Deutschland geht es gut: Die Steuereinnahmen sprudeln, die Arbeitslosenzahlen gehen weiter zurück, die Große Koalition erfüllt teure Wahlversprechen und kann dennoch – wie es aussieht – ab 2015 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen, zudem feiert das Land seine Fußballweltmeister. Außerhalb dieser „Insel der Seligen“ befindet sich die Welt jedoch in Aufruhr und im Umbruch. Deutschland liegt im Auge des Taifuns. Man muss schon weit zurückdenken, um sich an eine derart zugespitzte und krisenhafte weltpolitische Lage zu erinnern.

 

Die Welt im Umbruch

Die arabische Welt ist in Auflösung begriffen, der Nahe Osten steht in Flammen. ISIS hat den Kampf um ein großislamisches Kalifat eröffnet, das nicht nur den Irak und Syrien umfassen soll, sondern auch Jordanien, den Libanon und Palästina. Im Irak sind seit Ausbruch der ersten Kämpfe zwischen Armee und ISIS Anfang des Jahres rund 5.600 Zivilisten ums Leben gekommen. In Syrien tobt seit drei Jahren ein blutiger Bürgerkrieg, bei dem bereits mehr als 170.000 Tote zu beklagen sind. Israel befindet sich im permanenten Ausnahmezustand und führt Krieg gegen die Hamas und andere Gruppen. In Libyen sind nach dem Sturz Gaddafis die ohnehin schwach ausgebildeten staatlichen Strukturen völlig zusammengebrochen. Zu den tektonischen Verschiebungen zählt auch die Herausbildung eines kurdischen Staates im Nordirak. Der durch Gewalt weiter angefachte Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen iranischen und arabischen Hegemonialbestrebungen zerstört die fast einhundertjährige kolonial begründete Staatenordnung im Nahen Osten.

Afghanistan zittert vor einer Rückkehr der Taliban und die Atommacht Pakistan wird von eben diesen Taliban destabilisiert. Trotz oder wegen des Abzugs der internationalen Truppen bis 2015 ist ein Ende der Gewalt nicht absehbar. Wegen der anhaltenden Gewalt drohen im Südsudan eine humanitäre Katastrophe und eine verheerende Hungersnot. In Nigeria setzt die islamistische Terrorgruppe Boko Haram ihren Kampf für einen Gottesstaat im Norden des Landes mit unverminderter Härte fort. Das radikalislamische Netzwerk ist mittlerweile eine Bedrohung für den gesamten afrikanischen Kontinent. In der Ukraine lässt Putin den Konflikt weiter eskalieren. Ob die Tragödie des Abschusses des malaysischen Zivilflugzeuges eine Wende bringt – zum Guten oder zum Schlechten – bleibt abzuwarten. Die völkerrechtliche Annexion der Krim war allemal der Wendepunkt.

In Epochen von weitreichenden Umbrüchen, wie wir sie derzeit erleben, ist die Versuchung groß, sich abzuschotten.

In dieser Welt der Krisen und Kriege bleibt als einer der wenigen Lichtblicke erstaunlicherweise der Iran. In den Atomverhandlungen zwischen Iran und den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates sowie Deutschland sind die Unterhändler ein großes Stück vorangekommen. Sie haben sich auf ein Papier geeinigt, das Lösungen für diesen seit einer Dekade andauernden Großkonflikt skizziert. Noch nie war die Wahrscheinlichkeit so hoch, dass Washington und Teheran die Auseinandersetzung um das Atomprogramm beenden. 

In Epochen von weitreichenden Umbrüchen, wie wir sie derzeit erleben, ist die Versuchung groß, sich abzuschotten. Besitzstandswahrung und verbissene Nationalismen pflegen dann Initiative und Weltoffenheit zu ersetzen. Amerika ist müde und zieht sich auf sich selbst zurück. China, die künftige Weltmacht, ist derzeit weder fähig noch in der Lage, durch die Bereitstellung öffentlicher Güter die außenpolitische oder weltpolitische Ordnungsfunktion der USA zu übernehmen oder diese zu entlasten. Bisher ist die Rückkehr Chinas auf die Weltbühne friedlich verlaufen. Dies muss nicht zwangsläufig so bleiben. Peking kann, wie wir im Zusammenhang mit den Inselstreitereien im Südchinesischen und im Ostchinesischen Meer erfahren, auch aggressivere Töne anschlagen. In Zukunft wird der Pazifik zur Hauptbühne der Weltgeschichte des 21. Jahrhunderts werden und Europa geografisch und machtpolitisch weiter marginalisiert. Da keine andere Macht in Sicht ist, die die amerikanische Rolle einnehmen könnte, dürften sich selbst überzeugte Antiamerikaner – trotz aller Enttäuschungen über den amerikanischen Partner – künftig nach der alten globalen Ordnungsmacht zurücksehnen. Die Regeln der internationalen Ordnung sind herausgefordert – mit unabsehbaren  Konsequenzen für die bereits jetzt schon turbulenten Regionen wie Ostasien, Zentralasien, den Nahen und Mittleren Osten und Teile Afrikas.

