In den vergangenen Wochen hat der Begriff Abundance (auf Deutsch etwa „Wohlstand“ oder „Überfluss“) die politische Welt der USA im Sturm erobert. Er stammt aus dem gleichnamigen Bestseller von Ezra Klein und Derek Thompson und hat sich schnell als mögliches Leitbild für die Demokraten etabliert, die nach ihrer Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen 2024 wieder Fuß fassen wollen. Das Buch befasst sich zwar in erster Linie mit der amerikanischen Politik, beinhaltet aber auch wertvolle Erkenntnisse und warnende Beispiele, mit denen sich europäische Politikerinnen und Politiker, die angesichts der aktuellen geopolitischen Veränderungen das europäische Projekt zusammenhalten wollen, dringend auseinandersetzen sollten.

Im Zentrum der Abundance Agenda steht ein scheinbar einfacher Gedanke: Wenn wir die Zukunft so gestalten wollen, wie wir sie uns wünschen, müssen wir mehr von dem aufbauen und entwickeln, was wir brauchen. Klein und Thompson behaupten sogar, Knappheit ergebe sich nicht aus natürlichen Grenzen, sondern sei eine Folge politischer Entscheidungen, denn oft würden Fortschritte in Bereichen wie Wohnungsbau, Infrastruktur, Gesundheit und ökologischer Umbau durch die Beschränkungen verhindert, die Regierungen sich selbst auferlegen.

Eine der schärfsten Kritiken des Buches richtet sich direkt an die eigene Zielgruppe. Die Autoren werfen der heutigen Demokratischen Partei „Lawn-Sign-Liberalismus“ vor. Gemeint ist, dass die Wählerinnen und Wähler der Demokraten symbolisch – etwa auf einem Schild in ihrem Vorgarten (lawn sign) – ihre Unterstützung für Soziale-Gerechtigkeits-Kampagnen bekunden, gleichzeitig aber eher konservativ handeln und genau die Politik bekämpfen, die zu mehr Gerechtigkeit führen würde, sobald sie dafür auch nur einen Teil ihrer bestehenden Privilegien aufgeben müssten.

Besonders deutlich zeigt sich diese Heuchelei in konservativen Bundesstaaten wie Texas, die zwar von Klimaskeptikern regiert werden, in denen aber wegen ihrer Laissez-faire-Politik deutlich mehr Solarstromkapazitäten installiert werden (+240 Prozent bis 2023) als im progressiven Kalifornien, wo der Klimaschutz zwar vollmundig beschworen, aber in der Praxis durch regulatorische Hürden blockiert oder verzögert wird. Ein weiteres Beispiel: San Francisco steckt trotz der in Kalifornien weit verbreiteten Überzeugung vom Grundrecht auf Wohnraum in einer Wohnungskrise, während die texanische Hauptstadt Dallas es schafft, jedes Jahr Zehntausende zusätzlicher Wohnungen zu bauen (2023 mit 24 303 deutlich mehr als die 1 832 neuen Wohnungen in San Francisco) und eine der niedrigsten Obdachlosenquoten der USA aufweist.

Die wichtigste Erkenntnis aber ist, dass Populisten nicht nur wegen ökonomischer Probleme Zulauf haben.

Die Europäische Union kann aus dem Buch von Klein und Thompson viel lernen. Sie kann daraus auch einige ihrer eigenen Erfolge ablesen, insbesondere wenn sie ihr Gesundheits- und Bildungswesen mit dem der Vereinigten Staaten vergleicht. Die wichtigste Erkenntnis aber ist, dass Populisten nicht nur wegen ökonomischer Probleme Zulauf haben, sondern auch deswegen, weil die Menschen die Regierungen für ineffizient halten. Euroskeptiker stellen die Europäische Union als langsam und übermäßig bürokratisch dar und werfen ihr vor, ihr gehe es in erster Linie um Prozesse und weniger um Ergebnisse.

Zwar hat die EU in der Vergangenheit ihre Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten unter Beweis gestellt, etwa mit der Einrichtung des 750-Milliarden-Euro-Fonds Next Generation EU zu Beginn der Pandemie oder dem kürzlich verabschiedeten 800-Milliarden-Euro-Verteidigungspaket Rearm EU, aber es zeigt sich, dass dieses reaktive Vorgehen nicht ausreicht. Um euroskeptischen Narrativen entgegenzuwirken und resilient zu werden, muss die EU ein Wohlstandsdenken entwickeln – also proaktive und kontinuierliche Fortschritte an die oberste Stelle stellen, statt so lange abzuwarten, bis es um alles oder nichts geht.

