Stell dir vor, es finden Bundestagswahlen statt und niemanden in Großbritannien interessiert’s. Natürlich übertreibe ich ein bisschen. An britischen Universitäten und in der Qualitätspresse wird durchaus über das Ende der Ära Merkel und den Wahlkampf berichtet. Generell üben sich die Britinnen und Briten jedoch fleißig in der Nabelschau und zeigen recht wenig Interesse an der deutschen und europäischen Politik. Die Regale in britischen Supermärkten sind ziemlich leer, und die Lebenshaltungskosten steigen stetig. Es sind die – katastrophalen – wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Brexit, verschlimmert durch die jahrelange Sparpolitik sowie die Pandemie, die die Nachrichten beherrschen.
Nach dem Brexit-Debakel sind die Briten isoliert in Europa. Boris Johnsons Regierung wird nun begriffen haben, dass die nächste deutsche Regierung, egal in welcher Konstellation, den Briten bei Verhandlungen mit der EU keine Sonderkonditionen anbieten wird. Von Kanzlerin Merkel wurde sehr viel erwartet, etwa die Aufweichung der Regeln des Europäischen Binnenmarktes zugunsten der Briten. Das lag an einer mangelnden Kenntnis der Person Angela Merkel und der deutschen Politik im Allgemeinen. Nachdem diese Erwartungen enttäuscht wurden, ist es eher unwahrscheinlich, dass sich Johnson und seine Kolleginnen mit Blick auf die neue Bundesregierung dahingehend Hoffnung machen.
Die neue deutsche Regierung wird in jeder momentan denkbaren Koalition weiter links stehen als Johnsons konservative Partei.
Ebenfalls ist klar, dass die neue deutsche Regierung in jeder momentan denkbaren Koalition weiter links stehen wird als Johnsons konservative Partei. Seit dem Wahlsieg vom Dezember 2019 haben die Brexit-befürwortenden Tories die Parteiführung fest in der Hand. Durch seine letzte Kabinettsumbildung vom 15. September hat Johnson diese Tendenz noch verstärkt, indem er wichtige Posten an ultrakonservative Parteikollegen vergeben hat. Johnsons Konservative haben recht wenig mit der CDU gemein, sondern stehen in vielerlei Hinsicht der AfD am nächsten – vor allem in der Migrations- und Kulturpolitik. Mit Frankreich schwelt beispielsweise ein jahrelanger Konflikt über die Migranten, die den Ärmelkanal überqueren, um nach Großbritannien zu reisen, oftmals in überfüllten und unsicheren Booten. Die britische Innenministerin Priti Patel möchte sie am liebsten mit Kriegsschiffen abschrecken und nach Frankreich zurückschicken. Internationales Recht spielt für sie dabei keine Rolle. Den britischen Universitäten wird derzeit regelrecht der Krieg erklärt. Aus Sicht der Tories werden dort die britische Geschichte und Kultur zu kritisch und nicht patriotisch genug erforscht und gelehrt. Dem wollen sie unter anderem mit deutlichen Budgetkürzungen beikommen.
Johnsons Konservative haben recht wenig mit der CDU gemein, sondern stehen in vielerlei Hinsicht der AfD am nächsten.
Die britische Regierung wird somit nicht allzu viele Gemeinsamkeiten oder Sympathien von der neuen Bundesregierung erwarten können. Man wird natürlich im Rahmen der G20 und anderer internationaler Organisationen zusammenarbeiten. Europa interessiert die Parteielite der Konservativen allerdings herzlich wenig. Kaum ein Tory-Politiker spricht eine europäische Fremdsprache oder interessiert sich für die Politik und Kultur anderer europäischer Länder. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, ein „globales Großbritannien“ zu schaffen. Dieser Slogan, der keineswegs neu ist, klingt natürlich sehr vage. Deshalb kommt er auch bei ganz verschiedenen Gruppen von Brexit-Befürwortern gut an. Besonders populär ist er unter den nostalgischen, die dem Empire hinterher trauern. Befürworter findet er auch unter den konservativen Euroskeptikern, denen die Europäische Union zu sehr reglementiert, zu bürokratisch und zu eurozentrisch in ihrer Handelspolitik ist.
