Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Sie sind derzeit in Beirut, werden aber in wenigen Stunden mit einem der letzten regulären Flüge den Libanon verlassen. Wie ist die Lage derzeit vor Ort?
Die Lage ist angespannt. Es ist ein bisschen paradox: Einerseits sind die Menschen sichtbar nervös, andererseits leben sie ihr Leben normal weiter. Seit der Tötung von Hamas-Chef Haniyeh und Hisbollah-Kommandant Fuad Shukr ist die Stimmung natürlich deutlich aufgeladener. Alle sprechen über eine mögliche Eskalation, es gibt so gut wie kein anderes Thema. Gleichzeitig verabredet man sich normal, geht in Restaurants, in Nachtclubs, an den Strand.
Seit Tagen fliegen israelische Kampfflugzeuge im Tiefflug über Beirut und durchbrechen dabei die Schallmauer. Die bislang stärksten Manöver gab es während der jüngsten Rede von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah anlässlich des Todes von Fuad Shukr. All das ist Teil der psychologischen Kriegsführung der israelischen Armee. Diese Manöver simulieren Angriffe und sollen die Menschen einschüchtern. Die Überschallknalle sind unfassbar laut und gehen einem durch Mark und Bein. Es hört sich an wie eine echte Bombe und der erste Impuls ist: Jetzt geht es los.
Wie groß ist die Angst der Bevölkerung vor einem Krieg?
Relativ groß. Das Land befindet sich in einer extrem schwierigen Situation, die wirtschaftliche Lage ist miserabel. Die Menschen wissen: Wenn jetzt noch ein Krieg dazukommt, sieht es ganz düster aus. Wie die Versorgungslage aussieht, ist ungewiss, insbesondere hinsichtlich des Vorrats an Medikamenten und Nahrung. Das Land ist nicht krisenfest. Auf die Regierung ist kein Verlass, die Menschen helfen sich gegenseitig. Das hat sich während der Pandemie gezeigt, aber auch nach der Explosion im Hafen von Beirut vor vier Jahren. Ein Trauma, das nach wie vor sehr präsent ist. Das merkt man bei diesen Überschallknallen stark. Bei vielen kommen da böse Erinnerungen hoch. Die Menschen wissen, wie schwer ein Krieg sie persönlich, aber auch das ganze Land treffen würde.
Die libanesische Interimsregierung ist schwach. Die von vielen Ländern als Terrororganisation eingestufte Hisbollah dominiert größtenteils das Land. Wie ist ihr Rückhalt in der Bevölkerung?
Das kommt auf die Region an. Es gibt Gegenden im Südlibanon, auch in Südbeirut, wo ihr Rückhalt sehr stark ist. Das heißt natürlich nicht, dass dort alle Menschen aktiv die Hisbollah unterstützen. Es sind trotzdem Gegenden, in denen ganz normale Zivilistinnen und Zivilisten leben. Auch das Viertel, in dem der Hisbollah-Kommandant Shukr getötet wurde, ist ein sehr belebter, ganz normaler Stadtteil. Aber dort hat die Hisbollah schon einen sehr großen Rückhalt.
Ein Teil der Bevölkerung sieht die Unterstützung durch den Iran sehr kritisch.
In anderen Teilen des Landes sieht es aber anders aus. Man kann einen Unterschied machen zwischen der politischen Funktion der Hisbollah – auch als Partei –, hinter der viele nicht stehen, und dem Militärischen. Ein Teil der Bevölkerung sieht die Unterstützung durch den Iran sehr kritisch, weil man sich so zu sehr abhängig macht. Man will nicht von ausländischen Mächten kontrolliert werden. Was jedoch den Widerstand der Hisbollah betrifft, gegen das israelische Vorgehen hier im Libanon, aber auch in Palästina, da stehen schon sehr viele Menschen dahinter.
Seit Monaten beschießt Israel als Reaktion auf die Raketen- und Artillerieangriffe der Hisbollah den Süden des Landes. Wie ist die Situation dort?
