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In seinem Buch „Konterrevolution: Der Rückzug des liberalen Europa“ analysiert Jan Zielonka, wie es nach der friedlichen Revolution 1989 antiliberalen Kräfte gelingen konnte unsere bestehende Ordnung ernsthaft in Frage zu stellen.
Das Interview führte <link ipg autorinnen-und-autoren autor ipg-author detail author nikolaos-gavalakis _blank>Nikolaos Gavalakis.
In Ihrem neuesten Buch beschäftigen Sie sich mit der Zeit zwischen 1989 und heute. Was hat sich in diesem Zeitraum verändert, und warum sehen sie die Entwicklung so kritisch?
Nach dem Fall der Berliner Mauer hatten wir die große Chance, Europa neu und anders zu gestalten. Es sah damals danach aus, dass wir einer strahlenden Zukunft entgegengehen. Doch schon vor der jetzigen Pandemie mussten wir feststellen: Die Dinge entwickeln sich in eine dermaßen falsche Richtung, dass mehr und mehr Menschen, die früher immer liberale Politikerinnen und Politiker der linken oder rechten Mitte gewählt haben, ihre Meinung ändern und sich Leuten anschließen, die demonstrativ illiberale Positionen vertreten. Wenn ich „liberal“ sage, meine ich alle Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Politiker, die an Menschenrechte, rechtsstaatliche Demokratie, die europäische Integration und multilaterale Diplomatie glauben.
Diese Entwicklung vollzieht sich in Ländern, die ich sehr gut kenne – in Großbritannien, wo ich früher gearbeitet habe, in Ländern wie Polen, wo ich aufgewachsen bin, oder Italien, wo ich derzeit wohne. In all diesen Ländern feiern Politiker, die sich den Illiberalismus stolz auf die Fahnen schreiben, große Erfolge. Diese Entwicklung gibt es – wenn auch vielleicht nicht im gleichen Ausmaß – auch in Deutschland, obwohl Deutschland aus verschiedensten Gründen besser dasteht als andere Länder in Europa. Deshalb würde man eine solche Entwicklung bei euch viel weniger erwarten als in Ländern, die durch die Wirtschaftskrise innerlich zerrissen wurden. Nach dieser Pandemie wird alles noch schwieriger werden.
Die Politiker und Intellektuellen, die die Zeit nach 1989 prägten, haben – so lautet Ihr Vorwurf – die liberale Idee verraten. Auf welche Weise?
Auf ganz unterschiedliche Weise. Als in Europa die Ungleichheit ein Ausmaß annahm, wie wir es in all den Jahrzehnten zuvor nicht erlebt hatten, waren nicht die Populisten an der Macht. Als wir in der internationalen Politik liberale Prinzipien über Bord geworfen haben, waren nicht die Populisten an der Macht. Schauen Sie sich die Bilanz unserer Migrationspolitik an – was haben wir in diesem Bereich gemacht? Wir haben vor allem die Entwicklungshilfe für Nordafrika und den Nahen Osten zusammengestrichen. Im Arabischen Frühling ließen wir die demokratischen Kräfte im Stich, und ich habe die Befürchtung, dass wir jetzt wieder den Schulterschluss mit Diktatoren suchen, damit sie die Migranten vom Mittelmeer fernhalten. Wir haben einige dieser Länder ohne UN-Mandat bombardiert und anschließend lokalen Warlords überlassen. Und dann wunderten wir uns 2015, dass die Menschen aus diesen Ländern fliehen. In den Jahren, in denen das alles passiert ist, waren nicht die Populisten an der Macht.
Als die liberalen Kräfte die ersten Wahlen verloren, haben sie einen Aufschrei veranstaltet und populistischen Politikern und fremdenfeindlichen Wählern die Schuld gegeben. In Wahrheit haben viele Wähler einfach das Vertrauen in eine Politik verloren, die sich von vorne bis hinten als ineffektiv und unmoralisch entpuppt und insbesondere die von ihr selbst proklamierten liberalen Standards nicht eingehalten hat. Wir haben viele Fehler gemacht. Wir haben A gesagt und B gemacht und dafür einen sehr hohen Preis gezahlt. Das sind alles Fakten, die wir aber jedoch meistens nicht zur Kenntnis nehmen. Im deutschen Fernsehen redet niemand über diese Dinge.
