„Nach dem Kalten Krieg war die Welt nicht länger schwarz und weiß, sondern ein Picasso-Gemälde“, sagte Admiral Cem Gürdeniz, der Chefarchitekt der türkischen Strategie vom „Blauen Vaterland“ 2006. Damit bewies der Admiral ein Näschen dafür, wie sich die Welt verändert hatte. Bis dahin habe man die türkische Außenpolitik in knappen Worten zusammenfassen können: „Was auch immer die NATO entscheidet“, erklärte er.
In den Augen von Gürdeniz – einem Bewunderer Kemal Atatürks, des Gründers der heutigen Türkei – wurde die NATO jedoch schnell zu einem Hindernis. Und die EU auch. Die politischen Eliten Europas hätten den endgültigen Sieg von Weiß über Schwarz ausgemacht und darin die Geburt einer globalen Ordnung auf der Basis eines liberalen Multilateralismus mit der Macht der USA im Rücken gesehen.
Gürdeniz sah eine andere Zukunft, die aus kontrastierenden Farben und wirren kantigen Formen besteht. Am Schnittpunkt der Welt gelegen, sei die Türkei immer attraktiv für Weltreiche gewesen, die ihren Einflussbereich und ihre Macht vergrößern und sich bereichern wollten. Griechen, Perser, Römer und später Russen, Briten und Franzosen. Und so würde es auch wieder sein.
Das bedeute, dass die Türkei sich stählen müsse, wie sie es schon unter Mehmed dem Eroberer getan hatte, dem Sultan, der im 15. Jahrhundert Konstantinopel eingenommen hatte, und dann nochmals gut 500 Jahre später unter Atatürk, als die Siegermächte des Ersten Weltkriegs sich zusammentaten, um die Türkei in Stücke zu reißen und den Haien zum Fraß vorzuwerfen.
Erdogan, der islamistische starke Mann der Türkei, brauchte eine Weile, um sich voll und ganz der Außenpolitik zu verschreiben, die von einigen als „neo-osmanisch“ und von anderen als türkischer Irredentismus bezeichnet wird. Säkulare Patrioten wie Cem Gürdeniz gehörten da zu einer anderen Garde. Jahrzehntelang hatten die Militärs Ränke geschmiedet, um Islamisten wie Erdogan von der Macht fernzuhalten. Aber sobald er die türkischen Generäle unter seiner Fuchtel hatte – und Gürdeniz strafrechtlich verfolgt wurde –, wich das Misstrauen einem gemeinsamen Anliegen von Islamisten und Kemalisten: die Wiedergutmachung für die verlorene Größe der Türkei.
Am Schnittpunkt der Welt gelegen, sei die Türkei immer attraktiv für Weltreiche gewesen, die ihren Einflussbereich und ihre Macht vergrößern und sich bereichern wollten.
Letztes Jahr posierte Erdogan vor einer inzwischen berüchtigten Landkarte des östlichen Mittelmeers, auf der die Vision vom Blauen Vaterland abgebildet war: Ein Seegebiet von etwa 460 000 zusätzlichen Quadratkilometern wurde dem Hoheitsgebiet der Türkei zugerechnet – ein Großteil davon auf Kosten von Griechenland und Zypern. Und das war nur der Anfang.
Diesen Sommer schickte die Türkei zwei von Kriegsschiffen eskortierte Forschungsschiffe für seismische Untersuchungen los, um in Gewässern nach Gas zu suchen, die Athen als Teil ihrer Meereswirtschaftszone betrachtet. „Die Türkei wird ihren gerechten Anteil am Mittelmeer, der Ägäis und dem Schwarzen Meer zurückbekommen“, erklärte Erdogan. Eine bewaffnete Auseinandersetzung konnte nur knapp vermieden werden. Allerdings ist zu erwarten, dass die türkischen Probebohrungen per Schiff in den energiereichen griechischen Gewässern fortgesetzt werden, was weitere Reibereien verursachen wird. Erdogan lässt sich nur selten ein gutes Gerangel entgehen.
Die türkische Doktrin des Blauen Vaterlands ist eine strategische Bedrohung für Europa – und zwar eine weit größere als die geopolitischen Rangeleien in Libyen, Syrien und Bergkarabach, bei denen Erdogan ebenfalls mitmischt. Es scheint, als habe Ankara Territorium ins Visier genommen, das zwei EU-Mitglieder lange als ihr Hoheitsgebiet ansahen und was damit ipso facto EU-Gebiet ist. Vor Schritten dieser Art schreckt selbst Wladimir Putin zurück.
Und dennoch scheint Europa uneins, wie Erdogans irredentistische Strategien eingedämmt werden können. Wie sich auf dem letzten EU-Gipfel zeigte, sind Wirtschaftssanktionen weiterhin unwahrscheinlich. Sich auf Sanktionen gegen Belarus und Russland zu einigen – Letztere wegen der Vergiftung des Oppositionsführers Nawalny – erwies sich dagegen als vergleichsweise einfach. Diese Probleme liegen innerhalb der Komfortzone der EU. Die Förderung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist schließlich die Kernkompetenz der EU. Die Rolle der unparteiischen Vermittlerin in regionalen Konfliktgebieten spielt Europa im Schlaf. Bei dem Problem, das der Kontinent mit Erdogan hat, geht es jedoch um seine eigenen Grenzen. Und da hat die EU noch kein Muster, nach dem sie vorgeht.
