Wer hätte gedacht, dass das Regierungsexperiment der Muslimbruderschaft in Ägypten ein so jähes und brutales Ende finden würde? Mit den Todesurteilen gegen 529 Mitglieder der Muslimbrüder hat die ägyptische Justiz eine ohnehin turbulente Lage dramatisch angeheizt. „Das ist kein Urteil, sondern ein Massaker“, urteilte etwa Mohamed Zaree vom Cairo Institute for Human Rights Studies.

Das umstrittene Todesurteil wirft jedoch nicht nur ein mehr als bedenkliches Licht auf das Rechtsverständnis der ägyptischen Justiz, sondern auch auf den aktuellen politischen Umgang mit den Muslimbrüdern in der Gesamtregion. Denn die Konsequenzen der jüngsten Zuspitzung reichen weit über Ägypten hinaus.

Das Todesurteil wirft jedoch nicht nur ein mehr als bedenkliches Licht auf das Rechtsverständnis der ägyptischen Justiz, sondern auch auf den aktuellen Umgang mit den Muslimbrüdern in der Gesamtregion.

Nachdem Parteien der Muslimbruderschaft im Nachgang des Arabischen Frühlings in zahlreichen Staaten des Nahen Ostens wie in Marokko, Tunesien und Ägypten als Gewinner aus demokratischen Wahlen hervorgegangen waren, hat die Bereitschaft der alten Eliten jüngst schnell nachgelassen, die Macht tatsächlich zu teilen. Statt Schritten hin zu einer sich entwickelnden Demokratie drohen nun Stillstand, innergesellschaftliche Sprachlosigkeit und das Zurückfallen in autokratische Muster. Gerade jetzt ist es deshalb wichtig, der kurzsichtigen Politik der Eskalation und Abschottung eine kluge Politik der Integration entgegenzusetzen. Denn an einer politischen Integration der Muslimbrüder führt kein Weg vorbei. Dies jedoch nicht nur aus demokratietheoretischen Überlegungen heraus, sondern auch im Hinblick auf mittel- und langfristige Interessen der Arabischen Welt und westlicher Staaten selbst.

Keine Demokratie ohne Inklusion

Der Arabische Frühling hat nicht zuletzt eines gezeigt: Die Unterdrückung breiter Volksmassen sorgt nicht für langfristige Stabilität. Sicher, es war die ökonomisch perspektivlose und politisch marginalisierte Jugend der arabischen Staaten und nicht der organisierte politische Islam, die die autoritären Regime erschütterten. Aber: Die Muslimbrüder waren dabei, und es waren die ihnen nahestehenden Parteien, die etwa in Tunesien und Ägypten als Sieger aus den ersten wirklich demokratischen Wahlen hervorgegangen sind.

Das zeigt: Wie man es auch dreht und wendet, die Muslimbrüder repräsentieren in den verschiedenen Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas rund ein Drittel der Bevölkerung. Der Versuch, junge Demokratien unter Ausschluss eines so großen Teils der Bevölkerung aufzubauen, grenzt ans Absurde. Das Verhalten der ägyptischen Machteliten ist dabei gerade im Nahostkontext zugleich anti-historisch: Durch die Unterdrückung des Volkswillens kann keine echte Stabilität, sondern bestenfalls eine Scheinstabilität erreicht werden. Die anciens régimes sollten dies eigentlich gelernt haben.

Der Ausschluss der Muslimbrüder spielt den Salafisten in die Hände

Bei allen negativen Entwicklungen und problematischen Tendenzen, die unter der Regierung Mohammed Mursis sichtbar wurden, ist doch eines klar: Es besteht und bestand ein gewaltiger Unterschied zwischen muslimbruderschaftlich und salafistisch geprägten Politikansätzen. Während sich die Muslimbrüder als konservativ-religiöse Massenbewegung definieren, greifen salafistische und dschihadistische Akteure von Rabat bis Sana’a routinemäßig auf Gewalt zurück, um ihre Ziele zu erreichen.