Liegen die Konterrevolutionäre also in manchen Punkten richtig?
In manchen Punkten liegen sie durchaus richtig. Wenn sie sagen, dass wir krasse Ungleichheiten zu verantworten haben, dass wir die Migrationspolitik in eine Sackgasse gesteuert und eine oligarchische Demokratie geschaffen haben, in der wir zwar Regierungen wählen, aber keinen Politikwechsel herbeiführen können, dann haben sie zu einem großen Teil Recht.
Das Problem ist: Die konterrevolutionären Politiker haben für die genannten Probleme keinerlei praktikable Lösungen zu bieten. Auch sie schaffen die Ungleichheit nicht aus der Welt. In Polen oder Ungarn haben sie zwar ein paar sozialpolitische Maßnahmen beschlossen, aber sich nicht von der neoliberalen Wirtschaftsordnung verabschiedet. Sie betreiben nach wie vor Neoliberalismus, nur unter nationaler Flagge.
Ich sehe bei den Populisten keine einzige geniale Führungsfigur, die eine Vision zu bieten hätte. Sie sind nur deswegen stark, weil wir, die liberalen Kräfte, schwach sind.
Und was für eine Migrationspolitik bescherte uns Matteo Salvini, als er in Italien Innenminister war? Überhaupt keine. Es war alles nur Show. Er hat keine Migrationspolitik gemacht, sondern lediglich mit Flüchtlingen beladene Schiffe daran gehindert, in italienische Häfen einzulaufen, und in manchen Fällen sogar gegen Recht und Gesetz verstoßen. Das deutlich veränderte Wählerverhalten erklärt sich nicht dadurch, dass die Populisten so stark wären. Ich sehe bei ihnen keine einzige geniale Führungsfigur, die eine Vision zu bieten hätte. Sie sind nur deswegen stark, weil wir, die liberalen Kräfte, schwach sind.
Solche Populisten hat es übrigens immer gegeben. Jean-Marie Le Pen wurde schon in den 1950er-Jahren ins Parlament gewählt. Ich erinnere mich noch gut an Pim Fortuyn in den Niederlanden und Jörg Haider in Österreich. Solche Leute gab es immer, aber sie waren bei Wahlen nie so erfolgreich wie heute.
Sie lassen in ihrem Buch kein gutes Haar am Neoliberalismus. Inwiefern bereitet unsere bestehende Wirtschaftsordnung den Boden für den Erfolg der Konterrevolutionäre?
Die Basis der neoliberalen Ordnung waren Privatisierung und Deregulierung. Die Privatwirtschaft hatte meist Vorrang vor dem Staat. Jahrelang war für staatliche Krankenhäuser oder staatliche Schulen kein Geld da. Und wer durfte für die Kosten aufkommen, als die Finanzwirtschaft mit ihrem absolut verantwortungslosen und teilweise illegalen Verhalten die Finanzkrise heraufbeschworen hatte? Der normale Steuerzahler. Besonders schmerzhaft war es für die Griechen, die für eine Krise geradestehen mussten, die von New York und nicht von Athen ausgegangen war. Die Regierung in Athen hat sicherlich allerhand falsch gemacht, und die Eurozone war von Anfang an eine Fehlkonstruktion, aber man kann den einfachen griechischen Normalbürgern nicht die Schuld für die weltweite Finanzkrise in die Schuhe schieben.
Das große Problem ist, dass die EU ausschließlich von Nationalstaaten gesteuert wird, und wir haben ja erlebt, wie egoistisch sie auf die Finanzkrise reagiert haben.
Während der Pandemie erleben wir gerade genau dasselbe. Wo gehen wir denn hin, wenn wir medizinische Hilfe brauchen? In die staatlichen Krankenhäuser. Lebenswichtig sind für uns nicht irgendwelche privaten Beratungsfirmen, sondern unterbezahlte Krankenschwestern.
Sie gehen auch mit der Europäischen Union hart ins Gericht. Sie sagen: „Die EU lässt sich nicht konsolidieren, sie muss neu erfunden werden.“ Warum sind Sie so pessimistisch, was den Fortbestand der EU in ihrer bisherigen Form angeht?
