Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Welche weltweiten Entwicklungen bedrohen die freie Meinungsäußerung gegenwärtig am meisten?

Die derzeit größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit ist der Rückfall in undemokratische Strukturen. Autoritäre Staaten mit ihrer totalitären Einstellung zensieren und unterdrücken schon immer systematisch abweichende Meinungen. Was heute jedoch besonders alarmierend ist, ist die Tatsache, dass selbst gut etablierte Demokratien damit beginnen, die freie Meinungsäußerung einzuschränken. Sichtbar wird dies an den restriktiven Maßnahmen, die sich gegen die Presse- und Medienfreiheit richten, sowie an der Zunahme von Angriffen auf Journalisten und Journalistinnen. Diese Entwicklungen sind äußerst besorgniserregend, da die Medienfreiheit nicht nur eine Säule der Demokratie, sondern auch ein grundlegendes Menschenrecht ist.

Wie stehen Sie zu der Debatte über Meinungsfreiheit in den westlichen Demokratien?

In den westlichen Demokratien, und in Demokratien ganz allgemein, ist immer häufiger eine Polarisierung von Standpunkten zu beobachten, was für diejenigen, die eine andere Meinung vertreten als die Mehrheit, eine Atmosphäre der Angst schafft. Wenn es auch nicht überall eine gesetzliche Zensur gibt, so führt gesellschaftliche Ächtung und informeller Druck doch häufig zu einer Art Selbstzensur. Und genau das engt den Raum für freie Meinungsäußerung ein.

Zudem gibt es auch ohne körperliche Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten subtile, aber doch bedeutsame Arten und Weisen, die Medienfreiheit zu unterdrücken. Einige demokratische Staaten ergreifen Maßnahmen, die den Medienraum einschränken und ihm die Vielfalt nehmen. Ungarn ist hier ein Paradebeispiel: Die Medien sind zwar formal frei, doch größtenteils unter der Kontrolle der Regierungspartei. Unabhängiger Journalismus existiert im Grunde nur noch online. Außerhalb der städtischen Zentren wie Budapest haben die Menschen nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu vielseitigen und kritischen Informationen. Das ist insofern besonders besorgniserregend, als Ungarn ein Mitglied der Europäischen Union ist.

Die sozialen Medien ermöglichen einerseits mehr freie Meinungsäußerung, erleichtern andererseits aber auch die Verbreitung von Desinformation. Wie sollte die internationale Gemeinschaft mit diesem Spannungsfeld umgehen?

Als die sozialen Medien aufkamen, sah man sie anfangs als Instrument der Demokratisierung, weil sie es Einzelpersonen ermöglichten, ihre Standpunkte darzulegen, ohne auf den Zugang zu großen Medien angewiesen zu sein. Doch mit der Zeit haben sie auch zur Verbreitung von Desinformation, Fehlinformation, Hassrede und anderen Formen der Informationsmanipulation beigetragen. Nach dem Völkerrecht darf Information nur dann eingeschränkt werden, wenn die Rechte und der Ruf anderer, die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder Gesundheit bedroht sind. Hassrede ist zu verbieten. Aber Unwahrheit allein ist kein ausreichender Grund, die Redefreiheit zu beschneiden. Denn der schmale Grat zwischen Wahrheit und Lüge ist häufig subjektiv und daher anfällig für Missbrauch. Deshalb ist es auch so problematisch, Desinformation zu definieren.

Regierungen machen häufig falschen Gebrauch vom Etikett der Desinformation.

Regierungen machen häufig falschen Gebrauch vom Etikett der Desinformation, um Kritik an sich selbst zu unterdrücken. Das unterminiert das öffentliche Vertrauen in die Regierung. Die Zensur falscher oder manipulierter Informationen ändert nicht zwangsläufig die Überzeugungen derjenigen, die sie verbreiten oder aufnehmen. So ein Schritt kann aber dazu führen, dass Verschwörungstheorien in den Untergrund gedrängt werden und es noch schwieriger wird, ihnen entgegenzuwirken. Effektivere Strategien gegen Desinformationen sind die Überprüfung von Fakten und die Förderung vertrauenswürdiger und vielfältiger Informationsquellen. Die Regierungen müssen aufhören, selbst Unwahrheiten zu verbreiten, und stattdessen proaktiv korrekte Informationen bereitstellen. Unabdingbar ist auch eine Förderung der Medienkompetenz, um die Öffentlichkeit zu befähigen, zwischen glaubwürdigen Quellen und manipulierten Narrativen zu unterscheiden. Auf diese Weise verlagert sich der Fokus von der Zensur zum Aufbau von Vertrauen in die Informationsökosysteme.

Schädigende Information und Desinformation sind wirklich sehr vage Begriffe. Wer überprüft die Faktenchecker und wer entscheidet, was Desinformation ist? Die Regierung? Die Medienplattformen?

