Die politische Krise, die mit der ersten Welle von Korruptionsuntersuchungen am 17. Dezember 2013 in der Türkei ausgelöst wurde, wird meist als Machtkampf zwischen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan und der islamisch-konservativen Gülen Bewegung aufgefasst. Bereits im Herbst 2013 war der Konflikt zwischen den früheren Bündnispartnern offen ausgebrochen. Seit den Korruptionsvorwürfen erklärt die Regierung nun, dass sie mit einer Intrige der Gülen Bewegung konfrontiert sei, deren Mitglieder in Polizei und Justiz quasi einen Parallelstaat errichtet hätten. Tatsächlich sieht sich die türkische Öffentlichkeit seither nicht nur mit immer neuen Korruptions- und Konspirationsvorwürfen konfrontiert. Es zeigt sich auch die Schwäche des verfassungsmäßigen Systems der Gewaltenteilung.

Festnahmewellen in der Türkei

Am 17. Dezember wurde eine Festnahme und Durchsuchungswelle ausgelöst, die ausgehend von den Söhnen dreier Minister und zahlreichen regierungsnahen Geschäftsleuten, Geldwäsche, Bestechungen, Immobilienschiebereien und zahlreiche weitere Vorwürfe beinhaltete. Vier Minister mussten daraufhin im Januar ihr Ressort räumen.

Tatsächlich sieht sich die türkische Öffentlichkeit seither nicht nur mit immer neuen Korruptions- und Konspirationsvorwürfen konfrontiert. Es zeigt sich auch die Schwäche der Gewaltenteilung.

Eine zweite Untersuchungswelle am 25. Dezember 2013 wurde dadurch verhindert, dass sich die Polizei weigerte, die Anordnung des ermittelnden Staatsanwalts sowie den dazugehörigen Gerichtsbeschluss umzusetzen.

Die Regierung Erdoğan wurde von der ersten Untersuchung überrascht, reagierte dann jedoch hart. Sie bezeichnete die Vorwürfe als Intrige und wechselte die im Auftrag der Staatsanwaltschaft ermittelnden Polizeibeamten aus. Ihrer Auffassung nach habe sich in Polizei und Justiz eine Parallelstruktur entwickelt, die von außen gesteuert werde. Angesichts des Konflikts mit der Gülen Bewegung lag nahe, diese „Parallelstruktur“ dieser Bewegung zuzuordnen.

Doppelstrategie der AKP

Nun macht sich die Regierung daran, diese Parallelstruktur zu zerschlagen. Innerhalb eines Monats wurden mehr als 2.500 Polizeibeamte versetzt. Doch stieß die Regierung beim Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte, der für die dienstrechtlichen Fragen der Justizangehörigen zuständig ist, auf Widerstand. Hier bediente sich die Regierung darum einer Doppelstrategie. Während die regierende AKP auf der einen Seite einen Gesetzentwurf zur Änderung der Arbeitsweise und Personalstruktur des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte in das Parlament einbrachte, gelang ihr am 15. Januar auch ein Coup im Hohen Rat: Die Zusammensetzung einer der drei Kammern des Gremiums wurde geändert. Dadurch erlangte sie die Kontrolle über diese Kammer und nahm ab dem 16. Januar Umbesetzungen auch bei den Staatsanwaltschaften vor. Abgelöst wurden insbesondere die Staatsanwälte, die durch Korruptionsuntersuchungen sowie anderen Ermittlungen, die die Regierung in Schwierigkeiten bringen konnten.

Wirken die Spannungen, die durch Korruptionsuntersuchungen und Säuberungen im Staatsapparat ausgelöst werden, auf den ersten Blick auch wie ein politischer Machtkampf, so werden gleichwohl weit grundlegendere Fragen berührt: Die Weigerung der Polizei am 25. Dezember, die Anweisungen der Staatsanwaltschaft auszuführen, ist ein offener Bruch geltender Gesetze. Gegen die verantwortlichen Beamten im Sicherheitsapparat wurde von der Staatsanwaltschaft Antrag auf Einleitung eines Untersuchungsverfahrens gestellt. Doch dieser Antrag wurde postwendend durch den Justizminister abgelehnt. Der Immunitätsvorbehalt im türkischen Beamtenrecht verhindert auf diese Weise, dass ein Rechtsbruch geahndet werden kann.