Das große Problem ist, dass die EU ausschließlich von Nationalstaaten gesteuert wird, und wir haben ja erlebt, wie egoistisch sie auf die Finanzkrise reagiert haben und wie egoistisch sie auch jetzt wieder reagieren. Was haben die Nationalstaaten als Erstes gemacht, als massenhaft Menschen dem Virus zum Opfer fielen? Sie haben einfach die nationalen Grenzen wieder dichtgemacht und angefangen, jeder für sich zu agieren. Sie konnten sich auf nichts einigen – außer auf die Notwendigkeit, das Flüchtlingsabkommen mit Erdogan zu verlängern und den skrupellosen Umgang mit diesen verzweifelten Menschen weiterhin stillschweigend zu billigen.
An den Entscheidungen der EU wirken ausschließlich Staaten mit. Andere staatliche Akteure wie große Städte oder Regionen, die derzeit enorm viel zur Bewältigung der Pandemie beitragen, werden dort nicht gehört. Dass die Staaten das Sagen haben, befördert die nationalen Egoismen, weil die Politiker dieser Staaten sich ihrer eigenen Wählerklientel verpflichtet fühlen und vor jeder gemeinsamen Anstrengung Reißaus nehmen.
Wenn es so ist, dass die Nationalstaaten zu viel Macht haben – was halten Sie von dem Vorschlag, das Europäische Parlament zu stärken?
Ich habe nichts gegen das Europäische Parlament. Aber ich glaube, wenn die europäische Integration gestärkt werden soll, müssen Befugnisse aufgeteilt und dezentralisiert werden, denn ich bin nicht der Meinung, dass die Europäische Union einem Staat gleichen sollte. Die europäische Integration steckt deswegen in einer Krise, weil wir all die Jahre zwar gemeinschaftliche Vorschriften und neuerdings auch Mechanismen entwickelt haben, mit denen die Einhaltung dieser Vorschriften überwacht wird, aber wir haben nicht viele Regierungsbefugnisse an die europäische Zentralgewalt übertragen, denn sobald wir diese Regierungsbefugnisse an die Zentralgewalt übertragen würden, wären die Staaten auf einmal nur noch Lokalregierungen. Das ist auch der Grund, warum wir eine europäische Gemeinschaftswährung ohne gemeinschaftliche Finanzpolitik haben, weil die Staaten die entsprechenden Befugnisse nicht aus der Hand geben wollen.
Nicht nur die Staaten, sondern auch die nationalen Zentralbanken und die Verfassungsgerichte müssten Befugnisse an einen Europäischen Staat abgeben. Ich glaube nicht, dass sie dazu bereit sein werden. Ich denke auch nicht, dass ein Europäischer Staat eine gute Idee wäre. Ich denke, wir sollten das Monopol der Staaten beseitigen und uns bei der Integration verstärkt an fachlichen und nicht so sehr an territorialen Gesichtspunkten orientieren. Konkret heißt das: Wir sollten den etwas mehr als 40 Fachagenturen der EU, die über ganz Europa verteilt sind, mehr Befugnisse und Mittel geben und die Zentrale in Brüssel verschlanken.
Mir wäre es lieber, wenn diese Akteure im Europäischen Parlament Sitz und Stimme hätten, statt in Brüssel hinter verschlossenen Türen Lobbyarbeit zu betreiben.
Um das Monopol der Staaten zu brechen, könnte man zum Beispiel eine zweite Kammer des Europäischen Parlaments ins Leben rufen, in der Städte, Regionen, vielleicht auch NGOs und Wirtschaftsvertreter sitzen. Mir wäre es lieber, wenn diese Akteure im Europäischen Parlament Sitz und Stimme hätten, statt in Brüssel hinter verschlossenen Türen Lobbyarbeit zu betreiben. Und warum sollen Estland oder Zypern am Verhandlungstisch sitzen, Berlin, Hamburg oder Paris aber nicht? Diese Städte sind wirtschaftlich und diplomatisch – zum Beispiel in Bereichen wie der Flüchtlingspolitik – wichtiger als kleine Staaten.
Werden die konterrevolutionären Kräfte geschwächt oder gestärkt aus der Corona-Krise hervorgehen?
Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Die illiberalen Politiker, die an der Regierung sind, versuchen, mehr Macht an sich zu reißen. Das kann man in Ungarn und in Polen sehen. In Polen gibt es nicht viele Covid-19-Infektionsfälle, aber dort geht die Regierung mit der ganzen Situation gesundheits- und wirtschaftspolitisch ziemlich schlecht um. An der Regierung zu sein, ist also nicht automatisch ein Vorteil.
