Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Autohaus und an einem Modell hängt ein Schild mit der Warnung: »Hergestellt unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen«. Würden Sie das Auto kaufen? Wahrscheinlich nicht. Nun stellen Sie sich vor, im Laden finden Sie eine Dose Fleisch mit der Aufschrift: »Dieses Fleisch stammt aus einem Betrieb, in dem Tiere gequält werden«. Würden Sie die Dose kaufen? Auch hier: wohl eher nicht. Denn als bewusste Konsumenten geben wir unser Geld doch lieber für Produkte von Erzeugern aus, die unsere Werte teilen – oder zumindest unterstützen wir keine Unternehmen, deren Gebaren wir für unmoralisch halten. Die Hinweise am Auto und auf der Dose sind keine Boykottaufrufe, doch sie schrecken Kundinnen und Kunden vom Kauf der Produkte ab.

Wenn also EU-Vertreter behaupten, bei der Kennzeichnung von Produkten aus dem Westjordanland handle es sich um eine reine Formalie und nicht um einen Boykottaufruf an die Verbraucher, dann sind sie bestenfalls naiv. Die EU braucht für diese Produkte gar nicht explizit zum Boykott aufrufen – allein die Kennzeichnung richtet schon schweren Schaden an. Immer mehr Europäer halten schon die bloße Anwesenheit der Israelis im Westjordanland für unmoralisch, und wenn man die europäischen Verbraucher darauf aufmerksam macht, dass bestimmte Produkte aus dieser Region stammen, dürfte sich das handfest auf ihr Kaufverhalten auswirken. Einigen wir uns daher auf die Aussage: Ungeachtet der Ursachen für die EU-Regelungen zur Kennzeichnung von Produkten aus dem Westjordanland erhält im Ergebnis jedenfalls die Kampagne zu einem umfassenden Boykott dieser Erzeugnisse zusätzlichen Schwung. Und das führt uns zu der Kernfrage: Ist der Boykott ein moralischer Akt, könnte er am Ende bringen, was wir uns alle wünschen – Frieden und Einvernehmen im Nahen Osten? Die Antwort lautet kurz und bündig: Nein.

Als Mitglied der Israelischen Arbeitspartei stimme ich mit vielen meiner europäischen Mitte-Links-Genossen überein: Die israelische Präsenz im Westjordanland ist verkehrt. Doch danach trennen sich unsere Wege: Während eine wachsende Zahl von Linken in Europa den Boykott als moralisch integre Methode im Dienst einer gerechten Sache betrachten, sehe ich das genau andersherum. Er ist nicht nur unmoralisch, sondern auch kontraproduktiv, denn er schadet dem progressiven Lager in Israel viel mehr als der israelischen Regierung oder den Siedlern der Westbank.

Wer die israelische Gesellschaft kennt, weiß, dass wir wie Stachelschweine sind: Bei einem Angriff rückten wir zusammen und setzen uns zur Wehr.

Zunächst möchte ich erläutern, warum der Boykott unmoralisch ist. Ein Boykott ist schon deshalb falsch, weil er meist negative Nebenwirkungen hat und somit mehr Menschen trifft als ursprünglich beabsichtigt. Nehmen wir an, Sie möchten keinen Wein mehr kaufen, der in den Siedlungen abgefüllt wurde. Hat das Einfluss auf den Wohlstand des Siedlers, dem die Weinkellerei gehört? Wahrscheinlich – und ich persönlich finde schon das nicht gut. Aber selbst wenn Sie Ihre Meinung zum Ausdruck bringen möchten, indem Sie einen Siedler in den Bankrott treiben – glauben Sie wirklich, dass sich die wirtschaftlichen Folgen auf den Siedler beschränken lassen? In einem kleinen Land wie Israel kann man keine Trennlinie ziehen zwischen der Wirtschaft des Westjordanlandes und der Wirtschaft Israels in den Grenzen vor 1967. Alles ist miteinander verwoben, und wenn der Siedler pleitegeht, dann nehmen auch seine Arbeiter, die Weinhändler und die Zulieferer Schaden – viele von ihnen Israelis, die in den Grenzen von 1967 leben, manche sogar Palästinenser aus dem Westjordanland. Wollen die Boykotteure das wirklich?

Lassen Sie uns nun ein paar Worte über die Ergiebigkeit eines Boykotts verlieren. Druck ist nur dann eine ergiebige Maßnahme, wenn dieser Druck eine Verhaltensänderung nach sich zieht. Wer die israelische Gesellschaft kennt, weiß, dass wir wie Stachelschweine sind: Bei einem Angriff rückten wir zusammen und setzen uns zur Wehr. Kaum jemand reagiert auf eine Kampfansage so kämpferisch wie ein Israeli. Wer also glaubt, wirtschaftlicher Druck auf Israel veranlasse auch nur einen einzigen Israeli dazu, seine Ansichten zu revidieren, ist schief gewickelt. Wenn man ausreichend Druck ausübt, mag man die ökonomische Schlacht gewinnen und der israelischen Wirtschaft echten Schaden zufügen, das ist wahr. Aber die Herzen der Israelis wird man so nicht gewinnen.

Und noch ein Argument spricht gegen einen Boykott. Dieser Punkt ist besonders schwer zu erklären, wiegt aber vielleicht am schwersten: Ein Boykott schadet uns, den Sozialdemokraten und der gemäßigten Linken. Immer mehr Israelis sehen die zunehmend israelfeindliche Stimmung in Europa als moderne Ausprägung des altbekannten Antisemitismus und Antizionismus. Ich bin nicht dieser Ansicht. Ich meine, wir sollten die Stimmen aus Europa als Weckruf für die israelische Gesellschaft verstehen und auf sie hören, auch wenn das für uns äußerst unangenehm ist. Maßnahmen, mit denen nicht die israelische Regierung, sondern das israelische Volk bestraft wird, spielen allerdings den Kräften in die Hände, die jede Kritik aus Europa als verkappten Antisemitismus darstellen.

Kurz, meine Freunde: Wenn Ihr Kritik an der israelischen Regierung üben wollt, dann tut, was meine Freunde und ich auch tun: Richtet sie an die israelische Regierung. Wirtschaftssanktionen und Boykotte werden nicht den beabsichtigten Effekt haben, sondern wahrscheinlich sogar das Gegenteil bewirken.

 

Lesen Sie hier den Beitrag "Unrecht hat einen Preis" von Ziad AbuZayyad, der einen noch stärkere Boykottierung der israelischen Siedlungen fordert.