Das ländliche Idyll hat als Lifestyle-Idee Hochkonjunktur. Dauerhaft dort leben will aber kaum noch jemand. In vielen Regionen Europas ist der Trend der gleiche: Ganze Landstriche bluten aus. Politikerinnen und Politiker sind mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert: Auf sinkende Einwohnerzahlen wird mit Einsparungen bei der Infrastruktur reagiert, was noch zu mehr Abwanderung führt.
Insbesondere in den nordischen Ländern wie Finnland und Schweden, aber auch in Ostdeutschland sind Regionen gefährdet und kämpfen mit schrumpfenden Einwohnerzahlen. Insgesamt ist die EU mit dem Problem der demografischen Entwicklung konfrontiert, vor allem mit der zunehmenden Alterung der Bevölkerung. Doch abgelegene, ländliche Regionen könnten in einen „Teufelskreis des Niedergangs“ geraten, wie das Europäische Parlament es in einem Briefing formulierte.
Alle Parteien, ob links oder rechts, haben auf die neue Konkurrenz durch die Bewegung España Vaciada reagiert und versucht, sich deren Themen zu eigen zu machen.
Die spanische Bewegung España Vaciada (etwa: Geleertes Spanien) will diese Entwicklung nicht länger hinnehmen. Mit ihrem Erfolg, etwa in der Region Kastilien und León, könnte sie zum europaweiten Vorbild werden. In der Region, die fast so groß wie die ehemalige DDR ist, waren im Februar knapp zweieinhalb Millionen Spanierinnen und Spanier zur Wahl des Regionalparlaments aufgerufen. Neben dem Schrecken über die erstmalige Regierungsbeteiligung der rechtsextremen Partei Vox, die von der konservativen Partido Popular nach ihrem Wahlerfolg erstmals in eine Koalition geholt wurde, war es vor allem die Bewegung España Vaciada, die den Wahlkampf prägte. Mit ihrem Ansatz könnte sie die Politik in Spanien verändern.
España Vaciada stellte in fünf der neun Provinzen von Kastilien und León Listen auf und wurde in der Provinz Soria sogar stärkste Partei. Auf der Linken wie auf der Rechten reagierten die Parteien auf die neue Konkurrenz und versuchten, sich deren Themen zu eigen zu machen. Luis Tudanca, der Kandidat der Sozialdemokraten, sprach etwa vom „unsichtbar gemachten Land“.
Was will die Bewegung und wo kommt sie her? 2016 erschien das Buch España Vacia (Leeres Spanien) des Lokalreporters Sergio del Molino. Er schrieb damals: „Es gibt ein städtisches und europäisches Spanien, das sich in all seinen Merkmalen nicht von irgendeiner europäischen Stadtgesellschaft unterscheidet, und ein landeinwärts gelegenes und unbevölkertes Spanien, das ich leeres Spanien nenne.“Sergio de Molina zufolge fällt mehr als die Hälfte des spanischen Territoriums in diese Kategorie. Dort leben 7,3 Millionen Menschen, also 16 Prozent der Bevölkerung.
Der Begriff „leeres Spanien“ bezieht sich auf Gebiete, die während der sogenannten Landflucht der 1950er und 1960er Jahre unter massiver Auswanderung litten.
Der Begriff „leeres Spanien“ bezieht sich auf Gebiete, die während der sogenannten Landflucht der 1950er und 1960er Jahre unter massiver Auswanderung litten. Das rückschrittliche Spanien, das erst 1976 nach dem Tod des seit 1939 regierenden Diktators Franco den Weg in Richtung Demokratie einschlagen konnte, erlebte in den 50ern und 60ern eine beispiellose Emigrationswelle. „Wir wollen arbeiten, wir wollen nicht auswandern“, lautete damals ein oft gehörter Protestruf.
España Vaciada ist eine politische Plattform und soziale Bewegung, die sich aus einer großen Anzahl von Bürgergruppen und Vereinigungen zusammensetzt. Diese existieren zum Teil schon seit zwei Jahrzehnten, sie treten in vielen Provinzen unter unterschiedlichen Namen an. Die Bewegung versucht, die Interessen des leerer werdenden ländlichen Spaniens zu vertreten – mit zunehmendem Erfolg.
