In der Ostukraine könnte ein neuer „Frozen Conflict“ entstehen. Er wäre nach Abchasien, Berg-Karabach, Südossetien und Transnistrien der fünfte eingefrorene Konflikt auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Die Erwartungen an die deutsche Außenpolitik, auch nur einen dieser Konflikte im Jahr ihres Vorsitzes der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) einer Lösung näherzubringen, sind überzogen.

Die „Frozen Conflicts“ sind – anders als oft angenommen – nicht im Rahmen einer russischen Gesamtstrategie entstanden. Die Konflikte um Abchasien, Berg-Karabach, Südossetien und Transnistrien sind die unmittelbare Folge der Auflösung der Sowjetunion und der durch sie ausgelösten politischen und ethnischen Turbulenzen. Ihre Wurzeln reichen jedoch oft erheblich tiefer in die Geschichte, so wie bei dem in diesen Tagen wieder aufgeflammten Konflikt um Berg-Karabach. Dieser geht auf ethnische Spannungen zurück, die bereits in der Spätphase des 19. Jahrhunderts aufkamen. So zutreffend es ist, dass der Kreml in diese Konflikte eingegriffen und sie den eigenen Interessen zunutze gemacht hat, so hat er sie doch nicht ausgelöst. Im Fall Abchasiens ist die offizielle russische Politik in den ersten Jahren eher zurückhaltend aufgetreten. Dies änderte sich allmählich, dann beschleunigt mit dem Amtsantritt des georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili 2004. Dieser verfolgte mit einer aggressiven Rhetorik eine von den USA gedeckte Politik der Aufrüstung und des Revolutionsexports. Moskau antwortete mit einer Steigerung seiner Politik der Drohungen und mit offenen wie auch „subkutanen“ Völkerrechtsverletzungen, darunter die Vergabe russischer Pässe an Einwohner Abchasiens und Südossetiens. Dennoch war es Saakaschwili und nicht Russland, der im Sommer 2008 den offenen Krieg vom Zaun brach.

Abchasien war lange Zeit der Musterfall eines „Frozen Conflict”. Diese schwelenden Konflikte sind für Russland zunächst von außenpolitischer Bedeutung. Ihre Rolle besteht nach dem Prinzip der „offenen Wunde” darin, eine Annäherung der entsprechenden Staaten an den Westen zu verhindern. Hinzu kommt die dauerhafte Sicherung der Mitsprache des Kremls in den von ihm als sensibel angesehenen Regionen. Zwar gab es in dieser Politik immer auch revisionistische, sowjetnostalgische Elemente, doch waren sie nicht notwendigerweise Teil einer gezielten Strategie. Ungeachtet aller Kämpfe im Zuge des Entstehens und der Selbstbehauptung der De-facto-Staaten war ihre Schaffung vielmehr defensiv ausgerichtet. Sie sollte allerdings aus Sicht des Kremls unerwünschte Entwicklungen verhindern oder wenigstens verlangsamen. Man kann sie als für Zwecke der politischen Verteidigung angelegte „Minenfelder” vor den russischen Grenzen betrachten – nicht als Sprungbretter oder Ausfallpforten oder gar als Probebühnen für anderes. Dies schließt freilich nicht aus, dass diese Konflikte als indirekter Hebel gegen eine dritte Macht eingesetzt werden können. So hat etwa der in diesen Tagen wieder aufgeflammte Konflikt um Berg-Karabach eine ausgeprägte russisch-türkische Dimension, deren Tragweite noch nicht absehbar ist.

Das Hauptziel der russischen Intervention in der Ukraine ist daher nicht etwa die Stärkung von Donezk und Luhansk, sondern die Schwächung von Kiew.

Im Fall der Ukraine waren von Beginn an Zweifel an dieser defensiven Deutung aufgetaucht, sofern man diese nicht unter Hinweis auf die Krim als ohnehin überholt ansehen will. Die russischen Aktionen auf der Krim und dann in der Ostukraine sind ein Novum. Sie waren von Beginn an zielgerichtet und fanden kein örtliches Konfliktszenario vor, sondern schufen es. Sie verletzten in massiver Weise das Völkerrecht sowie das politische Regelwerk der OSZE. Und sie nahmen eine schwere Belastung der Beziehungen zum Westen in Kauf. Russland ist seit der Ukraine-Krise und ungeachtet seiner kooperativen Mitwirkung am Iran-Abkommen wie auch seiner erzwungenen Mitsprache im Syrien-Konflikt isolierter denn je. Das seit Helsinki entstandene europäische Sicherheitssystem ist auf das schwerste beschädigt; manche sagen, es liege in Trümmern. Alles in allem stellten die Aktionen in der Ukraine eine neue Kategorie dar, die mit den vorangegangenen Konflikten nicht auf eine Stufe zu stellen sind.