Absolut schrecklich. Im Südlibanon gibt es seit dem 8. Oktober Krieg. Da spricht niemand darüber, wann der Krieg kommen wird, er ist längst da. Zehntausende mussten bereits in nördlichere Teile des Landes fliehen, weil die israelische Armee als Reaktion auf den Beschuss der Hisbollah dort täglich Angriffe fliegt. Israel hat sehr systematisch weißen Phosphor eingesetzt und damit große Teile der Landwirtschaft zerstört, sodass es für die Menschen bis auf Weiteres aussichtslos ist, dorthin zurückzukehren. Mehr als 100 Zivilistinnen und Zivilisten wurden getötet. Die Menschen haben täglich Angst um das eigene Leben und kämpfen um ihre Existenz.
Durch ihre Angriffe auf Israel spielt die Hisbollah seit Monaten mit dem Feuer. Militärisch ist die Miliz sehr gut ausgerüstet. 100 000 Raketen soll sie in ihrem Arsenal haben. Will die Hisbollah den Krieg mit Israel?
Ich glaube, sie will ihn nicht. Die Hisbollah hat in der Vergangenheit mehr als eine Gelegenheit gehabt, es dazu kommen zu lassen. Sie hat oft rote Linien gezogen, die dann von Israel überschritten wurden, und hat es dann doch nicht eskalieren lassen. Die Hisbollah sendet viele Signale, dass sie den großen Krieg mit Israel nicht will. Sie scheut ihn aber auch nicht. Die Miliz ist in der Tat deutlich besser aufgestellt als noch im Libanonkrieg 2006 – und selbst da ist die Auseinandersetzung für Israel nicht besonders erfolgreich verlaufen. Mittlerweile, da sind sich alle Expertinnen und Experten einig, ist die Hisbollah in der Lage, den Flughafen in Tel Aviv und andere wichtige Infrastruktur zu erreichen. Israel müsste im Falle eines Krieges wahrscheinlich einen sehr hohen Preis zahlen. Das wissen die Israelis und damit kalkuliert die Hisbollah auch.
Inwieweit hat der tödliche Angriff auf Hisbollah-Kommandeur Fuad Shukr die Stimmung im Land verändert?
In dem Viertel sind die Menschen in der Nacht des Angriffs natürlich auf die Straße gegangen, um zu demonstrieren. Schließlich sind dabei auch vier Zivilisten, darunter zwei Kinder, getötet worden. Die Sicht auf Israel ist im Libanon komplett konträr zu der, die wir in Deutschland oftmals haben, nach der Israel sich quasi permanent selbst verteidigt. Schließlich lebt man hier dauerhaft mit der israelischen Bedrohung. Dennoch sehe ich jetzt nicht, dass ein Großteil der Bevölkerung fordern würde, man solle sich rächen – auch wenn man es natürlich absolut falsch findet, wie Israel agiert. Klar, es gibt Menschen, die froh sind, dass man die Hisbollah als eine Art Verteidigung hat, aber viele sind sich trotzdem bewusst, dass sie auch ein Teil des Problems ist. Die Stimmung hat sich jedenfalls nie dahingehend gewandelt, dass die Leute jetzt diesen Krieg wollen. Dafür ist die Lage im Land einfach zu dramatisch.
Die Bevölkerung im Libanon leidet seit Jahren unter einer Wirtschafts- und Finanzkrise. Aus der Politik kommt kaum Unterstützung. Was wiegt schwerer: der Ärger über die eigene Regierung oder die Abneigung gegen Israel?
Gute Frage. Es ist schwer, das voneinander zu trennen. Viele im Libanon haben viel zu lange dazu geneigt, die Probleme im Ausland zu suchen. Nicht nur bezüglich Israel, sondern generell, was den Einfluss ausländischer Mächte betrifft, zum Beispiel der USA und Irans. Das hat sich seit den Protesten 2019 ein wenig geändert. Der größte Teil der Bevölkerung hält von der Regierung gelinde gesagt gar nichts. Den Menschen ist bewusst, dass ihre eigene Regierung schwach ist, auch weil der Staat so korrupt ist und die Institutionen stark ausgehöhlt wurden. Im Land herrscht eine Korruption, die jenseits von allem Vorstellbaren ist und die in jeden noch so kleinen Lebensbereich eindringt. Die Menschen wissen, dass der Staat deshalb auch nicht die Stärke besitzt, mit einem Land wie Israel an der Grenze umzugehen. Aus diesem Grund konnte die Hisbollah diesen großen Einfluss im Libanon gewinnen, weil es schlicht niemanden gab, der die Rolle als Verteidiger des Landes übernommen hat.