Für die Provinz Teruel zog 2019 sogar ein Vertreter von „Teruel Existe“ in das spanische Nationalparlament ein und war das Zünglein an der Waage beim Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Pedro Sánchez, das dieser mit hauchdünner Mehrheit gewann.
Für die Provinz Teruel zog 2019 sogar ein Vertreter von Teruel Existe in das spanische Nationalparlament ein und war das Zünglein an der Waage beim Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Pedro Sánchez, das dieser mit hauchdünner Mehrheit gewann. Der Name der Plattform in Teruel drückt einen gewissen Galgenhumor aus, übersetzt heißt sie etwa: Teruel gibt es wirklich! Er erinnert an „Ainielle gibt es“, den ersten Satz im Vorwort des Romans „Der gelbe Regen“ von Julio Llamazares aus dem Jahr 1988, der die Geschichte des letzten verbliebenen Einwohners in einem Pyrenäendorf erzählt.
In ihrem Programm betont die Plattform, das fehlerhafte, unfaire und asymmetrische territoriale Entwicklungsmodell korrigieren zu wollen. Ihr Ziel ist es, die Abwanderung aus ländlichen Regionen, den Rückbau von Infrastruktur und die daraus folgende Gefahr von Verödung auf die politische Agenda zu setzen. Der Name der Plattform verweist nicht nur auf den Prozess der Entvölkerung, sondern impliziert auch eine Kritik an der Abwanderung von Infrastruktur als Folge der chronischen Vernachlässigung ländlicher Regionen durch die Zentralregierung in Madrid.
Eine der am stärksten entvölkerten Provinzen – in Kastilien und León sowie in ganz Spanien – ist Soria. Auf einer Fläche, die viermal so groß ist wie das Saarland, leben ganze 90 717 Einwohner in 183 Gemeinden. Das sind 8 116 weniger als 1987, ein Rückgang um über acht Prozent. Damit ist die Bevölkerungsdichte unter die von der EU als gefährlich eingestufte Grenze von neun Einwohnerinnen und Einwohnern pro Quadratkilometer gesunken („demografische Gefährdung“). Zum Vergleich: Im Saarland leben 383 Einwohner pro Quadratkilometer und damit 42-mal mehr als in Soria.
„Soria ¡YA!“ beklagt, dass Krankenhauspatientinnen mitunter eine zweieinhalbstündige Anfahrt mit dem Krankenwagen auf sich nehmen müssten, um zu ihren Behandlungen ins Krankenhaus zu gelangen.
Die Folgen der Bevölkerungsentleerung lassen sich an Soria zeigen. Die gleichnamige Hauptstadt der Provinz zählt 39 000 Einwohner. Sie ist mit der nächstgrößeren Stadt Valladolid über die Nationalstraße 122 verbunden, die nur teilweise vierspurig ausgebaut und ein berüchtigter Unfallschwerpunkt ist. Soria ¡YA!, die lokale Abteilung von España Vaciada, beklagt, dass Krankenhauspatientinnen mitunter eine zweieinhalbstündige Anfahrt mit dem Krankenwagen auf sich nehmen müssten, um zu ihren Behandlungen ins Krankenhaus nach Valladolid oder Salamanca (dreieinhalb Stunden) zu gelangen.
In der Region Soria gelangder Plattform bei den Regionalwahlen ein beeindruckendes Ergebnis: Sie wurde mit 42 Prozent der Stimmen stärkste Partei und zieht mit drei Vertretern in das Regionalparlament ein. Ihr Erfolg ist auf ihre lange Geschichte und ihre Verwurzelung vor Ort zurückzuführen. 2011 war sie unter dem etwas holprigen Namen „Gegen das Vergessenwerden durch die Institutionen“ von Einzelpersonen gegründet worden. Nun hat sie sich zur „ausgereiftesten Plattform“ bei España Vaciada gemausert, wie Narciso Michavila, Direktor des demoskopischen Unternehmens GAD3, kommentierte.
