Mit kruden Taktiken setzte sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan durch: Am 16. April wurde im EU-Beitrittsland Türkei mittels Referendum ein Präsidialsystem möglich, das einen entfesselten und unkontrollierbaren Präsidenten vorsieht.
Europas Öffentlichkeit ist schockiert über diesen Bruch mit den mehr oder weniger demokratischen Traditionen der Türkei. Europas Politiker hingegen wirken seltsam gefasst. Nach einem Treffen der EU-Außenminister mit ihrem türkischen Kollegen Mevlut Cavusoglu auf Malta hieß es, die EU erkenne nicht nur das Ergebnis des Referendums an, sondern wolle auch die Beitrittsverhandlungen weiterführen.
Die Rhetorik zementiert leider den Eindruck, dass die EU gewillt ist, vor der neuen Autokratie am Bosporus beide Augen zu verschließen, um den Flüchtlingsdeal und Wirtschaftsinteressen zu retten. Offensichtlich spekulieren die EU-Repräsentanten, dass Erdogan sich schon mäßigen werde, sobald er sich in seinem Alleinherrscher-Sessel eingerichtet hat. Die Außenbeauftragte der EU, Frederica Mogherini, zum Beispiel, hofft, „dass sich die türkische Regierung bei dem geplanten Staatsumbau an europäische Standards“ hält.
Außenminister Sigmar Gabriel schlug unterdessen vor, jenen türkischen Staatsbürgern, die gegen das Präsidialsystem gestimmt haben, Visafreiheit anzubieten. In der Zukunft will er also türkische Intellektuelle, Künstler und Journalisten unbeschränkt in die EU einreisen lassen. Selbst wenn Gabriel dies als eine Stärkung der türkischen Demokraten verstanden wissen will, spielt er Ankara damit doch in die Hände. Zum einen ist schwer vorstellbar, wie die Grenzbehörden türkische „Nein-Sager“ des Referendums identifizieren will. Zum anderen reicht dieser Vorschlag dem türkischen Regime frei Haus Propagandamaterial in die Hände. Erdogan will nämlich genau das: Im Gegenzug für den Flüchtlingsdeal die Weiterführung der Beitrittsgespräche und Visafreiheit für türkische Bürger. Aus Erdogans Sicht hätte die Sitzung in Malta nicht besser laufen können.
Die Rhetorik zementiert leider den Eindruck, dass die EU gewillt ist, vor der neuen Autokratie am Bosporus beide Augen zu verschließen, um den Flüchtlingsdeal und Wirtschaftsinteressen zu retten.
Verkehrte Welt, denn für die türkischen Demokraten und „Nein-Sager“ ließen die ersten Wochen nach dem Referendum das Schlimmste erahnen. Dutzende, die eine Untersuchung der Wahlfälschungsvorwürfe fordern, wurden festgenommen. Anstatt Zweifel über das Referendum aus dem Weg zu räumen, lehnen türkische Gerichte jegliche Prüfung der Vorwürfe ab. Türkische Politiker haben vorsorglich zu Protokoll gegeben, dass sie künftige europäische Schiedssprüche zu diesem Thema nicht akzeptieren werden.
Gleich nach dem Referendum erklärte Erdogan in verschiedenen Reden seine nächsten Ziele. Die Todesstrafe, meinte er, würde er sofort einführen, wenn das Parlament zustimme. Damit machte er deutlich, dass er mit diesem Thema die Ultra-Nationalisten bis zur türkischen Präsidentenwahl 2019 bei Laune halten möchte. Außerdem werde Ankara keine Terrororganisationen in Syrien dulden, sagte Erdogan. Damit meinte er keineswegs Al-Qaida oder den „Islamischen Staat“ (IS), sondern die syrisch-kurdische PYD, die diese Organisationen bekämpft. Nur wenige Tage später ließ Erdogan die türkische Armee Kampfposten an der Grenze zu Syrien errichten und PYD-Positionen in Syrien bombardieren. Scharmützel über die Grenze hinweg sind längst Alltag. Um einen Flächenbrand zu verhindern, postierten zwar die USA und Russland eigene Panzer vor den kurdischen Stellungen. Doch die Spannungen steigen ununterbrochen.