Zugleich wurden schwerpunktmäßig bei der Polizei, aber auch bei zahlreichen weiteren Behörden, Umbesetzungen vorgenommen. Es wird davon ausgegangen, dass diese Umbesetzungen darauf anzielen, die postulierten „Parallelstrukturen“ zu zerschlagen. Doch aus welcher Quelle die Informationen stammen, mit denen Tausende von Beamten als „unzuverlässig“ eingestuft werden, bleibt im Dunkeln. Zwar steht den Betroffenen der Rechtsweg offen, um die Personalmaßnahmen zu überprüfen, doch müssen sie bis zur Klärung der Vorwürfe schwerwiegende Nachteile hinnehmen, denn eine Versetzungsanordnung in die Provinz oder auf einen ungünstigen Dienstposten bleibt bis zur gerichtlichen Klärung bestehen. Dies wiederum kann eine beträchtliche Hürde sein, sich mit Korruptionsvorwürfen gegen Vorgesetzte oder einflussreiche Persönlichkeiten zu beschäftigen.

Ringen um Transparenz

Auffällig ist, dass  im aktuellen Konflikt das Augenmerk der Korruptionsbekämpfung eindeutig auf Justiz und Polizei liegt. Aktuelle Strategien zur Verhinderung von Korruption setzen jedoch weiter an. Sie verlassen sich darauf, dass durch Transparenz die Öffentlichkeit selbst Anteil an der Verhinderung von Korruption nimmt.

So ist in der Türkei beispielsweise für Parlamentarier und Spitzenbeamte eine Vermögensdeklaration vorgeschrieben, die jedoch unveröffentlicht bleibt. Auf diese Weise kann es bei ausreichend politischem Einfluss leicht gelingen, schnelle Zuwächse bei den Vermögensverhältnissen zu vertuschen. Ähnliches gilt auch für die anzugebenden Vermögensbestandteile, denn eine öffentliche Einsicht erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass nicht angegebene Vermögensteile angezeigt werden. Die türkische Sektion von Transparency International hat nicht zuletzt aus diesem Grund eine Kampagne gestartet, die sich für die Veröffentlichung der Vermögensdeklarationen einsetzt. Zugleich ruft sie Politiker auf, ihre Vermögenserklärungen im Internet zu publizieren, was auch ohne eine Gesetzes- oder Statutenänderung im Parlament möglich wäre.

Doch jenseits von individueller Bereicherung kann Korruption insbesondere auch im Hinblick auf Abhängigkeiten von politischen Parteien in Erscheinung treten.

Doch jenseits von individueller Bereicherung kann Korruption insbesondere auch im Hinblick auf Abhängigkeiten von politischen Parteien in Erscheinung treten. Nicht zuletzt aus diesem Grund setzt die Gruppe der Länder gegen Korruption im Europarat (Greco) vor allem an Regeln zur Parteienfinanzierung an, um durch Transparenz und wirksame Kontrolle klarere Linien zwischen legalen und legitimen Lobbyaktivitäten auf der einen Seite und unzulässiger Abhängigkeit zu ziehen.

Auch die Türkei ist dieser Gruppe beigetreten. Im Greco-Compliance Report vom März 2012 wird im Hinblick auf die entwickelten Standards jedoch festgestellt, dass sich die Türkei „in einem frühen Stadium“ der Anpassung befinde. Keine der 17 Empfehlungen, die im Rahmen der dritten Evaluationsrunde entwickelt worden sind, sei vollständig umgesetzt.

Die vorhandenen Lücken wie etwa fehlende Beschränkungen für die Unterstützung von Kampagnen individueller Kandidaten für kommunale Ämter oder das Parlament oder auch die unzureichende Prüfung der Parteienfinanzierung durch das Verfassungsgericht, können zu den erhobenen Korruptionsvorwürfen beigetragen haben.

Versteht man Krisen als Chance, so kann die Türkei durch grundlegende Reformen sowohl Korruptionsvorwürfen als auch der Entwicklung autonomer Cliquen innerhalb des Staatsapparates entgegenwirken.

Versteht man Krisen als Chance, so kann die Türkei durch grundlegende Reformen am politischen System sowohl Korruptionsvorwürfen als auch der Entwicklung autonomer Cliquen innerhalb des Staatsapparates entgegenwirken. Voraussetzung jedoch wäre, dass Parteipolitik nicht als einziger Ausdruck von Demokratie verstanden wird. Im Mittelpunkt solcher Reformen kann darum insbesondere die Verankerung von Transparenzregeln stehen, die der Zivilgesellschaft eine wichtigere Rolle bei der Korruptionsbekämpfung beimessen. Offenlegung der Parteienfinanzierung und individuellen Wahlkampfausgaben, die Rücknahme von Ausnahmeklauseln von den Verfahren zur öffentlichen Ausschreibung bei Aufträgen sowie eine wirksame Bürgerbeteiligung bei der Stadtplanung würden bei einem großen Teil der im Raum stehenden Korruptionsvorwürfen Abhilfe schaffen.

Weitergehende Informationen finden Sie in der aktuellen FES-Publikation "Politikfinanzierung in der Türkei" vom gleichen Autor (PDF, 1,6 MB).