In Ländern wie Italien oder Spanien, die von liberalen Kräften regiert werden und in denen es nicht so gut läuft, vor allem wenn die nordeuropäischen Länder sich nicht solidarisch zeigen, sitzen Leute wie Salvini oder die Vox-Partei in Spanien in den Startlöchern und warten nur darauf, das Ruder zu übernehmen.
Wenn die postpandemische Welt mit Nationalismus reagiert, spielt das den illiberalen Kräften in die Hände, weil sie sowieso gegen die europäische Integration sind. Das ist aus meiner Sicht aber nicht das einzig mögliche Szenario. Ich glaube nicht, dass nach der Pandemie der Nationalstaat als einzige brauchbare Handlungsinstanz übrigbleibt. Ich sehe eine ganze Reihe lokaler Akteure, die ihren Einfluss behaupten oder ausbauen – im Guten wie im Schlechten. In Italien liegen sich die Regierung in Rom und diverse führende Vertreter der Regionen massiv in den Haaren, und diese Vertreter der Regionen tragen auf verschiedenen territorialen Ebenen auch untereinander ihre Kämpfe aus.
Zugleich bin ich davon überzeugt, dass die Regierungen dieser Länder für das, was sie vorhaben, auf Europa angewiesen sind. Denn wie wollen die ärmeren Länder das, was sie versprochen haben, ohne Europa einlösen?
Was müssen die liberalen Kräfte tun, um die konterrevolutionären Kräfte auf lange Sicht zu schlagen?
Die Pandemie wird bestimmte geschichtliche Entwicklungen beschleunigen. Die Menschen realisieren inzwischen, dass sie nicht mit politischer Rhetorik zum Thema Flüchtlinge abgespeist werden wollen, sondern dass ihre Regierungen die Aufgabe haben, Menschenleben und dann Arbeitsplätze zu retten. Die liberalen Kräfte haben eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen, aber mit bloßem Krisenmanagement ist es nicht getan. Sie müssen Politik grundsätzlich anders gestalten. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das sich nicht nur einem kleinen Prozentsatz der Bevölkerung, sondern allen verpflichtet fühlt. Nicht nur den Rentnern, sondern auch den Jungen. Das heißt zugleich, dass eine umweltfreundliche Politik nottut, weil die Jungen von der ökologischen Frage viel stärker betroffen sein werden.
Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, das sich nicht nur einem kleinen Prozentsatz der Bevölkerung, sondern allen verpflichtet fühlt. Nicht nur den Rentnern, sondern auch den Jungen.
Wir brauchen auch eine andere Migrationspolitik, denn wer glaubt, man könnte das Problem lösen, indem man mit Diktatoren in Nordafrika oder im Nahen Osten Deals aushandelt, ist schief gewickelt. Die Migrationspolitik muss liberaler und glaubwürdiger werden. Außerdem muss man endlich aufhören, alle Welt mit Waffen zu beliefern, und zu einer echten Zusammenarbeit finden, die nicht nur Staaten miteinander verbindet, sondern auch gesellschaftliche Brücken schlägt.
Das ist keine leichte Aufgabe. Auf globaler Ebene ist es noch komplizierter. Solange Trump, Bolsonaro, Xi Jinping, Putin, Mohammed bin Salman, Modi und ihresgleichen an der Macht sind und alle bei den G20 am Tisch sitzen, rechne ich nicht mit einfachen globalen Lösungen. Diese Figuren machen mir nicht viel Hoffnung, aber für die Zukunft in Europa bin ich immer noch zuversichtlich.
Für die liberalen politischen Kräfte reicht es nicht, diese oder jene Wahl zu gewinnen. Sie müssen eine andere Politik machen. Die Notsituation, die wir gerade erleben, bietet die Chance dafür. Andererseits droht die Gefahr, dass Populisten die Notstandsvollmachten für ihre Zwecke missbrauchen. Manche der betroffenen Länder werden demnächst im Dauernotstand leben, weil wir keine Einigung zwischen Gläubigern und Schuldnern erzielen, weil wir die Fluchtursachen nicht bekämpfen, die Menschen aus Nordafrika und dem Nahen Osten zwingen, ihre Heimat zu verlassen, und weil wir es versäumt haben, unsere Wirtschaftsordnung fairer zu gestalten.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld