Um die strategische Vorausschau zu verbessern, holt das Verteidigungsministerium mit einer neuen Studie auch Literaten an Bord. Die Studie der Universität Tübingen geht davon aus, dass sich Gewalt extremistischer Gruppen in Literatur und Publikationen abzeichnet, lange bevor sie tatsächlich ausbricht. Ein Kooperationspartner der Forscher ist Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka, der sich neben seinen Werken als unabhängiger Kritiker nigerianischer Politik mit Boko Haram befasst.
Nigerias Regierung hatte Boko Haram im vergangenen Dezember für besiegt erklärt, vereinzelt kommt es aber noch zu Angriffen der Terrormiliz. Wie sehen Sie den derzeitigen Zustand von Boko Haram?
Dem Militär sind sicherlich imposante Erfolge gegen diese tief verwurzelte und skrupellose Gruppierung gelungen – die sich im Übrigen aufgrund der selbstgefälligen Zurückhaltung der früheren Regierung organisieren und innerhalb des Staates zu einer schrecklichen Macht entwickeln konnte. Boko Haram ist angeschlagen, doch der Kopf der Schlange ist noch nicht versengt. Dies ist die Fortsetzung ähnlicher Bewegungen der Vergangenheit. Nicht zum ersten Mal hat sich eine fundamentalistische religiöse Gruppierung gegründet und den Staat angegriffen. Wenn man die Islamisten von einem Ort vertreibt, gruppieren sie sich an einem anderen neu und treten womöglich mit noch größerer Macht wieder auf.
Worauf kommt es jetzt an, damit sich der Prozess nicht wiederholt?
Heute herrscht, und das möchte ich der Regierung zugutehalten, doch zumindest das Bewusstsein vor, dass Umerziehung enorm wichtig ist. Es herrscht Einigkeit, dass man die Denkweise dieser verblendeten Apokalyptiker verändern muss. Und auch, dass man ihnen den Nährboden entziehen muss. Der befindet sich in den Koranschulen. Früher durften die Koranschulen einfach tun und lehren, was sie wollten. Jetzt werden sie genauer überwacht. Leicht zu beeinflussende Kinder und Jugendliche befinden sich dort ein Leben lang unter der Aufsicht von Mullahs. Sie sind komplett von ihnen abhängig und werden darauf programmiert, jederzeit loszuziehen, um Chaos zu stiften. Auf diese Weise ist die militarisierte, gut ausgebildete, disziplinierte Boko Haram entstanden. Sie hat das Denken der Menschen völlig vereinnahmt. Das ist Realität. Man muss dafür sorgen, dass diejenigen, die nachkommen, nicht wieder in die Fußstapfen der Fanatiker treten. Die militärische Lösung muss parallel weiterlaufen, bis der letzte Fanatiker verschwunden ist.
Kann Literatur dabei helfen, Konflikte wie die um Boko Haram zu erkennen, ehe es zu Gewaltausbrüchen kommt?
Wir dürfen nicht den Fehler begehen, die Macht der Literatur zu überschätzen. Aber wir sollten auch nicht meinen, dass die Literatur keine Rolle spielt. Sie bewirkt etwas im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Gruppen, dem Staat oder der Familie. Ihr Einfluss geht über Berufe hinweg, über Ideologien, sogar über wirtschaftliche Interessen. Der Schriftsteller ist ein Detektiv – aber einer, der etwas aufspürt, ehe es passiert. Vor dem Verbrechen. Zugleich ist er ein Amateurpsychologe, ein Amateurökonom, ein Amateurtechnologe. Er erforscht den Menschen und fügt grundverschiedene Elemente zu einem kohärenten Narrativ zusammen. Er sieht daher schon im Voraus Zusammenhänge. Ob eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller auch politisch aktiv ist, hängt vom jeweiligen Temperament ab. Die meisten sind es nicht und daher ist es ihr Werk, das von der Gesellschaft interpretiert und beurteilt werden muss. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Schriftstellern und der Gesellschaft ist keine Zeitverschwendung. So könnten wir besser erkennen, was wahrscheinlich passieren wird oder sogar bereits geschieht, auch wenn es die Verantwortlichen noch gar nicht bemerkt haben.
Wie und wann tauchte Boko Haram und das, wofür die Gruppe steht, erstmals in der Literatur auf?
Bei derlei Ereignissen dauert es häufig einige Zeit, bis sie verarbeitet werden und Eingang in die Literatur finden. Aber wenn man bestimmte religiöse Traktate liest, so war Boko Haram in den Texten der religiösen Eiferer immer schon angelegt. Der Fundamentalismus ist in den Traktaten egal welcher Religion stets enthalten, übrigens auch im Christentum. Deshalb gab es durchaus Warnhinweise; nur waren die Texte, in denen diese Warnungen erfolgten, dem Rest der Gesellschaft nicht zugänglich, weil religiöser Fundamentalismus eine geschlossene Gesellschaft bildet. Oft bedient er sich einer Sprache, die sich den Gläubigen gerade deshalb erschließt, weil sie Außenstehende ausschließt. Literatur, wie Sie und ich sie verstehen, ist dagegen für alle offen. Literarische Hinweise auf Boko Haram gab es nicht. Mittlerweile existieren sie. Es brauchte Zeit, um das Phänomen aufzunehmen und zu verarbeiten.
Funktioniert Literatur bestenfalls als Krisenindikator, oder kann sie in Konflikten auch eine aktive Rolle spielen?
Es gibt überall auf der Welt massenweise Literatur, die sich für alle möglichen politischen Ziele einsetzt. Aber ich fürchte, wer sich für eine Sache einsetzen will, verfasst nicht unbedingt gute Literatur. Sehr oft gerät das zur Propaganda. Das ist die Gefahr. Grundsätzlich kann Literatur in der Vermeidung von Konflikten mehr ausrichten als in der Lösung. Ist ein Konflikt erst einmal ausgebrochen, ist es schwierig, die Haltungen der Beteiligten noch zu verändern. Extreme Positionen lassen sich nur sehr schwer überwinden. Mit der Prävention ist das etwas anderes: Wenn genügend Literatur verfasst wird, die von der Gleichheit der Menschheit erzählt, kann sie Gegensätze überwinden und die Graubereiche ausleuchten. Literatur kartiert das Denken und macht es empfänglich für gewaltfreie Lösungen von Konflikten. Sie geht der Menschlichkeit auf den Grund. Natürlich gibt es auch Literatur, die nur darauf aus ist, die andere Seite zu dämonisieren. Wir sollten alles daran setzen, nicht zu zensieren, sondern eine alternative literarische Position anzubieten.