 

Auf den Trümmern der Neuen Weltordnung?

Im Jahrzehnt der Hoffnungen von 1990 bis 2001 schien nach der Ära des Kalten Krieges eine neue Epoche der Abrüstung, der zivilen Konfliktbearbeitung und der Friedensdividende möglich. Am 11. September 1990 – elf Jahre vor den Terroranschlägen auf New York und Washington – kündigte der damalige US-Präsident George Bush (der Ältere) vor dem Kongress eine „neue Weltordnung“ an, in der „die Herrschaft des Rechts die Herrschaft des Dschungels“ ersetzt. „Eine Welt, in der die Völker die gemeinsame Verantwortung für Freiheit und Gerechtigkeit erkennen. Eine Welt, in der der Starke die Rechte des Schwachen respektiert.“  Davon sind wir – nicht zuletzt dank der tätigen Beihilfe von Sohnemann George W. – Lichtjahre entfernt. Heinrich August Winkler hat hierzu treffend ausgeführt: „Vermutlich werden spätere Historiker zu dem Schluss gelangen, dass im Jahre 2014 eine Zwischenphase zu Ende ging – jene Zeit, die vor einem Vierteljahrhundert mit den friedlichen Revolutionen in Osteuropa begann, im Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ihr historisches Symbol fand und die Welt mit der Hoffnung erfüllte, dass sich die Ideen der atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, wenn nicht global, so doch im gesamten Bereich der damals noch existierenden Sowjetunion durchsetzen würden.“ 

 

Rückkehr zur Stärke des Rechts

Wenn das „kurze 20. Jahrhundert“ (Eric Hobsbawm) mit dem Jahr 1914 begann, könnten zukünftige Historiker durchaus sagen, auch das 21. Jahrhundert habe im Jahr 2014 begonnen. Es ist erst 14 Jahre alt – doch die Hoffnung auf eine friedliche Welt der Normen und Regeln scheint derzeit in Trümmern zu liegen. Stehen wir vor einer Zeitenwende, in der die Regeln und Normen der internationalen Politik zunehmend erodieren, vor einer Rückkehr zur Großmacht und Geopolitik? Die Grundsätze der internationalen Ordnung sind herausgefordert. Wir müssen an den über Jahrzehnte geschaffenen Regeln und Normen der internationalen Politik wieder festhalten und sie stärken und anpassen. Wir brauchen eine internationale Ordnung, die auf gemeinsame Interessen, auf Einvernehmen, auf Kooperation und Mitgestaltung gründet. Diese Errungenschaften dürfen trotz aller Rückschläge nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Deutschland und seinen Partnern in der EU kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Die vielleicht größte Herausforderung dabei ist die schleichende Erosion des europäischen Einigungsgedankens im Innern. In vielen EU-Ländern erreichen antieuropäische Populisten sagenhafte Umfragewerte, die von Enttäuschung, Wut und manchmal gar Hass gegen das gemeinsame europäische Friedensprojekt zeugen.

Wir brauchen eine internationale Ordnung, die auf gemeinsame Interessen, auf Einvernehmen, auf Kooperation und Mitgestaltung gründet.

