Nun wurde auch die Führung und mehrere Volksvertreter der Demokratischen Partei der Völker (HDP) festgenommen, angeblich wegen Terrorverdacht. Aber die Festnahme des Chefredakteurs der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, Murat Sabuncu, und des bekanntesten Kolumnisten der Zeitung und Menschenrechtlers, Aydin Engin, neben elf weiteren Autoren, Mitarbeitern und Führungskräften der Zeitung am 31. Oktober 2016 macht schon deutlich, dass es dem türkischen Regime nicht um Gesetze geht, sondern vielmehr um das Vernichten jeglicher Kritiker. Gegen den Geschäftsführer Akin Atalay und einen Mitarbeiter, die zu diesem Zeitpunkt zufällig im Ausland waren, wurden Haftbefehle erlassen. Auch gegen den ehemaligen Chefredakteur Can Dündar, der ohnehin seit diesem Sommer im deutschen Exil lebt, wurde erneut wegen Hochverrats ein Haftbefehl erlassen.

Die Türkei ist ein Land, in dem die Festnahme von Journalisten mittlerweile kaum noch für Aufregung sorgt. Doch diesmal ist es anders. Seit dieser Polizeiaktion sammeln sich tagtäglich mehrere hundert Menschen vor den Redaktionsräumen der Zeitung. Türkische Journalisten, Künstlerinnen, Akademiker und Politikerinnen erklären sich solidarisch mit Cumhuriyet. Auch im Ausland löste die Verhaftungswelle Empörung aus. Internationale Journalistenorganisationen protestieren, nicht nur wegen der Aktion selbst, sondern weil sich auch ein Mitglied des Vorstands des Internationalen Presseinstituts unter den Betroffenen befindet.

Cumhuriyet ist eine Tradition, ein Symbol. Sie steht für die moderne Republik.

Was den Fall Cumhuriyet von anderen ähnlichen Fällen unterscheidet, ist die Geschichte der Zeitung – zum Teil auch die Rolle, die sie in den letzten Jahren in der türkischen Öffentlichkeit spielt. Cumhuriyet ist eine Tradition, ein Symbol. Sie steht für die moderne Republik. Sie wurde kurz nach der Gründung der modernen Republik Türkei 1924 ins Leben gerufen und ist heute die älteste Zeitung des Landes. Cumhuriyet heißt „Republik“ im Türkischen. Der Namensvater war der Gründer des neuen Staates Atatürk.

Doch trotz dieser Nähe zum Staatsgründer und der regierenden Staatspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), spürte Cumhuriyet immer wieder den Druck der Regierungen. 1934 wurde ihr Erscheinen zum ersten Mal durch die damalige CHP-Regierung für zehn Tage verhindert. Das wiederholte sich 1940, dieses Mal für 90 Tage. Immer wieder musste die Zeitung in den Jahren danach ihre Arbeit einstellen, hat aber nie das Handtuch geworfen.

Inhaltlich hat die Zeitung in ihrer langen Geschichte schon mehrere große Wendungen erlebt. Hatte sie in den 1930er Jahren zum Teil faschistoide Ideen vertreten, die damals weltweit im Umlauf waren, entwickelte sie sich in der Nachkriegszeit mehr oder weniger zu einer links-demokratischen Publikation. Die türkischen Leserinnen und Leser nahmen sie immer als eine oppositionelle Zeitung wahr. Deshalb litt sie auch unter fast jedem Militärputsch. Weitaus mehr beutelten die Zeitung aber die Attentate auf ihre Autoren und Mitarbeiter. Seit 1978 wurden sieben Cumhuriyet-Autoren getötet, unter anderem der bekannte investigative Journalist Ugur Mumcu. Keines dieser Attentate wurde wirklich aufgeklärt.

Seit 1978 wurden sieben Cumhuriyet-Autoren getötet. Keines dieser Attentate wurde wirklich aufgeklärt.

Nachdem die heute regierende islamistische Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Jahr 2002 an die Macht kam, leistete Cumhuriyet zähen Widerstand. 2008 wurde der damalige Leiter des Hauptstadtbüros der Zeitung, Mustafa Balbay, verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, mit den Militärs gemeinsame Sache zu machen und die Regierung umstürzen zu wollen. Balbay wurde wieder aus der Haft entlassen und freigesprochen, nachdem die AKP sich mit der <link kommentar artikel tausend-und-eine-macht-1580>Gülen-Bewegung überwarf und ein neues Bündnis mit Nationalisten schuf. Balbay ist heute Abgeordneter der CHP.

Balbay ist auch Teil eines Richtungskampfs in der Zeitung. Dieser war zunächst zugunsten der alten kemalistischen Kader entschieden, die eine links-nationalistische Position vertraten, zu denen auch Balbay gehört. Doch seit 2013, als der Vorstand der herausgebenden Stiftung neugewählt wurde, lockerte Cumhuriyet ihre knallhart kemalistisch-nationalistische Haltung. Sie öffnete sich jüngeren Menschen. Auch in der Kurdenfrage nahm sie eine versöhnlichere Haltung an.