Die oft zu hörende Antwort, dass eine nachhaltige Konfliktlösung erst dann wahrscheinlich wird, wenn sich in Russland ein kooperativeres außenpolitisches Paradigma durchsetzt, ist zwar richtig, aber unvollständig. Die Außenpolitik, genauer gesagt, die Verhinderung einer engen Anbindung der Ukraine an den Westen, ist nur einer von mehreren Handlungsorten des vom Kreml aufgeführten Stückes. Zum großen Teil geht es auch um innenpolitische Interessen der russischen Führungsschicht. Ziel ist es, einen Erfolg des „Maidan” zu verhindern und damit auszuschließen, dass der Funke der Revolution überspringt – zuerst auf Orte an der Peripherie und schließlich auf Moskau. Es geht zweitens um eine Konsolidierung der nach 2012 schwindenden Zustimmung der russischen Bevölkerung zum Präsidenten und zu dem von ihm verkörperten und garantierten System – einschließlich seiner problematischen, in Teilen kleptokratischen Strukturen und Profiteure. Drittens geht es um die Absicherung einer das Regime legitimierenden Staatslegende. Darin verbinden sich im Rückblick auf die Kiewer Rus imperiale und panslawistische Elemente mit orthodoxer Staatsergebenheit, also mit einer Sichtweise der russischen Geschichte, die als patriotisch verstanden werden will, außerhalb Russlands aber einseitig, oft sogar reaktionär wirkt.

Das Hauptziel der russischen Intervention in der Ukraine ist daher nicht etwa die Stärkung von Donezk und Luhansk, sondern die Schwächung von Kiew. Daher ist auch eine „außenpolitische” Lösung des Konflikts bis auf Weiteres nicht möglich, sondern nur eine Regelung, die entweder den Interessen und Ambitionen der russischen Führungsschicht Rechnung trägt oder aber abwartet und eine jederzeit absturzgefährdete, mit Waffen durchgesetzte Stilllegung des Konflikts akzeptiert. Ein neuer „Frozen Conflict” hätte allerdings eine bisher nicht gekannte Sprengkraft für Frieden und Stabilität in Europa. Dies kann kein Dauerzustand und erst recht nicht das Ziel vernünftiger Politik sein.

Hier sind die Grenzen der Bemühungen Berlins im deutschen OSZE-Jahr zu erkennen. Selbst wenn die Bunderegierung wollte, könnte sie das, worauf es der russischen Führung ankommt, nicht „liefern”. Was zu tun bleibt, ist der Versuch einer Schadensminimierung. Dies erfordert das Offenhalten der Kanäle, Verständigungsbereitschaft, Sachlichkeit und Augenmaß. Wir brauchen einen nüchternen Neustart der Beziehungen zu Russland. Wir müssen wissen und verstehen, was Russland will und dann die erforderlichen Schlüsse ziehen. Zugleich gehört dazu, die andere Seite nicht über den Ernst hinwegzutäuschen, mit dem auf deutscher und westlicher Seite ihr Vorgehen beurteilt wird. Der nächste falsche Schritt, etwa im Baltikum, könnte eine Katastrophe auslösen, die von Berlin aus nicht zu verhindern wäre.

Wir brauchen einen nüchternen Neustart der Beziehungen zu Russland.