Wir müssen eine Ordnung schaffen, die auf dem Völkerrecht und dem Prinzip der Friedfertigkeit beruht. Wir brauchen wirksame Regeln und Mechanismen der Konfliktregelung, der Schieds- und Strafgerichtsbarkeit, die auf verbindlichen Prinzipien aufbauen. Dabei muss man keinesfalls das Rad neu erfinden. Diese Regeln sind vorhanden und haben u.a. dazu beigetragen, den Ost-West-Konflikt friedlich zu beenden. Sie müssen nur respektiert, angewandt und dort, wo erforderlich, angepasst werden. Zu diesen gehören die Instrumente der internationalen Straf- und Schiedsgerichtsbarkeit und des Europäischen Gerichtshofs ebenso wie die der Schlichtung, der Vertrauensbildung, der Einsetzung von Wahrheitskommissionen und so fort, die dazu geführt haben, dass staatliches Recht heute zu einem wachsenden Teil internationalisiert ist. So hat beispielsweise der Ständige Schiedsgerichtshof in Den Haag Russland zur Zahlung von 50 Milliarden Dollar verurteilt, eine spektakulär hohe Entschädigung für die Enteignung des Yukos-Ölkonzerns. Auch die vorhandenen Instrumente der Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen wieder stärker genutzt werden. Wir brauchen trotz und gerade wegen der Ukraine-Krise einen Neustart bei der konventionellen Rüstungskontrolle, einen neuen KSE-Vertrag, wir müssen 2015 die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages zum Erfolg führen und die Verhandlungen über eine massenvernichtungswaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten wieder aufnehmen. Kernwaffenfreie Zonen sind grundsätzlich eine wichtige Ergänzung und wertvolle Unterstützung für das globale Nichtverbreitungsregime. Deshalb wäre es dringend notwendig, dass die fünf offiziellen Atommächte endlich das Zusatzprotokoll über negative Sicherheitsgarantien zum Bangkok-Treaty unterzeichnen.

Auch das im Zuge des Kosovokrieges 1999 unter UN-Generalsekretär Kofi Annan entwickelte Konzept der Schutzverantwortung, welches den Vereinten Nationen bei Genozid, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht zum Handeln auferlegte, muss weiter präzisiert werden. So hat die mit der Schutznorm begründete Intervention in Libyen 2011 mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert. Zwar gelang es, das von Gaddafi angedrohte Massaker an der Zivilbevölkerung in Bengasi zu verhindern. Die NATO legte in der Folge das Mandat allerdings sehr weit aus und ließ sich als Luftwaffe der Rebellen instrumentalisieren. Mit der Folge, dass Russland und China sich vom Westen hintergangen fühlten. Die traurige Lehre, die aus dieser Mandatsüberdehnung gezogen wurde, müssen wir derzeit an einer gelähmten und blockierten UNO angesichts der syrischen Tragödie besichtigen. Dennoch sollte nach wie vor gelten: Nur Staaten, die die Grundrechte ihrer Bürger schützen, können sich auch auf das Souveränitätsrecht berufen.

 

Eine handlungsfähige EU mit starken Partnern

Entscheidend für unsere Zukunft ist, dass wir in der EU zusammenhalten, um diese Herausforderungen gemeinsam zu meistern. Der Zusammenhalt unserer Union ist der Schlüssel zu Frieden und Stabilität in Europa.  Zugleich müssen Deutschland und die ganze EU einen neuen Modus Vivendi mit den USA suchen – kritischer, rationaler und weniger gefühl- und erwartungsvoll. Notwendiger Streit muss energisch ausgetragen werden, zugleich aber bleiben die USA der wichtigste Partner Europas.

Europa hingegen wird nicht umhin kommen, seine Außen- und Sicherheitspolitik effizienter zu gestalten.

Europa hingegen wird nicht umhin kommen, seine Außen- und Sicherheitspolitik effizienter zu gestalten. Es wäre hier schon viel gewonnen, wenn die 28 EU-Außenminister künftig ihrem Außenpolitik-Beauftragten mehr Handlungsfreiheit zugestehen würden und eine stärker integrierte Sicherheitspolitik betreiben würden. Zudem sollten die OSZE und ihre Instrumentarien wie das Konfliktverhütungszentrum dringend gestärkt werden.

Darüber hinaus muss sich künftige Außenpolitik zunehmend direkt den Ursachen innergesellschaftlicher und regionaler Konflikte widmen, dem Armutsproblem und den sozialen Gegensätzen in vielen Teilen des „globalen Südens“. Hierfür brauchen wir Partner. Und diese werden nicht die neuen Gestaltungsmächte sein, sondern die transatlantischen Demokratien und unsere Partner in der Europäischen Union – auch die vermeintlich kleinen. Den „Ewigen Frieden“ Immanuel Kants wird es vielleicht nie geben. Doch so gewaltsam, wie die Welt heute ist, darf sie nicht bleiben.