„Je mehr Amis kommen, umso besser“, sagt Taxifahrer Junior, während er seinen altersschwachen Moscovich ohne Klimaanlage in drückender Sommerhitze durch Havanna kutschiert. Junior ist gelernter Ingenieur, aber als Taxifahrer verdient er mehr als doppelt so viel. Umgerechnet 1000 Euro bekommt er monatlich, 900 Euro sind Steuern für den Staat, der Rest des Gewinns gehört seinem Vater, Besitzer des Wagens. Mit den US-Amerikanern, vermutet der junge Mann, könnte sich sein Einkommen verdoppeln. Das Problem ist nur: Bislang ist von den US-Touristen trotz diplomatischen Tauwetters wenig zu sehen. Zwar gibt es nun direkte Flugverbindungen zwischen dem kapitalistischen Festland und der kommunistischen Insel. Zwar wurde die Alstadt dank ausländischen Joint Ventures renoviert und Symbole der ausschweifenden 1940er und 1950er Partyjahre wie die Bar „Sloppy Joes“ mit Blick auf die US-Klientel neu eröffnet. Aber der Papierkram ist noch immer zeitraubend, wie ein US-Urlauber erzählt.

Holpriger Übergang von der Planwirtschaft zum Staatskapitalismus

Dass der Tourismus dennoch boomt und dem Staat 2015 mit 3,5 Millionen Urlaubern einen neuen Rekord bescherte, ist vor allem den Europäern zu verdanken, die die Insel kennenlernen wollen, bevor die US-Touristen einfallen und sich Ketten wie McDonald’s und Starbucks ausbreiten. Doch davon ist im Spätsommer 2016 noch nichts zu ahnen. Unternehmer-Delegationen aus aller Herren Länder geben sich die Klinke in die Hand, Kuba ist „in“– aber der Freihandelshafen Mariel östlich von Havanna kommt nicht in die Pötte. Nur eine Handvoll Unternehmen haben sich dort niedergelassen; selten legt mehr als ein Schiff am Tag an. Nach Angaben des Ökonomen Pavel Vidal bräuchte Kuba ausländische Direktinvestitionen von 2,5 Milliarden US-Dollar jährlich, mehr als 100 Millionen kämen aber nicht zusammen. Das liegt zum einen daran, dass das US-Embargo noch in Kraft ist – auch wenn es US-Präsident Barack Obama im Zuge der Normalisierung ausgehöhlt hat wie einen Schweizer Käse. Vor allem aber sind von kubanischer Seite die Auflagen für ausländische Investoren derart hoch, dass nur wenige den Schritt wagen – außer, sie haben kaum Aktiva zu verlieren, wie AirBnB oder Google, das in Zusammenarbeit mit dem regimetreuen Künstler Kcho ein Internet-Zentrum eröffnet hat, oder die Hotelkette Starwood, die vor kurzem das Hotel Quinta Avenida übernahm und renovierte.

Kuba bräuchte ausländische Direktinvestitionen von 2,5 Milliarden US-Dollar jährlich, mehr als 100 Millionen kommen aber nicht zusammen.

Zehn Jahre ist es nun her, dass Raúl Castro von seinem kranken Bruder Fidel die Regierungsgeschäfte übernahm und einen Reformkurs in Gang setzte, um der sozialistischen Mangelwirtschaft neues Leben einzuhauchen. Vorbild ist China: wirtschaftliche Liberalisierung bei Beibehaltung des Einparteien-Staates. Doch der Übergang von der Planwirtschaft zum Staatskapitalismus gestaltet sich holprig und langsam. Die inneren Widersprüche sind groß. Die Parteibürokratie, die um Privilegien und Macht fürchtet, blockiert. Die Reformer drängeln. Allen voran das Militär, das 60 Prozent der Volkswirtschaft kontrolliert, darunter die Zucker- und Rohstoffindustrie sowie die Tourismus-Holding Gaviota. Die Offiziere haben schon in den 1990ern in Managementkursen kapitalistisch kalkulieren gelernt und wissen: Sollte sich der Tourismus wie geplant verdoppeln, wäre das zum jetzigen Zeitpunkt eine Katastrophe.