Durch das Ausschalten der Muslimbrüder in Ägypten ergibt sich im bevölkerungsreichsten arabischen Land jetzt ein gefährliches ideologisches Vakuum im Ringen um die Definitionshoheit über den politischen Islam.

Durch das Ausschalten der Muslimbrüder in Ägypten ergibt sich im bevölkerungsreichsten arabischen Land jetzt ein gefährliches ideologisches Vakuum im Ringen um die Definitionshoheit über den politischen Islam. Angesichts der öffentlichen Demütigung der Muslimbrüder können radikale Akteure auf das Scheitern des gemäßigten Ansatzes verweisen. Die Unnachgiebigkeit und Radikalität der Salafisten erhalten so in konservativen Schichten der Bevölkerung neue Legitimität. Die Deutungshoheit über als „islamisch“ dargestellte Gesellschaftsentwürfe wird damit Akteuren überlassen, die für die Zukunft der Region und für den Umgang mit den westlichen Staaten wesentlich problematischer sind als es die Muslimbruderschaft je sein könnte.

Die Neuordnung der Arabischen Welt wird nicht ohne die Muslimbruderschaft gelingen

Die Muslimbrüder haben seit ihrer Gründung 1928 mit großem Erfolg an ihrer regionalen Verbreitung als Massenbewegung gearbeitet. Es ist kein Zufall, dass sich allein mit den Einflussgebieten der palästinensischen Hamas, der tunesischen Nahda, der ägyptischen Freiheits- und Gerechtigkeitspartei und den syrischen Muslimbrüdern in Homs und Hama ein großer Teil der politischen Landkarte der Arabischen Welt abdecken lassen. Dementsprechend unrealistisch ist die Vorstellung, die gewaltigen Verwerfungen der Umsturzbewegungen ohne Einbeziehung der Muslimbrüder lösen zu wollen.

Beispiele hierfür gibt es genug: Die palästinensische Hamas hat mehrfach bewiesen, dass sie zugleich Verhandlungspartner und Spoiler im israelisch-palästinensischen Friedensprozess sein kann. In Syrien sind trotz jahrzehntelanger Unterdrückung und Verfolgung Organisationsstrukturen intakt, die der Muslimbruderschaft eine entscheidende Rolle im Kampf gegen das Assad-Regime sichern. Auch der Verfassungsprozess in Tunesien führte erst zum Erfolg, nachdem die Nahda-Partei in der verfassunggebenden Versammlung einlenkte. Und die tiefe Hoffnungslosigkeit in Ägypten rührt nicht zuletzt daher, dass ein demokratischer Prozess ohne eine konstruktive Mitarbeit der Muslimbrüder scheitern muss. Von Tunesien bis Syrien gilt: Weder der Aufbau der jungen Demokratien, noch die dringende Lösung regionaler und zwischenstaatlicher Konflikte dürften ohne Einbeziehung der Muslimbruderschaft gelingen.

Demokratische Prinzipien sind keine Sonntagsreden

In den Wirren der Tagespolitik wird häufig übersehen, dass die Teilnahme der Parteien der Muslimbruderschaft an demokratischen Prozessen keine Selbstverständlichkeit ist. In ihrer wechselvollen Geschichte durchliefen die Muslimbrüder verschiedene Phasen, die sich mit Gründervater Hassan al-Banna und der späteren Identifikationsfigur Sayyid Qutb verbinden. Stand al-Banna stets für die weitgehende Abstinenz der Muslimbrüder von der institutionalisierten Politik und für einen Ansatz der gesellschaftlichen Graswurzelveränderungen, plädierte Qutb für eine notfalls gewaltsame Einmischung der Muslimbrüder, um das Ziel der „islamischen Gesellschaft“ zu erreichen.

Die heutige Muslimbruderschaft oszilliert noch immer zwischen diesen ideologischen Polen. Die Entscheidung, sich dem demokratischen Volkswillen zu stellen, ist dabei für die Bewegung ein Schritt von gewaltiger Tragweite. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen wird nun jedoch kein einziger Anhänger der Muslimbrüder noch ernsthaft behaupten können, dieser Weg sei zielführend gewesen.