Cumhuriyet deckte die Verbindungen der AKP-Regierung mit den radikal-islamischen bewaffneten Gruppen im syrischen Bürgerkrieg auf.

Unter dem von der neuen Führung eingesetzten Chefredakteur Can Dündar deckte Cumhuriyet die Verbindungen der AKP-Regierung in Ankara mit den radikal-islamischen bewaffneten Gruppen im syrischen Bürgerkrieg auf. Im Mai 2015 dokumentierte Cumhuriyet, wie der türkische Geheimdienst Waffen an diese Gruppen lieferte. Kurz darauf wurde auf der Webseite der Zeitung ein Video veröffentlicht, das die Existenz und Duldung von IS-Lagern auf türkischem Boden nachwies. Unter anderem dafür bekam sie dieses Jahr den Alternativen Nobelpreis. Die Zeitung hätte „grundlegende menschliche Werte im Angesicht von Krieg und Unterdrückung“ verteidigt, hieß es aus Stockholm.

Dafür wurden aber auch Dündar und der Leiter des Hauptstadtbüros, Erdem Gül, verhaftet und wegen Spionage und Unterstützung von Terrororganisationen vor Gericht gestellt. Am Ende wurden beide zu fünf Jahren Haft verurteilt. Das Gericht stellte aber auch klar, dass die beiden Journalisten wegen „Veröffentlichung von Informationen, die geheim gehalten werden mussten“ bestraft werden sollten. Somit bestätigte das Gericht nachträglich die Richtigkeit der Berichterstattung.

Vor allem diese Enthüllungen, aber auch ihre Annäherung zur oft pro-kurdisch genannten linken HDP brachten die Zeitung erneut ins Kreuzfeuer konservativer Medien und Politiker. Als die Zeitung das Attentat auf Charlie Hebdo in Paris verurteilte und einige Autoren eine Prophetenkarikatur ihrer französischen Kollegen übernahmen, liefen Konservative in der Türkei Sturm. In den regierungsnahen Medien wird der Zeitung seit mehreren Jahren vorgeworfen, sie würde heimlich für die islamistische Gülen-Bewegung arbeiten, die zunächst Recep Tayyip Erdoğan unterstützte, später aber in Ungnade fiel.

Dies ist wenig glaubhaft, da Cumhuriyet, unnachgiebig laizistisch seit ihrer Gründung, stets auch gegen diese islamistische Bewegung war. Ihre Autoren veröffentlichten mehrere Bücher, die vor dieser Bewegung warnten. Doch die regierungsnahen Medien halten an ihrer Behauptung bis heute fest. Dass dies eine zentral organisierte Meinungsmache gegen Cumhuriyet ist, ist für viele im Land unzweifelhaft. Denn Cumhuriyet ist ein Dorn im Auge des Erdoğan-Regimes, und der Vorwurf, der Gülen-Bewegung zu dienen, ist zur Zeit in der Türkei der beste Vorwand, um Oppositionelle aus dem Weg zu räumen.

Da Erdoğan und die AKP auch den Putschversuch im Juli dieses Jahres der Gülen-Bewegung anlasten, erhöhte sich in den letzten Monaten der Druck auf Cumhuriyet ununterbrochen. Tragisch ist, dass die Staatsanwaltschaft sich der internen Richtungskämpfe in der Zeitung bedient und ihr letztes Vorgehen mit einer Beschwerde Mustafa Balbays und eines ehemaligen Ministers und Cumhuriyet-Autoren, Alev Coskun, begründet.

Um Cumhuriyet zu verteidigen, rücken Strömungen in der türkischen Opposition zusammen, die sich bisher nicht nähergekommen sind.

Die aktuelle Verhaftungswelle bringt Cumhuriyet in eine ernste Lage. Doch gleichzeitig ist sie eine echte Alarmglocke. Um Cumhuriyet zu verteidigen, rücken Strömungen in der türkischen Opposition zusammen, die sich bisher nicht nähergekommen sind, geschweige denn zusammenarbeiten konnten. Die HDP weiß nicht erst seit heute, dass das Erdoğan-Regime sie mit allen Mitteln mundtot machen möchte. Aber nun spürt auch die HDP, dass der Unterdrückungsapparat der Regierung und des Staatspräsidenten, der alle Gesetze des Landes ignoriert, nun an ihre eigenen Türen klopft.

Alle merken, dass dies ein entscheidender Moment der Geschichte ist. Entweder werden Gegner des Erdoğan-Regimes jetzt zusammenfinden, sich und die Reste der demokratischen Strukturen im Land verteidigen oder sie werden sich bald in einem neu strukturierten Land finden. In einem Land, in dem die islamisch-nationalistische Herrschaft durch ein Präsidialsystem nachhaltig gesichert ist.