Mit der überraschenden Wahl von Benoît Hamon zum Präsidentschaftskandidaten der französischen Sozialisten (PS) hat sich ein Trend verstärkt, der nichts Gutes für Europa bedeutet. Die meisten der mehr als ein halbes Dutzend ernsthaften Kandidaten gehen deutlich auf Distanz zur EU. Souveränität und Schutz vor den Folgen der Globalisierung stehen im Vordergrund. Da Europa versagt hat, soll es der Nationalstaat richten. Zum Teil nicht nur unterschwellig richtet sich das vor allem auch gegen Deutschland, genauer gesagt, gegen die von Bundeskanzlerin Angela Merkel der EU verordnete Austeritäts- und Freihandelspolitik. Als Beweis dient manchen das Scheitern von Präsident François Hollande, dem die Deutschen eine Lockerung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts versagt hatten. Das war immerhin eines seiner wichtigsten Wahlversprechen gewesen, mit dessen Hilfe er gehofft hatte, den Arbeitsmarkt ankurbeln zu können.

So ist der Sieg von Hamon auch eine späte Rache an der Bundeskanzlerin, die nicht nur in Frankreich das Feindbild der Linken schlechthin darstellt. Hamon stellt den Stabilitätspakt in Frage und tritt für die Annullierung aller seit 2008 aufgelaufenen Schulden und deren Vergemeinschaftung im Rahmen der Europäischen Zentralbank ein – ein Horrorszenario für Merkel und Schäuble. Hamons zentraler Programmpunkt – bedingungsloses Grundeinkommen für alle – würde den Schuldenberg noch erhöhen. Gleichzeitig plädiert er für ein stärker integriertes Europa, allerdings unter deutlich linkem Vorzeichen und mit anti-deutscher Stoßrichtung, wenn er die „Reisen nach Berlin“ und den „Misserfolg des deutsch-französischen Direktoriums“ kritisiert. Mit einer „Allianz der europäischen Linken“ will er die herrschenden Kräfteverhältnisse in der EU, sprich: die deutsche Quasi-Hegemonie, beenden. Aber auch sein unterlegener Gegner vom Realo-Flügel der PS, der frühere Ministerpräsident Manuel Valls, sieht Europa in erster Linie als „Föderation von Nationalstaaten“, die besseren Schutz vor globaler Konkurrenz bieten müsse. Große Chancen, dass sich diese Vorstellungen durchsetzen, gibt es freilich nicht; nach allen Umfragen rangiert der PS-Kandidat mit 8-10 Prozent erst an fünfter Stelle.

So ist der Sieg von Hamon auch eine späte Rache an der Bundeskanzlerin, die nicht nur in Frankreich das Feindbild der Linken schlechthin darstellt.

Wesentlich größere Chancen hat der frühere Ministerpräsident François Fillon von den konservativen Republikanern, dessen Zukunft freilich wegen der Affäre um die Beschäftigung seiner Ehefrau ungewiss ist. Bei ihm fehlt in kaum einer Rede das Wort „Souveränität“, und auch das sensible Thema „Identität“ gehört zu seinen Markenzeichen. Damit und mit seiner kleinen Schrift „Den totalitären Islamismus besiegen“ fischt er am rechten Rand und berührt zudem die Grenzen der in Bezug auf den Islam in weiten Teilen Europas besonders ausgeprägten „political correctness“. Mit dieser Betonung traditioneller konservativer Werte unternimmt Fillon offensichtlich den Versuch, die „etatistisch“ geprägte Rechte mit seinem für französische Verhältnisse radikalen Reformprogramm der wirtschaftlichen Liberalisierung zu versöhnen. Dazu gehören auch seine außenpolitischen Vorstellungen, die ein verbessertes Verhältnis zu Russland und die Aufhebung der Sanktionen vorsehen, auch, um gemeinsam mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ vorzugehen.

Auf den extremen Flügeln des politischen Spektrums zeichnet sich derweil eine interessante Entwicklung ab. Sie wird von einer intellektuellen Diskussion befeuert, die Gemeinsamkeiten zwischen Rechts- und Linkspopulisten in den Vordergrund stellt. So konstatiert der bekannte Ökonom Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) die Übereinstimmung von Marine Le Pen, der Vorsitzenden des Front National (FN), und Jean-Luc Mélenchon, dem Kandidaten der radikalen Linken, in einem wesentlichen Punkt: „Sie stellen die europäischen Verträge und das aktuelle Regime der übertriebenen Konkurrenz zwischen Ländern und Territorien in Frage, was viele Verlierer der Globalisierung anspricht.“ In den Augen von Piketty ist der von beiden gepflegte Populismus „nichts anderes als die konfuse, aber legitime Antwort auf das Gefühl des Im-Stich-gelassen-seins breiter Schichten des Volkes in den entwickelten Ländern angesichts von Globalisierung und wachsender Ungleichheit.“

