das rechte Spektrum hat überhaupt kein Interesse an einer konstruktiven Debatte.
Auf der anderen Seite muss man natürlich auch sehen, dass wir in den Gegenden und Stadtteilen, in denen das passiert ist, die Menschen oft vergessen haben. So hat im Zweifelsfall der Ladenbesitzer in Neukölln noch gefühlt an Ostern mit dem Silvestermüll zu tun, während in Berlin-Zehlendorf am 1. Januar schon um vier Uhr morgens alles picobello sauber ist. Wenn das Kinder in der zweiten oder dritten Generation sind, die hier wohnen, sind das unsere Söhne, dann ist das unsere Verantwortung. Dann können wir die auch gar nicht abschieben. Die sind Teil unserer Gesellschaft, die wir miteinander gestalten müssen. Das erfordert auch die offene Hand, vielleicht auch gegenüber den Silvesterjungs.
Nach den Böllern fliegen momentan die Schuldzuweisungen. Sie kritisieren, dass vorschnell die falschen Schlüsse gezogen werden. Was werfen Sie konservativen sowie rechten Kritikerinnen und Kritikern vor?
Das rechte Spektrum hat überhaupt kein Interesse an einer konstruktiven Debatte. Teilweise rutschen Abgeordnete der Union in allerübelsten biologistischen Rassismus ab. Aber auch unser ehemaliger Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist vorschnell dabei gewesen, den Zuzug von Flüchtlingen 2015 für die Situation in Neukölln verantwortlich zu machen. Ich selbst bin 2014 für mein Studium nach Berlin gezogen und bereits damals hieß es, dass man in einige Gegenden an Silvester besser nicht fahren sollte. Die Konservativen und die Rechten nehmen die Vorkommnisse jetzt gerne als weiteren Anlass, Menschen auszugrenzen, weil sie im Kern natürlich gar kein Interesse haben, diese als Teil unserer Gesellschaft zu begreifen. Da kann Herr Spahn bei sich im Münsterland munter weiter über die Ausländer in Neukölln faseln. Dabei kennt er sie nur vom Hörensagen oder aus der BILD-Zeitung.
Ebenso kritisieren Sie aber auch das Schweigen links der politischen Mitte.
Im linken Spektrum schreibt man sich ja oft auf die Fahne, die Realität besonders gut zu verstehen und daraus die richtigen Antworten zu ziehen. Das stimmt ja auch meistens. Das vermisse ich in diesem Kontext aber. Die meisten linken Politikerinnen und Politiker sind wie paralysiert, wenn es darum geht, bestimmte sozio-kulturelle Milieus anzusprechen. Da herrscht mir zu viel Sprachlosigkeit. Im Hinblick auf die Prävention dieser Taten kommt man so nicht weiter. Übrigens sind es ja die migrantischen Communitys selbst, die allzu oft selbst unter den Taten und diesen ewiggestrigen Männlichkeitsvorstellungen leiden. Ihnen schuldet ihr Staat auch Schutz. Linke Regierungen müssen alles dafür tun, um Sicherheit zu garantieren. Franziska Giffeys und Nancy Faesers klare Worte sind in diesem Kontext sehr wohltuend.
Wir haben ein Problem mit jungen Männern zwischen 15 und 25, die innere Loyalitätskonflikte gewaltsam lösen.
Bereits während der Fußballweltmeisterschaft kam es in Brüssel, aber auch in Frankreich und den Niederlanden, zu Ausschreitungen. In Paris wurde über Weihnachten randaliert und in Schweden gibt es ein bekanntes Problem mit Bandenkriminalität, insbesondere in Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil. Haben wir generell ein Integrationsproblem in Europa?