Das Wahlprogramm von España Vaciada ist mit „100/30/30“ überschrieben. Die 100 steht dabei für eine Internetverbindung mit mindestens 100 Megabit pro Sekunde für das gesamte Gebiet. Maximal 30 Minuten oder 30 Kilometer sollen grundlegende öffentliche Dienste sowie der Anschluss an überregionale Transportwege entfernt sein.
Dass an allererster Stelle der Anschluss an die digitale Welt gefordert wird, zeigt, dass selbst in nach wie vor landwirtschaftlich geprägten Gegenden ein verlässlicher Internetzugang so elementar geworden ist wie Strom, Wasser und Heizung.
Dass an allererster Stelle, noch vor der physischen Erreichbarkeit von Daseinsvorsorge, der Anschluss an die digitale Welt gefordert wird, zeigt, dass selbst in nach wie vor landwirtschaftlich geprägten Gegenden ein verlässlicher Internetzugang so elementar geworden ist wie Strom, Wasser und Heizung. Auch der Aufbau von öffentlicher Infrastruktur wie Gesundheitszentren, Schulen oder Polizeidienststellen zählt zu den Forderungen der Plattform. Sie schlägt vor, ländliche und städtische Kliniken zu erweitern und zu modernisieren. Sie befürwortet die Einführung von Arbeits-, Wirtschafts- und Wohnungsanreizen, um Lehrpersonal zum Umzug in ländliche Regionen zu bewegen. España Vaciada unterstützt auch eine Politik der energetischen Subsistenz der Regionen und den Ausbau von erneuerbaren Energiequellen. Sie spricht sich für eine extensive und ökologische statt eine industrielle Landwirtschaft aus, weil diese „die Bevölkerung in ländlichen Gebieten hält und zur Erhaltung der biologischen Vielfalt beiträgt“.
Diese Ausrichtung – auch wenn die Bewegung, wie viele regionale und nationalistische Parteien in Spanien, kulturell eher konservativ geprägt ist – lässt España Vaciada zum interessanten Bündnispartner für die Linke werden. Ein Ausbau von öffentlicher Infrastruktur und eine ökologische Ausrichtung von Energiepolitik und Landwirtschaft stehen schließlich auch auf der Agenda linker Parteien.
Bei den für 2023 geplanten spanienweiten Parlamentswahlen stehen die Chancen für die lokalen Bewegungen gut, den ein oder anderen Sitz im Parlament zu erringen.
Deutschland hat als eher dicht besiedeltes Gebiet sicher andere Probleme. Aber auch bei uns steht eine Restrukturierung des ländlichen Raums an. Das Modell der Zersiedelung in der Pendlerrepublik Deutschland, in der das Auto den Anschluss an die urbanen Zentren gewährleistet, gerät nicht nur an ökologische Grenzen. So plädiert etwa der Soziologe Andreas Knie für eine digital-ökologische Verkehrswende mit Aufwertung des ländlichen Raums, die durchaus Parallelen zum 100/30/30-Programm von España Vaciada aufweist.
Der Vormarsch des leeren Spaniens in die spanische Politik gestaltet sich bislang regional sehr unterschiedlich und hängt stark von lokalen Gegebenheiten ab. Angesichts der schwierigen Mehr-Parteien-Konstellationen, die in Spanien in den letzten Jahren das traditionelle Modell der Dominanz zweier großer Parteien abgelöst hat, wird ihre Bedeutung wohl zunehmen. Bei den für 2023 geplanten spanienweiten Parlamentswahlen stehen die Chancen für die lokalen Bewegungen gut, den ein oder anderen Sitz im Parlament zu erringen.
Ihre Forderungen nach staatlichen Infrastrukturinvestitionen und ökologischer Landwirtschaft lassen ihre Positionen kompatibel erscheinen mit linken Vorstellung des Staates als Garant von Daseinsvorsorge. Eines ist jedenfalls klar: Das leere Spanien hat eine Stimme und sie wird auch in Zukunft nicht verstummen.