Im Innern geht das Erdogan-Regime unerbittlich mit rechtswidrigen Mitteln vor. Ende April wurden mehr als tausend Menschen auf den vagen Verdacht hin, Mitglied einer Terrororganisation zu sein, festgenommen. Auf der Liste der Festzunehmenden stünden über siebentausend Namen, berichten türkische Medien. Prompt grassierten auch Foltergerüchte. Die offizielle Zahl der Häftlinge, die in den vergangenen neun Monaten angeblich Selbstmord begangen haben sollen, liegt bei 32.
Zudem stellt das türkische Regime im Ausland ein zunehmend aggressives Vorgehen zur Schau. So wurden Anfang Mai zwei Türken, ein Schuldirektor und ein Geschäftsmann, in Malaysia festgenommen. Den beiden Männern, deren Nähe zur Gülen-Bewegung bekannt war, droht nun eine Abschiebung in die Türkei. Die Festnahme von Turgay Karaman und Ihsan Aslan lenkte schnell den Verdacht auf frühere Fälle. Bereits im vergangenen Oktober sollen in Malaysia drei Türken türkischen Agenten übergeben worden sein. Zwei sitzen seitdem in Ankara im Gefängnis. Das Schicksal des dritten Mannes ist unbekannt. Human Rights Watch (HRW) ist alarmiert. Phil Robertson, Vizedirektor von HRW in Asien, rief die malaysische Regierung dazu auf, die Festgenommenen unter keinen Umständen an die Türkei auszuliefern, wo „ohne Zweifel Folter und ein unfairer Prozess“ auf sie warte.
Noch ist nicht bekannt, ob das erstmals in Malaysia publik gewordene Vorgehen der türkischen Geheimdienste nicht auch anderswo stattfindet. Die kürzlich deutschen Geheimdiensten übergebene Liste türkischer Dissidenten in Deutschland lässt nichts Gutes ahnen.
Beobachter erwarten daher nichts Geringeres als eine Säuberungswelle in der Partei und den parteinahen Medien.
Erdogan krempelt unterdessen die Ärmel hoch und macht sich an sein Lebenswerk, die Alleinherrschaft. Zunächst, kündigte er offen an, werde er wieder für Disziplin in seiner Partei, der AKP, sorgen, der er jüngst wieder beitrat und deren Parteivorsitz er am 25. Mai erneut übernehmen wird. Beobachter erwarten daher nichts Geringeres als eine Säuberungswelle in der Partei und den parteinahen Medien. Andere Medien sind längst an die Leine gelegt worden. Mehrere Fernseh- und Rundfunkstationen, die früher der Gülen-Gruppe gehörten, wurden letzte Woche der Erdogan-hörigen Turkuvaz-Mediengruppe verkauft.
Die Justiz hat Erdogan ebenfalls längst gefügig gemacht. Jüngste Nachrichten vermelden, dass 90 Prozent der 1341 Anwälte, die am 24. April, also lediglich eine Woche nach dem Referendum, zu Richtern ernannt wurden, AKP-Mitglieder sind. Nur die Wirtschaft des Landes gibt Erdogan noch Anlass zur Sorge. Sinkende Export- und Tourismuseinnahmen sowie die steigende Inflation müssen ihn, der ein Wirtschaftsstudium absolviert hat, eigentlich alarmieren.
2019 wird zum ersten Mal ein Präsident gewählt werden, der durch das Referendum mit fast unkontrollierbarer Macht ausgestattet wurde. Natürlich will Erdogan dieser erste sein und anschließend zur Verwirklichung seiner langgehegten Vision schreiten: nämlich die Türkei vom Westen zu emanzipieren und sie wieder zur führenden Nation der islamischen Welt zu machen.
Dass diese Vision auch nur im Entferntesten im Einklang mit „europäischen Standards“ zu bewerkstelligen wäre, wie Mogherini hofft, ist schwer vorstellbar. Daher ist die Brüsseler Taktik des Wegschauens letztlich verfehlt. Praktikablere Ideen kamen jüngst vom Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir, der vorschlug, keine weiteren Kapitel in den Beitrittsverhandlungen zu eröffnen und den Status quo einzufrieren. Brüssel solle doch Erdogan den schwarzen Peter in die Schuhe schieben, die Beziehungen zur EU zu kappen: „Er soll sich vor der Geschichte verantworten. Er will provozieren. Wir sollten ruhig und mit Geduld am Verhandlungstisch warten.“ Denn einer Sache ist sich Özdemir sicher: „Eines Tages wird eine demokratische Türkei wieder an den Tisch zurückkehren. Dann sollten die Europäer bereit sein.“