Die aktuellen Vorzeichen sind nicht günstig. Manches spricht dafür, dass der Kreml auf eine Destabilisierung Deutschlands und der Europäischen Union Hoffnungen setzt, sei es durch das Vergrößern innereuropäischer Bruchlinien, sei es durch die Unterstützung rechtsaußen angesiedelter Parteien und Strömungen. So reiht der Kreml Abenteuer an Abenteuer: von der Krim über das Donezbecken nach Syrien und Nahost, womöglich bis hin zu einer Propagandaoffensive auf das Herz Europas. Hinzu kommt die Option, alte oder neue „Frozen Conflicts” jederzeit wieder hochfahren zu können. Ob das aktuell in Berg-Karabach der Fall ist, lässt sich noch nicht sagen. Erste offizielle Äußerungen des Kreml waren eher um eine Dämpfung der Spannungen bemüht, was freilich mit Vorsicht zu werten ist. Die seit einiger Zeit zu beobachtende Verstärkung der Gefechtstätigkeit vor Donezk und Mariupol wirft allerdings ebenfalls Fragen auf. Fazit ist: Die russische Politik ist zu einem hohen Maße unberechenbar geworden. Ändern kann Berlin das nicht, aber es kann versuchen, die Risiken einzudämmen. Dabei ist die Abstimmung mit Deutschlands Partnern, auch und vor allem mit denen in Ostmitteleuropa, eine Priorität. Natürlich ist das nicht einfach. Aber Berlin kann nicht das eine Problem lösen, indem es ein anderes in die Welt setzt.

Ob die OSZE sich als Bühne für die Lösung des Problems der „Frozen Conflicts“ eignet, muss man allerdings bezweifeln. Politisch wäre die OSZE zu schwach. In nur einem einzigen Konfliktfall, zu Beginn der Krise um Berg-Karabach, hat der Gedanke der Entsendung einer Friedensmission der OSZE eine Rolle gespielt. In der Ukraine wurde nicht einmal der Versuch unternommen. Dennoch spielt nur in diesem Konflikt die OSZE mit der „Special Monitoring Mission“ für die Ukraine und der Zugehörigkeit zur Minsker Kontaktgruppe bisher eine nennenswerte Rolle. Die politische Relevanz der OSZE ist tendenziell im Rückgang begriffen, während sich die USA bemühen, anstelle von Berlin und Paris den Part des westlichen Spielmachers zu übernehmen. Im Fall Abchasiens und Südossetiens waren die Wirkmöglichkeiten der OSZE bereits vor 2008 sehr beschränkt, bevor das russische Veto nach dem Georgien-Krieg dann das endgültige Aus brachte. In Berg-Karabach und Transnistrien steht der Einfluss der OSZE ohnehin nur auf dem Papier. Ein trauriger Beleg unter aktuellen Vorzeichen ist die Erfolglosigkeit der Bemühungen der 1992 unter OSZE-Auspizien eingesetzten Minsker Gruppe für die Regelung des Berg-Karabach-Konflikts. Sie hat mit ihrem französisch-russisch-amerikanischen Vorsitz und ihren übrigen zehn Teilnehmerstaaten, darunter Deutschland, nichts zustande gebracht – ebenso wenig wie die Vereinten Nationen, deren vier Resolutionen zum Konflikt wirkungslos blieben. Alles in allem: Die OSZE hat durch die Ukraine-Krise zwar an Statur gewonnen; dennoch ist sie ein Forum der Politik geblieben und kein politischer Akteur geworden.

Ob die OSZE sich als Bühne für die Lösung des Problems der „Frozen Conflicts“ eignet, muss man allerdings bezweifeln.

Der deutsche OSZE-Vorsitz wird – ungeachtet aller Berliner Anstrengungen – daran kaum etwas ändern. Begrenzte Chancen liegen in einem geschickteren Umgang mit den bestehenden Möglichkeiten der OSZE sowie in Fortschritten bei manchen „weichen“ Themenbereichen wie Kultur und Wissenschaft. Ein Bremsklotz ist der schwindende internationale Einfluss Berlins im Gefolge der deutschen Isolierung bei wichtigen internationalen und europäischen Fragen. Dazu zählen die Flüchtlings- und die Euro-Krise: Der Wind bläst Berlin ins Gesicht. Der deutsche Vorsitz in der OSZE wird das nicht verbessern. Er sorgt für Rampenlicht, nicht für Antworten. Zugleich erhöht Russland den Handlungsdruck, neben der Ukraine nunmehr auch in Berg-Karabach. Man muss der deutschen Außenpolitik Mut zusprechen, sich in diesem schwierigen Umfeld der Aufgabe zu stellen, ein Entgleisen der Beziehungen Russlands zu seinen westlichen Nachbarn unter allen Umständen zu vermeiden. Mut und Realitätssinn sind gefragt. Fehlt das eine, so wird auch das andere nichts nutzen.