Die EU sollte den Mut aufbringen, sich ohne Wenn und Aber so kühne Initiativen zu eigen zu machen, wie Enrico Letta und Mario Draghi sie in ihren Berichten skizziert haben, und beweisen, dass sie durch greifbare und relevante Ergebnisse das Leben der Bürgerinnen und Bürger unmittelbar verbessern kann. Der Erfolg sollte nicht an der Höhe des Budgets gemessen werden, wie es bei Rearm EU der Fall ist, sondern an der konkreten Wirkung, die mit den bereitgestellten Mitteln erzielt wird. Dafür muss die EU der Versuchung widerstehen, die Deregulierung so weit zu treiben, dass die Klimaschutzverpflichtungen zugunsten kurzfristiger Wettbewerbsvorteile ausgehöhlt werden. Stattdessen sollte sie dringend bürokratische Hürden abbauen, die der Einführung von Technologien für eine grünere, digitalere und gerechtere Zukunft im Wege stehen.

Einer der Schwerpunkte des Buchs ist das Thema Wohnraum. Der Erfolgsmaßstab für unseren ersten EU-Kommissar, der für Wohnungswesen zuständig ist, sollte die Zahl der zusätzlichen Wohnungen sein, die während seiner Amtszeit gebaut werden, und nicht die Summe der dafür aufgewendeten Gelder. Das heißt: Wie im Draghi-Bericht gefordert, sollte die EU die Investitionslücke im Bereich des sozialen und bezahlbaren Wohnraums schließen. Außerdem sollte sie Instrumente zur Fortschrittskontrolle und zur Messung der sozialen Wirkung entwickeln, die dazu beitragen, dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden können und die investierten Mittel effektiv verwendet werden.

Die Ergebnisse von Reformen müssen mehr Gewicht haben als der Haushalt als solcher.

Der Ausbau neuer Technologien in Sektoren wie saubere Energie, KI und Biotechnologie sollten nicht nur politisch zur Priorität erklärt werden, sondern der Fokus muss auf die Umsetzung dieser Ziele verlagert werden. Es braucht eine deutliche Kurskorrektur auf dem Weg zum Erreichen der Netto-Null-Ziele, aber die Diskussionen in Brüssel laufen in die entgegengesetzte Richtung. Mit politischen Absichtserklärungen für die breite Anwendung dieser Technologien ist es nicht getan. Damit sie auch in die Tat umgesetzt werden können, braucht es realistische Vorgaben und Prognosemodelle. Vor allem aber muss der politische Wille vorhanden sein, diese Herausforderung anzunehmen.

Mit Blick auf die laufenden Vorbereitungen für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) und auf die Zukunft wichtiger EU-Fonds wie des Kohäsionsfonds bedeutet die Umsetzung einer Agenda des Wohlstands auch, dass die EU-Politik sich stärker an sozialpolitischen Zielen orientieren muss. Natürlich müssen angesichts der aktuellen geopolitischen Lage Kompromisse zwischen verschiedenen Politikbereichen gefunden werden. Diese sollten jedoch, anders als von manchen behauptet, über eine simple Entweder-oder-Entscheidung zwischen Verteidigung und Sozialleistungen hinausgehen. „Wohlstandsdenken“ bedeutet, dass es bei künftigen Verhandlungen vor allem um den besseren Einsatz der Mittel gehen sollte und weniger darum, einfach mehr Geld auszugeben. Die Ergebnisse von Reformen müssen mehr Gewicht haben als der Haushalt als solcher.

Abundance bedeutet nicht nur, dass mehr aufgebaut wird und dass dies auf bessere Weise geschieht. Es geht um den Nachweis, dass Regierungen in der Lage sind, effizient zu arbeiten und die von den Bürgerinnen und Bürgern geforderten Ergebnisse zügig zu liefern. Es geht um den Nachweis, dass Europa prosperieren kann, wenn es Ideale verwirklicht und dafür sorgt, dass seinen Versprechen auch Resultate folgen. Die aktuellen geopolitischen Turbulenzen sollte Europa zum Anlass nehmen, ein neues Zielbewusstsein zu entwickeln. Die Zeit der kleinschrittigen Reformpolitik ist vorbei. Europa muss entschlossen handeln, um Wohlstand zu schaffen, an dem alle teilhaben.

© Social Europe

Aus dem Englischen von Christine Hardung