Schon jetzt stoßen die Hotelkapazitäten in Havanna und anderen Touristenhochburgen wie der Tabakregion Viñales an ihre Grenzen, ganz zu schweigen von der Wasserversorgung. „Als kürzlich das erste Kreuzfahrtschiff aus Miami hier anlegte und Zehntausende Liter Frischwasser benötigte, kollabierte das ganze System“, erinnert sich ein Staatsbediensteter. Doch der Ausbau der Infrastruktur durch kubanisch-ausländische Joint Ventures scheitert unter anderem daran, dass die Arbeitnehmer vom Staat zur Verfügung gestellt werden – der auch den Löwenanteil ihres Lohns einbehält. Die Arbeiter sind entsprechend demotiviert und lassen Material mitgehen, um es auf dem Schwarzmarkt gewinnbringend zu verkaufen. Verwaiste Bauzäune entlang der alten Prachtstraße Prado im Herzen der Altstadt zeugen von Projekten im planerischen Niemandsland. Nun erlaubte die Regierung dem französischen Konzern Bouygues zum ersten Mal, Leiharbeiter aus Indien einzufliegen, um ein Luxushotel in der Altstadt fertig zu bauen. Auch den internationalen Flughafen, auf dem regelmäßig die Klimaanlage ausfällt und die Gepäckabfertigung teilweise mehr als eine Stunde dauert, soll der französische Konzern so modernisieren.

Es gibt unzählige Geschichten über widersprüchliche Vorschriften, bürokratische Auswüchse und das Genie der Kubaner, diese zu umgehen. Der Balanceakt zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen Reformern und Bremsern, ist so ähnlich wie der kubanische Paartanz Danzón: Man bewegt sich ständig um die eigene Achse, bleibt dabei aber praktisch auf der Stelle. Alles in allem haben es die Reformen bisher nicht geschafft, ein robustes Wachstum zu erzeugen. In diesem Jahr wird sogar höchstens mit einem Prozent gerechnet – aufgrund der Wirtschaftskrise im Bruderland Venezuela und der sinkenden Erdöllieferungen, die Kuba zum Betrieb seiner Heizkraftwerke dringend benötigt.

Zwischen Exil und Unternehmertum

Dabei ist unter dem pragmatischen Raúl vieles in Gang gekommen, was unter seinem dogmatischeren Bruder Fidel unmöglich gewesen wäre. Kubaner dürfen nun TV-Geräte, DVD-Player und Handys legal erwerben, Autos mieten, Hotelzimmer buchen, und sie genießen Reisefreiheit. Die Landwirtschaft, das Bauwesen und der Frachtverkehr wurden dezentralisiert, Lohnanreize für gute Leistungen eingeführt. Bauern dürfen Staatsland pachten, privat bewirtschaften und ihre Produktion frei verkaufen, auch direkt an Hotels und Restaurants. Staatliche Firmenkantinen wurden geschlossen und der Lebensmittelgutschein zusammengestrichen. Privates Kleingewerbe wurde für 201 Berufe erlaubt, private Angestellte, Kooperativen in der Landwirtschaft und weiteren 47 Wirtschaftszweigen wurden zugelassen sowie ein neues Steuersystem eingeführt. Autos und Immobilien können frei verkauft werden – allerdings nur an Kubaner. Staatsbanken haben Kreditlinien für Kleinunternehmer und Bauern eröffnet; kubanische Musiker und Sportler dürfen im Ausland Verträge schließen. Ausländische Investoren dürfen Staatsland statt wie bisher 50 nun auf 99 Jahre pachten und bekommen Steuererleichterungen. Staatsbetriebe erhalten Autonomie über eigene Investitionen und Arbeitskräfte. Auf der ganzen Insel wurden 153 WLAN-Hotspots eingerichtet, die mit umgerechnet 2 US-Dollar pro Stunde allerdings sehr teuer sind. Private Internetanschlüsse bleiben verboten.

Die Reformen haben eine neue gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt. Die Versorgungslage und der Transport haben sich dank der Privatinitiative merklich entspannt. Vor allem aber boomt der Dienstleistungssektor rund um den Tourismus. „Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich Geld zurücklegen und für die Zukunft planen“, sagt Filmemacher Aldo Benvenuto, der das Restaurant „Café Artes“ in Havannas Altstadt betreibt – ein finanzkräftiger, italienischer Partner machte Kauf und Renovierung möglich. Der Betrieb gibt rund einem Dutzend Angestellten direkt und unzähligen Zulieferern indirekt Arbeit zu deutlich besserer Bezahlung als der Staatssektor.

Die Reformen haben eine neue gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt.

Rund eine halbe Million Kubaner sind mittlerweile als selbstständig registriert. Und mit steigendem Einkommen steigt das Selbstbewusstsein. Inzwischen stellen sie ein Kontingent bei der traditionellen Parade zum 1. Mai, die längst nicht mehr unter dem Motto „Sozialismus oder Tod“ steht. Marschiert wird nun „Für einen nachhaltigen und wohlhabenden Sozialismus“. Sie stellen Abgeordnete auf dem Parteitag und immer wieder auch Forderungen. Zuletzt waren es die Rikschafahrer, die – ungewöhnlich auf Kuba – eine spontane Demonstration gegen ihrer Ansicht nach willkürliche Bußgelder organisierten. „Die Gesellschaft und die Realität haben sich in den vergangenen zehn Jahren stärker verändert als das Regime, dessen einziges Ziel der Machterhalt ist“, schreibt die Ökonomin Karina Gálvez in der Zeitschrift „Convivencia“.