Vor Schritten dieser Art schreckt selbst Wladimir Putin zurück.
Die konventionelle außenpolitische Logik gebietet, dass man Nachbarn, die an den eigenen Grenzen zu nagen beginnen, mit einer massiven Machtprojektion begegnet – mit der Androhung von Feuer und Zorn und in diesem Fall der unmissverständlichen Erklärung seitens der EU, dass sie die Grenzen von Griechenland und Zypern als ihre eigenen begreift. Ansonsten werden die Nachbarn nie mit dem Nagen aufhören.
Aber bis heute wurde keine solche Erklärung abgegeben. Frankreich kam dem noch am nächsten, als es gemeinsame Übungen mit der griechischen Marine ankündigte. Aber Deutschland, das gerade die wechselnde EU-Ratspräsidentschaft innehat, machte das, was die EU bei Konflikten in aller Welt immer tut: als Drittpartei die Rolle des Vermittlers und Schlichters spielen, in der Hoffnung, die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen.
Die Absurdität von Berlins Bemühungen liegt natürlich weder in den diplomatischen Lösungen, die es anstrebt, noch in der Zurückweisung von „maximalistischen“ Ansprüchen auf beiden Seiten, was nur vernünftig ist. Nein, das Absurde liegt in dem Versuch, sich selbst über die Konfliktparteien zu stellen, wo doch ein Teil von diesen auch EU-Mitglieder sind. Sollte Mexiko jemals Ansprüche auf das Territorium von Texas erheben und Schiffe für seismische Untersuchungen in texanische Gewässer schicken, würde die US-Regierung dann anbieten, zwischen den beiden zu vermitteln? Der Gedanke allein lädt zu Hohn und Spott ein.
Aber genau das hat Deutschland für den Mittelmeerraum vorgeschlagen. Offenbar findet Berlin es schwierig, Partei zu ergreifen und zu sagen: Ab hier ist Europa, ab hier sind wir und andere haben da nichts zu suchen. Man könnte entgegenhalten, dass die EU nicht die USA ist, sie ist kein Staat, was natürlich stimmt. Andererseits ist in Europa neuerdings immer häufiger, nicht zuletzt seitens Angela Merkels, die Rede davon, dass die EU eine solide und souveräne Außenpolitik brauche. Und ohne gemeinsame Grenzen, kann es auch keine gemeinsame Außenpolitik geben. Grenzenlose Organisationen – man denke da an die Vereinten Nationen – haben keine Außenpolitik.
Die konventionelle außenpolitische Logik gebietet, dass man Nachbarn, die an den eigenen Grenzen zu nagen beginnen, mit einer massiven Machtprojektion begegnet.
Jetzt wird es Zeit, dass dieser Groschen fällt. Die EU hat es lange Zeit vorgezogen, die Existenz von Grenzen wegzuwünschen. Grenzen seien „einschränkend und statisch ... Das engt unsere Vorstellungskraft ein“, hat ein EU-Kommissar einst gesagt. Josep Borrell, der außenpolitische Chef der EU sieht Grenzen als „Narben aus Feuer und Blut“. Aber in der geopolitischen Welt, in der starke Männer wie Erdogan sich betätigen, bestimmen Grenzen, wer man ist, und ohne ein klares Signal, dass die EU bereit ist, diese Grenzen zu verteidigen, entbehrt die Behauptung, die EU wolle zu „einem Spieler und nicht zu einem Spielfeld“ werden, jeglicher Grundlage.
Findige Befürworter des türkischen Anliegens weisen darauf hin, dass die EU keine rechtliche Befugnis habe, sich in die Grenzstreitigkeiten ihrer Mitgliedstaaten einzumischen. Hier geht es jedoch nicht um rechtliche Befugnisse, sondern um den politischen Willen, Partei zu ergreifen. Das zu tun, bedeutet nicht zwangsläufig, lähmende EU-Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen, und es bedeutet schon gar nicht, der griechischen Politik einen Freibrief auszustellen. Auch ein Parteiergreifen bedeutet Diplomatie und Verhandeln. Es gibt Zuckerbrot und Peitsche, positive und negative Agenden. Beides kann angewandt werden. Es muss auch eingeräumt werden, dass hinter Erdogans Säbelgerassel einige Missstände und ernstzunehmende Argumente stecken, die durchaus zu berücksichtigen sind.
Die türkischen Verantwortlichen bleiben indessen dabei, die EU solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, und wenn überhaupt jemand, dann sollte die NATO die Rolle des Vermittlers übernehmen. Sie argumentieren, die EU könne nicht zwischen Griechenland und der Türkei vermitteln, weil sie ganz offensichtlich parteiisch sei. Ironischerweise haben sie damit recht. Natürlich ist die EU parteiisch. Aber das ist ja genau der Punkt: Sie ist völlig zu Recht parteiisch. Die EU ist weder die UN noch die neutrale Schweiz. Und die Vermittlerrolle ist nicht die einzige Rolle, die sie in der Welt spielen kann oder sollte. Europa hat Interessen und Grenzen. Bei diesem Anlass macht sie das zu einer Konfliktpartei. Die EU sollte das anerkennen und entsprechend handeln.
Der Originalartikel erschien bei European Politics and Policy der London School of Economics.
Aus dem Englischen von Ina Görtz