Entscheidend ist nicht, spezifische Inhalte als Desinformation zu kategorisieren oder zu definieren, sondern vielmehr ein gesundes Informationsökosystem aufzubauen. Das heißt, verschiedene Sichtweisen zu fördern, die Existenz von freien und professionellen Medien sicherzustellen und eine Vielfalt an unabhängigen Medien zu unterstützen. Der Faktencheck sollte sich organisch aus der Verfügbarkeit unterschiedlicher Sichtweisen ergeben und nicht als Reaktion darauf, dass eine Sichtweise als falsch bezeichnet wird.

Die notwendige Medienkompetenz vorausgesetzt, können Menschen anhand verschiedener Sichtweisen vertrauenswürdige Quellen erkennen und zwischen glaubwürdigen Informationen und unglaubwürdigen Behauptungen unterscheiden. Das oberste Ziel sollte darin bestehen, öffentliches Vertrauen in die Informationslandschaft aufzubauen, statt sich reaktiv um die Bekämpfung von Desinformation zu bemühen.

Sie verfolgen weltweit verschiedene Situationen. Welche Regionen sind gegenwärtig in Bezug auf Einschränkungen der Meinungsfreiheit am meisten gefährdet?

Fast jede Region steht vor Herausforderungen in Bezug auf die freie Meinungsäußerung. In autoritären Staaten wie China, Russland, Kuba, Venezuela und dem Iran gibt es überhaupt keine unabhängigen Medien. Das Problem beschränkt sich jedoch nicht nur auf diese Regime. Wie schon erwähnt, gibt es mit Ungarn sogar innerhalb der EU ein Beispiel dafür, wie Desinformation und Medienkontrolle die Pressefreiheit aushöhlen können. Auch demokratische Staaten wie Singapur und Indien schränken immer häufiger den unabhängigen, im öffentlichen Interesse ausgeübten Journalismus ein.

Das ist ein weltweites Problem mit weitreichenden Folgen. Es untergräbt die Demokratie und das öffentliche Vertrauen in Informationen, erstickt Innovationen und behindert die Entwicklung. Wird diesen Tendenzen nicht schnell entgegengewirkt, stellen sie eine erhebliche Bedrohung für das globale Informationsökosystem und die demokratischen Werte dar.

Überall in der Welt nehmen Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten zu. Welche konkreten Maßnahmen können Staaten und die Zivilgesellschaft ergreifen, um die Sicherheit von Medienschaffenden zu gewährleisten?

Die oberste Verantwortung der Staaten besteht darin, die Medienschaffenden zu schützen und sie nicht als Widersacher zu behandeln. Journalisten suchen nach der Wahrheit und ihre Sicherheit ist von entscheidender Bedeutung für die Demokratie. Und doch ist die Straffreiheit bei Verbrechen gegen Journalisten nach wie vor ein großes Problem: Die UNESCO berichtet, dass fast neun von zehn Fällen von Morden an Journalisten unaufgeklärt bleiben. Das sendet ein gefährliches Signal aus: Journalisten können offenbar ohne große Konsequenzen zum Schweigen gebracht werden. Auch juristische Schikane nimmt zu, wobei Antiterrorgesetze missbraucht werden, um gegen Journalisten und andere Medienschaffende vorzugehen, wie es in China mit dem Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong im Fall von Jimmy Lai deutlich wurde. Eine weitere Taktik sind strategische Verleumdungsklagen, bei denen es nicht darum geht, sie zu gewinnen, sondern darum, Journalisten durch finanziellen und psychischen Druck zum Schweigen zu bringen.

Geschlechtsspezifische Gewalt und Hetzkampagnen sind im Internet weit verbreitet.

Auch im digitalen Bereich nehmen die Bedrohungen zu. Geschlechtsspezifische Gewalt und Hetzkampagnen sind im Internet weit verbreitet – vor allem gegen Journalistinnen. Dazu kommt, dass der Mangel an Medienvielfalt diese Probleme verschärft. In vielen Ländern herrschen Medienmonopole, was die Pluralität unterminiert. Eine weitere Bedrohung für die Pressefreiheit ist die finanzielle Instabilität im traditionellen Mediensektor, die durch sinkende Werbeeinnahmen aufgrund der digitalen Medien verschlimmert wird. Um die Sicherheit der Medienschaffenden zu verbessern, müssen die Staaten der Straflosigkeit ein Ende bereiten, die juristischen Schikanen unterbinden und ein unterstützendes Medienumfeld schaffen, wobei die Medien verschiedene Eigentümer haben müssen. Die Zivilgesellschaft muss sich für Rechenschaftspflicht, auf Fakten basierende Berichterstattung und bessere Schutzmechanismen – sowohl online als auch offline – für Journalisten einsetzen.

Sie haben kürzlich auf die Journalistinnen und Journalisten im Gazastreifen und im Libanon aufmerksam gemacht. Wie schlimm ist die Situation dort?

