Der Kniefall der einst staatstragenden Volkspartei lässt sich in fünf Worten ausdrücken: „Ich nehme die Einladung an.“ Sie stammen vom neuen Parteivorsitzenden der ÖVP, Christian Stocker, und sind gerichtet an Wahlsieger Herbert Kickl, den Parteichef der FPÖ. Jenen Mann, den Stocker bis zuletzt ein „Hochsicherheitsrisiko“ nannte, einen „radikalen Verschwörungstheoretiker“, der „europaweit zum rechtsextremen Rand“ gehöre.
Angesichts der Nationalratswahlen im September sind in Österreich zu Beginn des neuen Jahres die Weichen auf eine Regierung zwischen der Rechtsaußen-Partei FPÖ und den konservativen Schwarzen der ÖVP gestellt. Zum ersten Mal würde diese Konstellation unter der Führung der Freiheitlichen stehen. Mit einem Wahlergebnis von 28,9 Prozent sind sie die neue Volkspartei im Land.
Die Versuche, eine Mehrheit jenseits der Blauen zu basteln, sind am vergangenen Freitag kläglich gescheitert. Erst stiegen die liberalen Neos aus den Koalitionsverhandlungen aus. Dann schmiss am Samstag der konservative Bundeskanzler Karl Nehammer hin. Der Wirtschaftsflügel der ÖVP war in Richtung Rechtsaußen ausgeschert. Dieser koaliert lieber mit den Extremen, als sich mit sozialdemokratischen Ideen wie einer Vermögenssteuer abzumühen.
Dabei hatte Nehammer eine Zusammenarbeit mit FPÖ-Chef Kickl stets ausgeschlossen. Seine Wahlkampfmanager hatten die ganze Kampagne darauf aufgebaut. Dennoch hatte es nur für 26,2 Prozent der Wählerstimmen gereicht. Anstatt mit ihrem Vorsitzenden an einem tragfähigen Abkommen mit den Parteien der Mitte und von links zu feilen, hat sich die ÖVP ihres Chefs entledigt. Aus konservativer Sicht ist das durchaus pragmatisch.
Es passt zu einer situationselastischen Auslegung der Gegebenheiten, wie sie die weitgehend wertebefreite Volkspartei längst pflegt. Sie ist nur noch die Summe der einzelnen Bünde und Interessenvertretungen, die sich unter ihrem Dach einen Vorteil versprechen. Karl Nehammer zählt intern zum Arbeitnehmerbund ÖAAB. Nun haben sich die wirtschaftstreuen Gruppen rund um die Wirtschaftskammer und Teile der Industriellenvereinigung durchgesetzt. Die Wirtschaftskammer als gesetzliche Vertretung muss sich im Frühjahr den Wahlen der Zwangsmitglieder stellen, die Industriellenvereinigung als freiwilliger Lobbyarm der Industrie muss um die eigenen Mitglieder buhlen. Letztendlich gelang es der FPÖ, sie mit einem dezidiert liberalen Wirtschaftsprogramm inklusive Steuersenkungen für Unternehmer zu ködern.
Kickl möchte nicht nur Kanzler, sondern „Volkskanzler“ sein.
Am Mittwoch gab die ÖVP dann bekannt, sie werde Verhandlungen mit den Freiheitlichen beginnen. Der Bundespräsident Alexander Van der Bellen – der mit allen Tricks und unter eklatanter Ignorierung aller Gepflogenheiten versucht hatte, der Dreier-Koalition den Weg freizuschaufeln – hatte Kickl zuvor beauftragt, eine Regierungsmehrheit zu finden. Der stets besonnene Van der Bellen – Markenzeichen Raucher – und dessen Hund Juli, wirkten erschöpft. Als „senile Mumie, der er den Schädel geraderichten“ werde, schmähte Kickl den 80-jährigen Bundespräsidenten. Kickl verfolgt eine klare Agenda: Er möchte nicht nur Kanzler, sondern „Volkskanzler“ sein. Sein Ziel: die „Systemlinge“ zu entmachten.
Harald Mahrer, der Präsident der Wirtschaftskammer, gilt als Mastermind hinter dem Schwenk der ÖVP – weg von den Verhandlungen zu einer Dreier-Koalition und hin zur Rolle des Juniorpartners der Freiheitlichen. Auch Georg Knill, Präsident der Industriellenvereinigung, zeigte sich über diesen Kurswechsel erfreut. Man könnte es auch anders formulieren: Die Privatwirtschaft hat das Ruder übernommen – und dabei womöglich gleich die sogenannte Zweite Republik mit abgeräumt.
Jenes System, das sich in Österreich seit 1945 auf den Konsens, auf sozialpartnerschaftliche Gesetze und letztlich auf die beiden Traditionsparteien ÖVP und SPÖ stützte. Letztere schaffen es jedoch nicht mehr, stabile Mehrheiten zu bilden. Deshalb hatten sie sich die Liberalen mit an den Verhandlungstisch geholt, die jedoch mit ihrer Start-up-Mentalität und dem neurotischen „Mauern-Niederreißen“ gegen die beiden anderen Parteien angerannt sind.
Schließlich warf Nehammer hin. Nach 1 129 Kanzlertagen trat jener Mann zurück, der das Amt 2021 vom Kanzler-Platzhalter und Außenminister Alexander Schallenberg übernommen hatte, der wiederum für den scheidenden, weil der Korruption bezichtigten Sebastian Kurz eingesprungen war. Auch der neue Parteichef, Christian Stocker, ist lediglich eine Verlegenheitslösung. Der stramme Parteisoldat, ein 64-jähriger gelernter Anwalt und zuvor ÖVP-Generalsekretär, musste sich gegen keinen Kontrahenten durchsetzen. Mehr und mehr zeigt sich, dass es in der Volkspartei offenbar den Plan gegeben hatte, den Dreier-Pakt mit SPÖ und Neos zu sprengen. Was aber darauf folgen sollte, daran hat niemand gedacht. Es war nicht nur ein Putsch der Namenlosen, sondern vor allem ein Putsch ohne präsentierbare Nachfolge.
Ein charismatischer, aber unbekannter Wirtschaftskammer-Sekretär war zeitweise im Gespräch, sagte jedoch ab. Einige forderten deshalb Sebastian Kurz auf, es noch einmal zu versuchen. Doch nicht einmal er ist bereit, den Adjutanten für Kickl zu geben. Auch Stocker ist nur eine Interimslösung. Bis zu den Gemeinderatswahlen im schwarzen Kernland Niederösterreich will die ÖVP einen neuen Frontmann präsentieren (eine Frau ist unwahrscheinlich). In der niederösterreichischen Hauptstadt St. Pölten regiert unter großen Schmerzen die ÖVP bereits mit der FPÖ, allerdings in dieser Reihenfolge.
Man kann den Verlierer auch subtiler demütigen.
Wer auch immer die Volkspartei in den kommenden Wochen verantworten muss, wird es jedenfalls nicht leicht haben. Die desaströse Budgetsituation mit konstant zu hohen Defiziten – von einem schwarzen Finanzminister verursacht – grenzt auch die Spielräume einer künftigen Blau-Schwarzen-Regierung ein. Daran, dass einfach nirgendwo mehr Geld aufzutreiben ist, waren maßgeblich die Verhandlungen mit Neos und der SPÖ gescheitert.
Und dann ist da noch der neue starke Mann im Raum: Herbert Kickl. Er hat den Konservativen zur Vorbereitung der Verhandlungen einen Kriterienkatalog geschickt. Unter anderem forderte er ein „Bewusstsein“ dafür, „wer die Wahl gewonnen hat und wer Zweiter und damit nicht Sieger ist“. Man kann den Verlierer auch subtiler demütigen. Stocker skizzierte darauf hilflos seine roten Linien: keine Abkehr von der EU, welche die Freiheitlichen lediglich als „EWR“, also einen „Europäischen Wirtschaftsraum“, interpretiert haben wollen. Stocker will auch eine Orientierung an „westlichen Demokratien“ und nicht an „Diktaturen“. Das ist die neue Realität: In Österreich muss die mögliche neue Kanzlerpartei an die Verfassung erinnert werden.
Das Land steht vor einer Zeitenwende. Die alte Welt ist gestorben, die neue noch nicht ganz geboren. Wie sie ausschauen wird, kann man derzeit nur erahnen. Kickl hat aus seiner Bewunderung für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán nie einen Hehl gemacht, die Termini der Neuen Rechten – von „Remigration“ bis zu „Systemmedien“ – sind sein Alltagsvokabular. In seiner Zeit als Innenminister von 2017 bis 2019 hatten die russischen Geheimdienste mutmaßlich freien Zugriff auf den österreichischen Verfassungsschutz und dessen Informationen.
Vielleicht aber kommt auch alles ganz anders und Blau und Schwarz können sich nicht auf ein Regierungsprogramm einigen. In der Volkspartei spielen sie das folgende Szenario schon durch: Dann nämlich könnte man vielleicht doch mit Sebastian Kurz in Neuwahlen gehen. Im Kalkül der Konservativen würde er Herbert Kickl besiegen. Dann hätte – sofern die Wählerinnen und Wähler dieses Angebot annehmen – ausgerechnet Kurz, dem noch in diesem Jahr eine Anklage wegen Korruption droht, ein bisschen die Demokratie in Österreich gerettet. So oder so: Dem Land steht eine unsichere Zukunft bevor.