Nein, wir haben ein Problem mit jungen Männern zwischen 15 und 25, die innere Loyalitätskonflikte gewaltsam lösen. Gewalt hat keinerlei Rechtfertigung, weder in Deutschland noch anderswo. Wenn wir aber an die Wurzel des Problems wollen, müssen wir uns anschauen, woher diese Loyalitätskonflikte kommen. Sie sind zu einem Teil selbst von den Jungs verschuldet. Sie haben sich abgeschottet. Aber wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass diese Männer – zumindest in Deutschland – Hanau, den NSU und den NSU 2.0 nicht mitbekommen hätten. Das sind keine stummen und tauben Mitglieder der Gesellschaft. Wieso sollten sie sich für diesen Staat in irgendeiner Art und Weise engagieren oder auch nur produktive Teile dieses Staates sein, wenn dieser sie nicht schützt?
Ist es nicht ein bisschen übertrieben, zu denken, dass Menschen, die sich vom Staat nicht geschützt fühlen, als Folge nicht nur die Polizei, sondern auch Rettungskräfte und Feuerwehrleute, angreifen? Ist es nicht ein wenig naiv, diese Verbindung herzustellen?
Ist es nicht naiv, zu denken, dass Menschen einer Generation, die in der Schule, bei den Behörden sowie in der deutschen Mehrheitsgesellschaft strukturelle Ressentiments erfahren, von einem Tag auf den anderen konstruktive und engagierte Mitglieder unserer Gesellschaft werden? Natürlich haben die die Polizisten nicht wegen Hanau angegriffen. Sie haben weder Respekt vor rechtsstaatlichen Institutionen noch vor Einsatzkräften der Feuerwehr, weil sie sich mit diesem Land nicht identifizieren. Sie fühlen sich schlicht nicht als Teil dieser Gesellschaft. Dass sie dann wiederum als Folge die Institutionen dieses Staates nicht akzeptieren, halte ich nicht für eine naive Feststellung, sondern für eine Binsenweisheit.
Wir müssen auch mit offenen Armen auf diese Menschen zugehen.
Während der WM gab es insbesondere Krawalle nach den Spielen der marokkanischen Nationalmannschaft. Auch in der Silvesternacht waren es nicht die Nachfahren von griechischen oder italienischen Gastarbeitern, die randaliert haben. Inwieweit spielt hier Religion und insbesondere der muslimische Hintergrund der Handelnden eine Rolle bei den Ausschreitungen?
Die Religion hat damit absolut nichts zu tun. Wir sagen ja auch nicht, dass das Christentum für den schrecklichen sexuellen Missbrauch an Kindern verantwortlich ist, sondern suchen die institutionelle Schuld bei der katholischen Kirche. Bemerkenswerterweise gelingt uns hier die Differenzierung. Man kann aber nicht leugnen, dass Personen mit einem bestimmten kulturellen Hintergrund, der noch patriarchalere Strukturen als die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland aufweist, für solche Gewalttaten sowie für ein bestimmtes Männlichkeitsbild noch anfälliger sind als andere. Das heißt aber wahrlich nicht, dass das alles theologisch fundiert und religiös untermauert ist.
Was sind die Lehren, die daraus gezogen werden sollten?
Wir müssen zweigleisig fahren. Wir müssen auf der einen Seite ganz bedingungslos und konsequent die Gewaltlosigkeit unseres Grundgesetzes einfordern. Zum Beispiel durch das Strafrecht, aber auch durch Präventions- und Sozialarbeit. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch mit offenen Armen auf diese Menschen zugehen und sagen: Wir können gar nicht anders, als euch mitten in unsere Gesellschaft aufzunehmen. Das kann dadurch passieren, dass wir strukturelle Ressentiments in unseren Behörden, aber auch in der Gesellschaft bekämpfen. Dazu müssen wir ihn aber zunächst einmal anerkennen. Horst Seehofer hat in der Vergangenheit eine Studie, die uns die Faktenlage bezüglich strukturellem Rassismus bei der Polizei darlegt, verhindert. Nancy Faeser macht hier gerade wahre innenpolitische Pionierarbeit.