Die britische Regierung wird somit nicht allzu viele Gemeinsamkeiten oder Sympathien von der neuen Bundesregierung erwarten können.
Die britische Regierung ist nun damit beschäftigt, neue Freihandelsverträge zu verhandeln, unter anderem mit Indien. Es zeichnet sich ein zäher und langwieriger Prozess ab. Der Brexit hat die britische Regierung bereits sehr viel Zeit und Geld gekostet, entgegen allen Versprechungen, die während der Brexit-Referendumskampagne gemacht wurden. Auch die britische Außen- und Sicherheitspolitik, die ja nun größtenteils außerhalb der Europäischen Union, aber weiterhin innerhalb der NATO stattfindet, muss neu ausgerichtet werden. Der katastrophale, übereilte Abzug aus Afghanistan hat Johnsons Regierung ins Kreuzfeuer der Kritik gebracht. Gerüchten zufolge hat er Außenminister Dominic Raab den Job gekostet.
Johnsons Regierung wendet sich also von der EU ab, weiß aber noch nicht wirklich, wohin der neue Weg führen wird. Ironischerweise ist die Idee des globalen Großbritanniens außerhalb der EU schwerer umzusetzen. Deutschland, als die größte Wirtschaft der EU, sollte hier natürlich eine zentrale Rolle spielen, aber man konzentriert sich derzeit lieber auf die weite Welt. Man wird sich politisch nicht sehr nahestehen und sich seltener sehen als noch vor ein paar Jahren im Rahmen der EU.
Die Labour-Partei und ein Großteil ihrer Anhänger dürften hingegen etwas hoffnungsvoller nach Deutschland schauen.
Die Labour-Partei und ein Großteil ihrer Anhänger dürften hingegen etwas hoffnungsvoller nach Deutschland schauen. Ein Sieg der SPD unter Olaf Scholz könnte als Zeichen gewertet werden, dass die europäische Sozialdemokratie – nach Wahlsiegen in Finnland und Norwegen – im Aufschwung ist. Der derzeitige Chef der Labour-Partei, Sir Keir Starmer, ist genau wie Scholz ein Pragmatiker. Ein eher ruhiger, sachlicher Politiker, der besonders glänzte, als er vor laufender Kamera im britischen Unterhaus Boris Johnson und seine fahrlässige Corona-Politik auseinandernahm. Jedoch hat Starmers Labour-Partei einen noch sehr viel höheren Berg zu erklimmen als Scholz’ SPD. In den letzten Jahren hat es die Partei nicht geschafft, die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler zu überzeugen. Trotz – oder vielleicht auch wegen – einer stark wechselhaften Programmatik. Unter der Leitung Jeremy Corbyns bewegte sich die Partei von 2015 bis 2020 sehr viel weiter nach links. Corbyn und sein Team waren eher mit der Linken in Deutschland zu vergleichen als mit der SPD.
Seit 2020 fährt Labour wieder einen Kurs der Mitte, hat sich aber bisher noch nicht profilieren können. Das disproportionale Mehrheitswahlrecht und die durch den Brexit wieder erstarkte Unabhängigkeitsbewegung in Schottland machen es Labour sehr schwer, eine Mehrheit im Unterhaus zu gewinnen. Labour kämpft sich also durch die diversen britischen Krisen – Austerität, Brexit, Covid, Zerfall des Vereinigten Königreichs – , aber weitestgehend ohne Bezug auf andere europäische Länder. Diese Strategie hat Sir Keir Starmer bewusst gewählt. Um Brexit-befürwortende, kulturell konservative Wählerinnen und Wähler aus Teilen von Wales sowie Mittel- und Nordengland von den Konservativen zurückzugewinnen, hat Starmer entschieden, den Brexit nicht mehr zu thematisieren. So ergibt sich nun der Eindruck, dass Johnsons Regierung mit den Lügen der Brexit-Kampagne, dem Missmanagement der EU-Verhandlungen und deren schweren Folgen ungeschoren davonkommt. Und dass „Europa“, und damit auch Deutschland, weit entfernt liegt – auf einem anderen Kontinent.