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In den vergangenen Wochen wurde Griechenland auf eine harte Probe gestellt: Die Covid-19-Fallzahlen stiegen bedenklich an, im Sommer kamen nur wenige Touristen ins Land, ein mediterraner Wirbelsturm – „Medicane“ genannt – verursachte großflächige Überschwemmungen und Schäden, und das größte Flüchtlingslager Moria auf Lesbos wurde niedergebrannt. Diese Ereignisse und Entwicklungen waren voraussehbar, aber nichts von alledem war dermaßen vorprogrammiert wie die Katastrophe in Moria.

Auf dem Lagergelände und in den umliegenden Olivenhainen lebten schätzungsweise 13 000 Asylsuchende. Das Lager hatte sich zu einem Pulverfass entwickelt, weil die griechischen Behörden das Lager trotz der beschämend inhumanen Lebensbedingungen vieler Migranten sträflich vernachlässigt haben und keinen Handlungsbedarf erkennen wollten. Aber auch weil die Europäische Union die griechischen Inseln als Pufferzone zwischen ihren Mitgliedstaaten und den bewaffneten Konflikten benutzt, die östlich und südlich von Europa ausgetragen werden, entstand auf Lesbos eine unhaltbare Situation.

Manche Funktionäre dachten, man könnte irreguläre Migration mit einer langfristigen Eindämmungsstrategie wirksam bekämpfen, indem man sich Asylsuchende auf Monate oder Jahre vom Leibe hält, während ihre Asylanträge durch die Mühlen der griechischen und europäischen Bürokratie gedreht werden. In Kombination mit den schauderhaften Lebensbedingungen versprach man sich davon eine abschreckende Wirkung auf all jene Migranten, die sich mit dem Gedanken tragen, von der Türkei über die Ägäis nach Griechenland überzusetzen.

„Moria war genau als der elende, erbärmliche und entmenschlichende Ort gedacht, der er war. Das war kein Versehen“, schrieb Daniel Howden, Geschäftsführer des investigativen Journalistennetzwerks „Lighthouse“. „Moria wurde zum Symbol einer EU-Abschreckungspolitik, die eben genau auf das sogenannte ‚Warehousing‘ setzte – also auf die dauerhafte Lagerunterbringung von Asylsuchenden in erniedrigenden Verhältnissen. Jedes andere Vorgehen galt und gilt immer noch als ‚Pull-Faktor‘, der zu einem neuerlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen wie 2015 führen würde“, so Howden.

Manche Funktionäre dachten, man könnte irreguläre Migration mit einer langfristigen Eindämmungsstrategie wirksam bekämpfen, indem man sich Asylsuchende auf Monate oder Jahre vom Leibe hält.

Dieses Konzept ist aus vielerlei Gründen gescheitert. Erstens werden auch die Bedürftigsten sich nicht auf immer und ewig instrumentalisieren lassen. Zweitens führte ihre Anwesenheit auf den griechischen Inseln, die vor allem vom Tourismus leben und derzeit erhebliche finanzielle Einbußen erleiden, zu wachsendem Unmut in der einheimischen Bevölkerung. Dieser Unmut lieferte griechischen und europäischen Politikern bequeme politische Zielscheiben und den Rechtsextremen eine Steilvorlage, um die Wählerschaft zu radikalisieren.

Das alles ließ eine toxische Mischung entstehen, die nicht nur die Gegenwart destabilisiert, sondern auch die Saat für Konfrontationen in künftigen Zeiten legt, wenn die Migration zunehmend die strukturelle Antwort auf Europas demografische Herausforderungen sein wird und sich noch mehr Flüchtlinge auf Grund von Krieg, mangelnder Nahrungsmittel- und Wassersicherheit auf den Weg machen.

„Auf Lesbos haben wir erlebt: Wenn sich über einen langen Zeitraum Ressentiments aufbauen, die sich nicht auflösen lassen, sucht sich die Wut irgendwann die leichtesten und verwundbarsten Ziele“, erklärte Howden in einem Podcast-Gespräch mit The Agora.