Für die Jugend, für die die Revolution der Castros weit entfernte Geschichte ist, bedeutet sozialer Aufstieg nicht mehr, ein Parteiamt innezuhaben, sondern ein Geschäft aufzumachen oder wenigstens einen Job in der Privatwirtschaft zu ergattern. Zumal es für sie auch keinen Platz mehr gibt in der bankrotten Staatswirtschaft, aus der über 1,3 Millionen Kubaner entlassen werden. Der blinde Gehorsam, die Opferbereitschaft, haben kaum verhohlener Kritik und Resignation Platz gemacht: Wer nicht Unternehmer wird oder von Dollarüberweisungen ausgewanderter Familienangehöriger lebt, sucht das Weite. Die Zahl derjenigen, die sich in die USA absetzen, hat sich seit dem im Dezember 2014 verkündeten Entspannungskurs zwischen Kuba und den USA verdoppelt. Mehr als 90 000 Kubaner sind seither in die USA via Mexiko geflüchtet, 10 000 flohen per Boot. Der Hintergrund für die neue Fluchtwelle ist die Furcht der Kubaner, dass im Zuge der Entspannung ein Gesetz fallen könnte, das bislang Kubanern automatisch ein Bleiberecht gewährt, sobald sie US-Boden betreten.

Die Rückkehr der Dogmatiker

Diese Veränderungen fordern den Status Quo heraus. Genauso wie es der historische Besuch von US-Präsident Barack Obama tat, der in einer live im Fernsehen übertragenen Rede von „Blutsbrüdern“ sprach und den Erfindungsgeist der Kubaner lobte, während Raúl Castro in der gemeinsamen Pressekonferenz über eine Frage nach politischen Gefangenen ins Schleudern kam. Wer vom Besuch einen Impuls für die weitere Öffnung der kommunistischen Karibikinsel erhofft hatte, wurde drei Wochen später allerdings enttäuscht.

Der Siebte Parteitag legte eine Vollbremsung hin und markierte die Rückkehr des Parteiapparats, der den Reformen skeptisch gegenüber steht. Weder in Sachen Währungsreform noch Gehaltserhöhungen gab es die lange erwarteten Neuerungen, dabei sind dies die Hauptkritikpunkte der Bevölkerung am System. Den Hardlinern gelang es stattdessen, einen Knebel-Paragraphen zu verankern, in dem die „Anhäufung von privatem Reichtum und Eigentum“ verboten wird. Die Reformen könnten sich in ein trojanisches Pferd verwandeln, warnten die Hardliner. Die heranwachsende Schicht selbstständiger Kleinunternehmer müsse streng überwacht werden, um keine gegenrevolutionäre Bourgeoisie heranwachsen zu lassen. Ganz unbegründet sind die Ängste nicht – schließlich hatte Obama bei seinem Besuch ausführlich gegenüber Dissidenten, Jugendlichen und Kleinunternehmern die Vorzüge von Demokratie und Marktwirtschaft gelobt und sie nach den Worten von Außenminister Bruno Rodríguez „umgarnt“.

Der Siebte Parteitag legte eine Vollbremsung hin und markierte die Rückkehr des Parteiapparats, der den Reformen skeptisch gegenüber steht.

Für Kleinunternehmer, deren Lizenzen vom Wohlwollen der Parteibürokraten abhängen, dürfte fortan ein schärferer Wind wehen. Weil das Militär aber zu tiefe Eingriffe ins Wirtschaftssystem verbietet, wird der neue Dogmatismus ausgelagert und als Kulturkampf inszeniert. Erstes Opfer wurde Kulturminister Julián González, der nicht nur die Rolling Stones, sondern auch Chanel und die US-Celebrities der Kardashian-Familie ins Land ließ und deshalb seinen Hut nehmen musste. Zweites Opfer wurde das Goethe-Institut: Die Pläne dafür wurden auf Eis gelegt.

Die von vielen erwartete, kontrollierte Übergabe der Stafette an die jüngere Generation in den Parteiämtern wurde ebenfalls vertagt. Sowohl der 84-jährige Raúl als auch sein Vizepräsident, General José Ramón Machado (85 Jahre), wurden als erster und zweiter Generalsekretär der Kommunistischen Partei für fünf weitere Jahre bestätigt. Auch im Politbüro gab es lediglich fünf Neuzugänge, darunter drei Frauen. Allerdings gilt keine(r) von ihnen als Modernisierer. „Der Parteitag diente dazu, Zeit zu gewinnen“, sagt der kubanische Autor Amir Valle. Ob mehr Zeit die Gräben zuschüttet oder vertieft, muss sich noch weisen. Klar ist: Die neue Zeitrechnung wird für Kuba wohl erst nach dem Ableben der Castro-Brüder beginnen.