Die UN-Aufzeichnungen aus über 30 Jahren zeigen, dass der Gazastreifen den traurigen Rekord hält, mit der höchsten Zahl an Opfern der tödlichste Konflikt für Medienschaffende und Journalisten zu sein. Der Tod vieler Journalisten ist auf die Heftigkeit des Krieges zurückzuführen, aber es gab auch gezielte Tötungen. Unter dem Humanitären Völkerrecht gelten Journalisten als Zivilpersonen und haben Anspruch auf Schutz. Die gezielte Ermordung von Journalisten ist ein Kriegsverbrechen. Und doch wurden und werden sie im Gazastreifen vorsätzlich getötet. Das Problem wird nur gelöst, wenn gegen die Straflosigkeit vorgegangen wird und die für die Tötung Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. In den meisten Fällen bedeutet das, Israel zur Rechenschaft zu ziehen.

In Israels Umgang mit Journalisten im Gazastreifen, im Westjordanland und auch innerhalb der eigenen Grenzen spiegelt sich das beunruhigende Muster wider, die Berichterstattung über Kriegsverbrechen unterbinden zu wollen. Maßnahmen wie die Tötung oder Inhaftierung von Journalisten, das Verbot des Nachrichtensenders Al Jazeera, die Weigerung, internationale Journalisten in den Gazastreifen zu lassen, und der Druck auf unabhängige israelische Medien wie Haaretz behindern seit langem die kritische Berichterstattung und schränken den Medienraum ein. Das ist äußerst beunruhigend. Da Israel es versäumt hat und immer noch versäumt, die Ermordung von Journalisten in den besetzten Palästinensergebieten zu untersuchen, sollte eine unabhängige internationale Untersuchung eingeleitet werden.

Journalisten spielen in Konfliktgebieten eine unabdingbare Rolle. Ohne ihre Berichterstattung würde es der Welt an kritischen Einblicken in die Realitäten vor Ort fehlen. Friedensbemühungen im Gazastreifen kommen ohne präzise Informationen über die Situation nicht voran. Journalisten sind nicht nur Zivilpersonen unter dem Völkerrecht, sondern gehören in vielerlei Hinsicht zu den wesentlichen Arbeitskräften. Wie Krankenwagenfahrer bewegen sie sich auf die Gefahr zu und nicht von ihr weg. Deshalb steht ihnen nicht nur derselbe Schutz wie anderen Zivilpersonen zu, sondern ein weitaus größerer, um sicherzustellen, dass sie ihre wichtige Rolle als Lieferanten von Informationen für die Welt weiter ausüben können.

Sehen Sie irgendwo in der Welt auch positive Entwicklungen in Bezug auf die Meinungsfreiheit?

Ja, es gibt positive Entwicklungen. Das ist der Grund, warum ich hier in Berlin bin – die Verleihung des FES-Menschenrechtspreises. Er geht dieses Jahr an die PCIN, ein journalistisches Netzwerk aus Nicaragua, das ein sehr gutes Beispiel für eine solche Entwicklung ist. Obwohl die unabhängigen Medien in Nicaragua vom Ortega-Regime fast vollständig zunichtegemacht wurden, haben Journalist:innen mit der Schaffung ihres Netzwerks zur Unterstützung ihrer Kolleginnen und Kollegen im Exil eine bemerkenswerte Solidarität an den Tag gelegt. Das zeigt, dass Menschen selbst unter den härtesten Bedingungen Wege finden, ihre Meinungsfreiheit zu stärken.

Bei Meinungsfreiheit geht es nicht nur um Medienfreiheit; sie ist ein Grundrecht, das viele andere Rechte unterstützt. Dazu gehört das Recht auf Information, das wesentlich ist für Bildung, wissenschaftlichen Fortschritt, Innovation, Demokratie und nicht zuletzt auch für die Friedenssicherung. An der Basis hat die freie Meinungsäußerung Randgruppen Macht verliehen, darunter auch Frauen und indigenen Völkern. Zwar haben Desinformationen in den sozialen Medien negative Auswirkungen, aber die digitalen Tools haben auch in abgelegenen Regionen lebende Menschen zusammengebracht und es ihnen ermöglicht, sich zu organisieren und durch Proteste sowie soziale und Jugendbewegungen bedeutsame Veränderungen zu bewirken. Diese Formen des Aktivismus sind entscheidend für den Aufbau einer besseren Welt und wären ohne freie Meinungsäußerung nicht möglich. Ja, es gibt Hindernisse und negative Entwicklungen, die von Kräften vorangetrieben werden, die den Raum für Meinungsfreiheit einschränken wollen. Der Widerstand ist jedoch groß. Die Menschen setzen sich weiterhin zur Wehr und diese Widerstandsfähigkeit ist ein starker Grund, sich Hoffnungen zu machen.