Hinzu kommt, dass die EU durch ihre Bemühungen, das Migrationsmanagement auf griechische Inseln, in die Türkei, nach Jordanien oder anderswohin auszulagern, an Europas Peripherie und auch jenseits ihrer eigenen Grenzen einen Markt für die dauerhafte Lagerunterbringung von Asylsuchenden geschaffen hat. Damit offenbart die EU, wie verwundbar sie ist – eine Union mit rund 500 Millionen Einwohnern und einigen der reichsten Länder der Welt als Mitgliedstaaten hat Angst, sich der rund 150 000 Migranten pro Jahr anzunehmen, die zusätzlich zu den rund 2,5 Millionen rechtmäßigen Migranten ankommen, die über die normalen Einwanderungskanäle einreisen.

Die Türkei ist eine gewiefte Verhandlerin und durchschaut die Schwächen der EU nur allzu gut. Beide Trümpfe konnte sie in den vergangenen Jahren immer wieder ausspielen. Das krasseste Beispiel lieferte sie im Februar 2020, als türkische Beamte Migranten zur Landgrenze zu Griechenland in Evros durchließen und eine hässliche Pattsituation erzwangen, als die griechische Regierung beschloss, die Grenztore zu schließen.

Die Türkei ist eine gewiefte Verhandlerin und durchschaut die Schwächen der EU nur allzu gut.

Das Vorgehen der Türkei im Februar war auch einer der Gründe dafür, dass die griechische Mitte-Rechts-Regierung auf einen härteren Kurs in der Migrationspolitik umschwenkte. Vertreter der konservativen Nea Dimokratia behaupteten nunmehr, die meisten in Griechenland ankommenden Flüchtlinge seien „illegale Einwanderer“. Sie seien keine echten Asylsuchenden, sondern Schachfiguren in einem geopolitischen Spiel, das der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sich ausgedacht habe. Auch wurde Griechenland wiederholt vorgeworfen, seine Küstenwache hätte Boote mit Geflüchteten an Bord aus den eigenen Hoheitsgewässern zurückgedrängt und mit diesen sogenannten Pushback-Aktionen gegen Recht und Gesetz verstoßen. Athen dementierte, legte aber keine Beweise vor, um die Vorwürfe zu entkräften.

Während der Sommermonate kündigte die Regierung an, dass Asylsuchende mit anerkanntem Flüchtlingsstatus zum Verlassen der Lager, Wohnungen und Hotels aufgefordert und individuell untergebracht würden. Wenig später sammelten sich Hunderte von Migranten, die nicht wussten wohin, auf Athens öffentlichen Plätzen. Die Polizei schritt ein und trieb sie auseinander, und die örtlichen Behörden entfernten die Sitzbänke, damit die Menschen sich nicht mehr versammeln konnten. Griechenlands extreme Rechte nahm dies zum Anlass, zum ersten Mal seit den Wahlen im Juli 2019, bei denen die Neonazi-Partei „Goldene Morgenröte“ in der Wählergunst auf 2,9 Prozent abgestürzt war und keinen einzigen Sitz im Parlament errang, sich wieder an prominenter Stelle zu Wort zu melden.

Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Wochenende wurde Alexis Tsipras, Chef der oppositionellen Syriza, zu den jüngsten Ereignissen in Moria befragt. Er antwortete mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Tsipras monierte die Gleichgültigkeit der EU und warf der amtierenden griechischen Regierung vor, sie schüre den Fremdenhass.

Tsipras räumte allerdings ein, dass auch seine Regierung ihren Anteil daran hatte, dass auf Lesbos eine unhaltbare Situation entstehen konnte. Es sei daran erinnert, dass das 2012 unter einer anderen Regierung eingerichtete Lager in Moria ursprünglich nur ein paar hundert Menschen aufnehmen sollte. Als 2015 – damals war Syriza an der Regierung – immer mehr Flüchtlinge kamen, verschlechterten die Lebensbedingungen sich zusehends.

In den vergangenen Jahren haben die griechischen Asylbehörden durchaus Fortschritte gemacht, aber sie sind nach wie vor personell unterbesetzt und unzureichend ausgestattet.