In der Tat gibt es eine starke linksnationale Tradition in Frankreich, die sich auf das Erbe der Revolution von 1789 beruft, in der Patriotismus und Revolution eine Einheit bildeten, und die sich erst später in die politischen Lager der Rechten und Linken spaltete. Aber immer wieder hat es Versuche gegeben, diese Einheit wieder herzustellen, zuletzt unter dem früheren PS-Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevènement in den 1990er Jahren. In mancher Hinsicht steht Arnaud Montebourg, der sich ebenfalls um die PS-Kandidatur bewarb, in dieser Tradition. Und umgekehrt gab es lange Zeit eine starke links-gaullistische Strömung bei den Rechten, die sich ebenfalls in den 1990ern vor allem in der Person von Philippe Séguin manifestierte, dem zeitweiligen Parlamentspräsidenten und Parteivorsitzenden. Dieser gilt als politischer Ziehvater von François Fillon, der mit ihm gemeinsam 1992 die Kampagne gegen den Vertrag von Maastricht unter Schlagwörtern wie soziale Gerechtigkeit, Partizipation und Souveränität führte. Wenn bei Fillon heute offensichtlich das linke Erbe abhandengekommen ist, so sehen manche Beobachter, wie der Journalist Eric Zemmour, den Front National als gemeinsamen Erben dieser beiden Strömungen.

Daran ist richtig, dass der FN seit der Übernahme des Vorsitzes durch Marine Le Pen 2011 eine nicht nur optische Wandlung durchlaufen hat. Vor allem unter dem Einfluss des jungen „Chefideologen“ und stellvertretenden Vorsitzenden Florian Philippot hat die Partei ein quasi „linkes Antlitz“ angenommen. Im Gegensatz zum früher eher wirtschaftsliberal geprägten Programm wird nun stärker die Rolle des Staates und das sozialstaatliche Modell betont. Die programmatischen Schlüsselbegriffe sind aber nach wie vor Souveränität, Identität und Sicherheit. Zusammengenommen erinnert das in der Tat stark an die Tradition von Séguin und Chevènement, und es ist kein Zufall, dass Phillippot die Kandidatur des Letzteren bei der Präsidentschaftswahl 2002 ebenso unterstützte wie die Kampagne gegen den Europäischen Verfassungsvertrag drei Jahre später. Der FN ist stark in der Arbeiterschaft und bei den jüngeren Wählern verankert, was die linke PS nicht von sich behaupten kann. Die von Philippot mit Unterstützung Marine Le Pens betriebene „Entdiabolisierung“, das heißt Öffnung hin zur Mitte, stößt freilich auf den Widerstand eines starken traditionellen Flügels der Partei unter Führung ihrer Nichte Marion Maréchal-Le Pen, die bei der Basis große Popularität genießt. Zaghafte Andeutungen der Parteichefin, dass der Bruch mit der EU vielleicht doch nicht ganz so radikal ausfallen müsste, dürften bei diesem Flügel nicht auf Zustimmung stoßen.

In der Mitte werden in Frankreich – ganz im Gegensatz zu Deutschland – in der Regel keine Wahlen gewonnen.

Marine Le Pen gilt nach landläufiger Meinung als gesetzt für die Stichwahl am 7. Mai 2017. In allen Umfragen liegt sie mit Werten zwischen 25 und 28 Prozent vorn. Doch seit der Wahl von Donald Trump ist man auch in Frankreich mit Prognosen vorsichtig geworden. Vor allem der stetige Aufstieg von Emmanuel Macron (bis zu 20 Prozent in den Umfragen) lässt ein Duell mit Fillon (oder einem anderen Rechtskandidaten, falls dieser aufgeben müsste) zulasten von Le Pen nicht mehr ganz unwahrscheinlich erscheinen. Macron ist das „Weltkind in der Mitten“; das ist seine größte Stärke, aber auch eine gewisse Schwäche. Denn in der Mitte werden in Frankreich – ganz im Gegensatz zu Deutschland – in der Regel keine Wahlen gewonnen. Mit Macron könnte sich das ändern, vor allem begünstigt durch die Wahl von Hamon zum PS-Kandidaten, denn schon haben zahlreiche PS-Mandatsträger Macron zum Kandidaten eines sozialdemokratischen, gemäßigt linken Lagers ausgerufen. Dieser, obgleich zwei Jahre Wirtschaftsminister unter Hollande, hat es bisher verstanden, sich das Image des Frischen, Unverbrauchten zu geben, obwohl er doch ein klassischer Vertreter der Pariser Elite ist, gegen die sich auch in Frankreich zunehmend der Volkszorn wendet.

In den (ausländischen) Medien zumeist als „sozial-liberal“ etikettiert, vertritt Macron in Wahrheit einen „Ordoliberalismus à la française, einen Liberalismus durch den Staat, nicht gegen den Staat“, so der Essayist Mathieu Laine in Le Monde. Für Brüssel und Berlin ist er der Idealkandidat, dessen europapolitische Vorstellungen freilich nebulös bleiben. Und auch Macron verliert den Nationalstaat nicht aus dem Auge: „Selbstverständlich ist das Herz der Souveränität national“, sagte er in einem Interview. Einfacher würde es für Angela Merkel bei einer Wahl Macrons also nicht, zumal dieser eine parlamentarische Basis braucht, die auch große Teile der PS (oder was von ihr bis dahin noch übrig sein wird) umfassen müsste. Denn auf die Präsidentschaftswahl folgen im Juni die Parlamentswahlen. Die Lehren aus vergangenen „cohabitations“ zeigen, dass sich auch ein europafreundlicher Präsident gegen eine Mehrheit in der Nationalversammlung nicht durchsetzen könnte. Und das wäre noch die „freundlichste“ Option für Berlin und Brüssel, quasi der „Nationalstaat light“. Auf das deutsch-französische Tandem kommen in jedem Fall schwierige Zeiten zu.