Von Tunesien bis Syrien gilt: Weder der Aufbau der jungen Demokratien, noch die dringende Lösung regionaler und zwischenstaatlicher Konflikte dürften ohne Einbeziehung der Muslimbruderschaft gelingen.

Dabei wiederholt sich letztlich eine längst gescheiterte Geschichte: Den Parteien des politischen Islam wurden in Algerien 1991, in Palästina 2006 und nun in Ägypten 2014 die Zuversicht genommen, ihre immerhin gesellschaftlich breit verankerten Zielvorstellungen durch demokratische Partizipation am politischen Prozess umsetzen zu können. Die Frage, wohin die Muslimbrüder nicht nur programmatisch, sondern auch institutionell-taktisch steuern, ist noch nicht entschieden – aber die Weichen dafür werden jetzt gestellt. Das kurzsichtige Eingreifen der alten Eliten könnte in Form einer radikalisierten Muslimbruderschaft zurückschlagen.

Den Mythos entzaubern

Die Erfolgsgeschichte der Muslimbrüder ist auch darauf zurückzuführen, dass die Organisation seit ihrer Gründung eine Gegenrealität zur Lebenswirklichkeit der Menschen entwirft. Ihre konkreten Zielvorstellungen und die Instrumente der Umsetzung sind dabei stets vage geblieben. Das Modell der angestrebten „islamischen Gesellschaft“ ist kaum je mehr gewesen als ein romantisierender Entwurf einer Gesellschaft, die sich an den Idealen der Frömmigkeit und der Solidarität ausrichtet, die politische Probleme nicht nur lösen, sondern auch in Zukunft verhindern sollten. Nicht zuletzt mit der Übernahme der Regierungsverantwortung in Ägypten durch Mursi wurde die Unzulänglichkeit dieses Ansatzes überdeutlich. Hilflos stand die Regierung vor dem sozioökonomischen Scherbenhaufen der Mubarak-Ära. Überzeugende Antworten auf die drängendsten Fragen blieb sie bis zuletzt schuldig.

Es ist, so gesehen, fast schon tragisch, dass der Sisi-Putsch diesen eklatanten Mangel an politischer Kompetenz nun überdeckt. Anstatt es dem Wähler zu überlassen, die Muslimbrüder nach ihrem Handeln zu beurteilen und an ihrer politischen Bilanz zu messen, hat der Putsch des Jahres 2013 eine Entmythologisierung der Bewegung verhindert. Auch zukünftig werden sich die Akteure des politischen Islam darauf berufen können, dass ihnen nie eine wirkliche Chance gegeben wurde, eine Umsetzung Ihrer Ideale zu versuchen. Die als Schwächung der Muslimbrüder gedachten Maßnahmen könnten so mittelfristig das Gegenteil bewirken. Der Mythos bleibt am Leben.

Es ist schwer begreiflich, welche langfristig positiven Wirkungen sich die alten Machteliten Kairos von ihrer Politik der Exklusion versprechen. Sicher ist, dass der Trend weit über Ägypten hinaus in eine gefährliche Richtung geht. Erst Mitte März zogen Saudi Arabien, Bahrein und die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Botschafter aus Katar zurück. Sie werfen dem Emirat vor, die Muslimbrüder zu unterstützen. Gleichzeitig wurde die Muslimbruderschaft in Saudi Arabien und Ägypten als „terroristische Organisation“ verboten. Die Eskalation schreitet voran.

Nun obliegt es nicht zuletzt westlichen Akteuren, eine vernünftigere Alternative zu formulieren. Dabei geht es in erster Linie darum, allen Beteiligten klarzumachen: Eine Integration der Muslimbrüder in den politischen Prozess ist keine Frage politischer Übereinstimmungen, sondern ein Gebot der politischen Vernunft.