In den vergangenen Jahren haben die griechischen Asylbehörden durchaus Fortschritte gemacht, aber sie sind nach wie vor personell unterbesetzt und unzureichend ausgestattet. Daran konnte bislang keine Regierung grundlegend etwas ändern. Auch Syriza gelang es nicht, die mit der Bearbeitung von Asylanträgen verbundenen Rechtsvorgänge zu beschleunigen. Im vergangenen Jahr versprach die amtierende Regierung ein Schnellverfahren nach niederländischem Vorbild, aus dem jedoch bislang nichts wurde.

Am Montag sagte Migrations- und Asylminister Notis Mitarachi vor dem griechischen Parlament: „Moria ist Geschichte. Jetzt haben wir die Chance, neu anzufangen und etwas Besseres aufzubauen.“ Dieses „Etwas“ lässt sich allerdings nicht aus dem gleichen Material oder mit der gleichen Denkweise wie Moria errichten. All das ist in Moria in Flammen aufgegangen.

Vor diesem Hintergrund wird man die Vorschläge der EU-Kommission für einen neuen Migrationspakt in Athen und anderen europäischen Hauptstädten sehr genau unter die Lupe nehmen. Auf den ersten Blick enthält der Pakt einiges, was den griechischen Behörden zusagen könnte – zum Beispiel die finanziellen Anreize für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Strafzahlungen für Aufnahmeverweigerer, die beschleunigte Rückführung von Bewerbern ohne Asylanspruch, ein Krisenmechanismus, der Mitgliedstaaten in Notlagen helfen soll, und eine Neukonzeption der Dublin-Regelung mit dem Ziel, dass Asylanträge nicht mehr nur im Ersteinreiseland – das ist in vielen Fällen Griechenland – verarbeitet werden.

Worauf auch immer man sich am Ende einigt – es darf nicht dazu kommen, dass die überlasteten griechischen Inseln schwankenden Migrationsströmen ausgesetzt werden, ein kleines Lager sich nach und nach in ein Slum verwandelt und die griechische und europäische Bürokratie dort nach Belieben Menschen auf Jahre hinaus festsetzen kann, für die der einzige Ausweg aus ihrer qualvollen Lage Kulanzgesten wie die der deutschen Regierung sind, die sich kürzlich bereit erklärte, etwa 1 500 Migranten aus Moria aufzunehmen.

„Ein geordnetes und faires Migrationsmanagement ist absolut machbar“, sagte die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson vor wenigen Tagen im Gespräch mit dem Podcast EU Scream und forderte die Mitgliedstaaten auf, das von Rechtsextremen ausgeschlachtete Feld der Migration zu „entdramatisieren“ und auf ein „gemeinsames und sachgerechtes“ Asyl- und Migrationssystem hinzuarbeiten.

Dass Johanssons Vorschläge für einen Migrationspakt auch ein unabhängiges Monitoring beinhalten, das den Schutz der Grundrechte gewährleisten und dafür sorgen soll, dass Pushback-Vorwürfen nachgegangen wird, ist ein ermutigendes Signal. Entscheidend ist, dass im Mittelpunkt aller politischen Maßnahmen die Achtung vor dem menschlichen Leben steht. Die griechische Seite dürfte erleichtert sein, dass die Pingpong-Diskussion über die Frage, ob die schlechte Behandlung von Migration ein Fakt ist oder von den NGOs aufgebauscht wird oder – wie in Griechenland vielfach behauptet – das Werk der türkischen Propaganda ist, ein Ende haben werden.

Nach Moria sollte allen europäischen Politikern klar sein, dass sie bei diesem Thema Normalität herstellen müssen. Die Lehre aus den unmenschlichen Verhältnissen auf Lesbos muss sein, dass Asylsuchende menschenwürdig untergebracht werden und dass es ein funktionierendes System gibt, das ihnen in einem rechtsstaatlichen Verfahren entweder Asyl gewährt oder die Voraussetzungen für ihre sichere Rückführung schafft. Die jüngsten Ereignisse auf der Insel haben uns vielleicht vor Augen geführt, dass wir in den Abgrund blicken, aber sie sollten uns bewusst machen, dass Tausende unserer Mitmenschen bereits jetzt in diesem Abgrund leben.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld