Kaum war bekannt geworden, dass Mario Draghi an die Spitze der von Staatspräsident Mattarella vorgeschlagenen Notregierung treten sollte, da erhob sich unter den Linken ein Protestchor. „Das ist ja ein Banker!“, riefen fast alle entsetzt. Ich nicht. Da wir nicht in Zeiten leben, in denen kurzfristig die Abschaffung der Banken zu erwarten ist, sehe ich keinerlei Skandal darin, dass Draghi jemand ist, der an die Leitung von Banken gewöhnt ist.

Ganz im Gegenteil. Es ist positiv, dass nach einer lang anhaltenden Woge des Herumreitens auf dem Souveränitätsgedanken nunmehr ein Regierungschef in Italien ans Ruder kommt, der sich für eine Änderung der Europäischen Union einsetzt. Und zwar in einer Richtung, die jeder vernünftige Vertreter der Linken befürworten sollte: in Richtung eines gemeinsamen EU-Haushalts, einer eigenständigen Steuerkompetenz der EU, der Ausgabe von Eurobonds und der Beseitigung der starren (und katastrophalen) Regeln zum ausgeglichenen Staatshaushalt.

Dadurch erst werden die unerlässlichen Mittel verfügbar, um eine nachhaltige Entwicklung in Gang zu bringen. Kurz gesagt geht es um eine wesentliche Korrektur des absolut verfehlten Grundgerüsts, das die EU-Verträge vorgeben. In genau in diese Richtung bewegt sich Draghi seit etlichen Jahren, wobei er teilweise an die Grenzen seiner Befugnisse gelangte und diese manchmal auch leicht überschritt.

Da ich zu jenen gehöre, die das Geschehen auf europäischer Ebene für außerordentlich wichtig halten, war ich angesichts seiner Ernennung durchaus erfreut. Die nationale Dimension ist nicht mehr ausreichend, um die aufgrund der Globalisierung beseitigte Volkssouveränität wiederzugewinnen. Ich glaube, dass nur die europäische Dimension für uns die Möglichkeit schaffen wird, diese Souveränität wieder auszuüben. Damit würde der Politik – das heißt den Menschen – wieder die Rolle zurückgegeben, die Entscheidungsmacht zu begrenzen, die heute fast ausschließlich dem Selbststeuerungsmechanismus des Marktes überlassen ist.

Die nationale Dimension ist nicht mehr ausreichend, um die aufgrund der Globalisierung beseitigte Volkssouveränität wiederzugewinnen.

Eine Woche nach Draghis Amtsantritt bin ich jedoch sehr unzufrieden. Ich finde, ebenso wie auch fast die gesamte Linke, dass das von unserem Regierungschef zusammengestellte Personaltableau nicht vorzeigbar ist. Hier hat er sich als klassischer Banker erwiesen, der Vertrauen nur in Manager setzt, so als wäre die Umweltzerstörung nicht vor allem eine Folge der kurzsichtigen Entscheidungen, die überwiegend von dieser Personengruppe getroffen wurden. Und für diese Menschen sind vorrangige Ziele nun einmal der Profit und das Bruttoinlandsprodukt.

Angesichts der von Draghi getroffenen Entscheidungen klingen seine wohlfeilen Worte über die Wichtigkeit der Ökologie reichlich hohl, da es doch unter den von ihm selbst ausgesuchten Fachleuten keinen einzigen Umweltexperten gibt, was ungefähr so ist, als wollte man einen Kranken statt zum Arzt zu einem Ingenieur in die Sprechstunde bringen.

Das Gleiche gilt für die zentrale Bedeutung, die er der technologischen Innovation zuschreibt. Manager und Technokraten helfen nicht beim Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft – einem wesentlichen Ansatz, wenn man wirklich einen grundlegenden Wandel unserer Konsumgewohnheiten, unserer Produktionsweisen und unserer gesamten Lebensführung bewirken will.

Draghi verkündet, dass die nicht überlebensfähigen Unternehmen nicht mehr finanziert werden sollen. Aber wer oder was ist eigentlich lebensfähig? Diejenigen, die sich die Taschen voller Geld stopfen, indem sie die Supermärkte mit überflüssigen Produkten überschwemmen, die nicht erneuerbare Ressourcen aufbrauchen? Am beunruhigendsten in dieser politischen Krise sind die äußerst dürftigen Kenntnisse der Komplexität des Ökosystems aufseiten des politischen Establishments in unserem Land. Draghi scheint dabei keine Ausnahme zu bilden.

Eine einfallslose Wiederbelebung des alten Entwicklungsmodells steht nicht für Effizienz und Modernisierung.

Es ist wohl kein Zufall, dass es nur wenig Übereinstimmung zwischen den Kriterien der Richtlinien für die Ausschreibungen im Wiederaufbauplan der EU und denen der angekündigten konkreten Projekte Italiens gibt. Das galt sowohl für den italienischen Plan für Aufschwung und Resilienz der Regierung Conte wie auch – und das sogar in noch höherem Maße – für die von Draghi angekündigten Vorhaben.

Dazu reicht es aus, allein den Wortlaut anzuschauen: Das Wort „Ökosystem“ findet man 109 Mal in der europäischen Vorlage, aber nur zwei Mal im italienischen Plan, um nur ein Beispiel zu nennen. Dasselbe Missverhältnis gilt auch für andere ebenso wichtige Begriffe, wie etwa „Biodiversität“, die nicht dadurch schon geschützt wird, dass man da und dort hübsche Wäldchen pflanzt. Das Risiko, dass Brüssel unsere Anträge als unvereinbar mit den festgelegten Erfordernissen einschätzt, ist keineswegs aus der Luft gegriffen.

Meine Betrachtungen könnten wie Erbsenzählerei erscheinen, sie sind aber Belege für die historische Unterschätzung der dramatischen Umwelt- und Gesundheitskrise. Und das, obwohl die Notstandsregierung gerade deshalb eingeführt worden ist, weil dringende Fragen der Gesundheit und auch der Umwelt auf der Tagesordnung stehen.

Dieselbe Überlegung gilt aber auch für die soziale Frage. Denn eine einfallslose Wiederbelebung des alten Entwicklungsmodells, vielleicht durch einen mehr oder minder erwartbaren „Bürokratieabbau“ beschleunigt, steht nicht für Effizienz und Modernisierung, sondern für die Wiederbelebung der Dinosaurier.

Die größte Enttäuschung betrifft jedoch das Gebiet, bei dem man am meisten von Draghi erwartet hätte: die Europapolitik.

Was mich also an der Regierung Draghi enttäuscht und in höchste Alarmstimmung versetzt, ist nicht die Beteiligung der Lega Nord eines Matteo Salvini oder der Forza Italia eines Renato Brunetta (mit denen bei einem solchen Rückgriff auf eine Notregierung zu rechnen war). Nein, es sind vor allem die ausgewählten Fachleute des Vertrauens, die der neue Premierminister einbindet. Die umweltpolitische Wende etwa wird Roberto Cingolani anvertraut, einem Fachmann für Nanotechnologie, der, als er über die energiepolitische Wende sprach, öfter auf Erdgas als auf erneuerbare Energien Bezug nahm.

Die größte Enttäuschung betrifft jedoch das Gebiet, bei dem man am meisten von Draghi erwartet hätte: die Europapolitik. Zum ersten Mal wird es keinen Minister für Europaangelegenheiten mehr geben. Ich verstehe ja, dass Draghi ein Europaministerium für überflüssig halten könnte, da er sich darin besser auskennt als jeder andere, aber in der Politik spielt das Symbolische eine enorm wichtige Rolle. Stattdessen werden wir als Ersatz für den bisherigen Europaminister wahrscheinlich einen Staatssekretär für Europafragen im Außenministerium bekommen. Nur damit die Welt versteht, dass wir die EU als „Ausland“ begreifen, nicht als Gemeinschaft, deren Teil wir sind und mit der wir Tag um Tag Entscheidungen gemeinsam treffen, die nichts mit Außenpolitik zu tun haben.

Trotz meiner ernüchterten Betrachtungen über den zu erwartenden Gang der Ereignisse bin ich nicht pessimistisch. Zum Glück hängt nicht alles von der Regierung ab. In Italien besteht eine rege, lebendige Zivilgesellschaft, die über eine große Zahl an angesehenen, höchst aktiven Umweltorganisationen verfügt, und in der es starke Gewerkschaften, in der Breite des Landes verankerte soziale Bewegungen und eine kämpferische feministische Bewegung gibt.

Die politische Widerspiegelung dieser Gesellschaft in den Institutionen ist zersplittert und deshalb kaum sichtbar. Aber es gibt sie, und man wird sie zu hören bekommen. Wenn Draghi sich auf sein Geschäft versteht und es gut meint, sollte er imstande sein, sich die Mobilisierung dieser Kräfte zunutze zu machen.