Kursk, der Name hat einen besonderen Klang in Russland. Vor genau 24 Jahren ereignete sich eine der ersten großen Katastrophen der Putin’schen Regierungszeit – das Atom-U-Boot „Kursk“ sank in der Barentssee, alle Besatzungsmitglieder starben. Heute ist es die Namensgeberin, die Regionalhauptstadt Kursk, die seit fast einer Woche die Nachrichten dominiert. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg befindet sich die reguläre Armee eines verfeindeten Staates auf russischem Boden, dazu auch noch mit Panzern und unweit der Ortschaften der kolossalen Panzerschlacht der Roten Armee gegen die Wehrmacht im Jahre 1943.

Der Ukraine ist mit ihrer Kursk-Belgorod-Operation bereits jetzt, auch kommunikativ, eine wirkungsvolle Überraschung gelungen. Das Eindringen eines substanziellen ukrainischen Truppenverbands auf das russische Territorium wird begleitet von einer effektiven Desinformationskampagne. So kursierte eine Zeit lang im russischen Internet ein Deepfake-Video des Kursker Gouverneurs, der seine Bürger dazu aufzurufen schien, sich zur Vaterlandsverteidigung einzufinden und Milizen zu bilden. Es gibt auch gestellte und geschauspielerte Aufnahmen, zum Beispiel das Selfie-Video eines „Lokalbewohners“, der von Gesprächen mit ukrainischen Besatzungssoldaten berichtet und von Vorbereitungen für ein „Referendum zum Betritt zur Ukraine“. Offiziell wird dabei von Kiew wenig bis gar nichts kommuniziert, was den erwünschten Effekt verstärkt. Die Ukraine hat die Reaktion auf die Prigoschin-Revolte genau beobachtet und weiß, dass fehlende Vorbereitung der russischen Beamten, allgemeine Verwirrung vor Ort und Funkstille von oben ihre besten Verbündeten sind.

Die Ukraine hat die Reaktion auf die Prigoschin-Revolte genau beobachtet.

Die russische Regierung ist erwartungsgemäß überrumpelt. Der Grenzschutz wie auch die unterstützenden Armeeeinheiten waren grundsätzlich für die Möglichkeit ukrainischer Grenzübertritte sensibilisiert, aber doch eigentlich nur im Ausmaß der letztjährigen Aktionen des „Russischen Freiwilligencorps“, einer Formation unter der Patronage des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Es handelte sich dabei vor allem um öffentlichkeitswirksame, in den Sozialen Medien dokumentierte Nadelstiche, ausgeführt von ein paar Dutzend Soldaten und ohne weitere militärische Relevanz. Diesmal sind ukrainische Soldaten und Material in Divisionsstärke beteiligt – ein Versagen der russischen Aufklärung und ein Beleg dafür, dass das drohnenübersättigte „gläserne Gefechtsfeld“ an der unmittelbaren russisch-ukrainischen Kontaktlinie keine Garantie gegen solche Coups bedeutet.

Die Lage bleibt unübersichtlich: Moskau schweigt lange, verbreitet verfrühte Entwarnungen. Präsident Wladimir Putin erklärte schlussendlich den Abwehrkampf zu einer „antiterroristischen Operation“ und mandatierte den Inlandsgeheimdienst FSB zu einer Art polizeilichem Kriegsrecht. Die Devise lautet: den gegnerischen Erfolg bloß nicht größer machen. Derweil sind Hunderttausende russischer Grenzbewohner auf der Flucht oder evakuiert; sie berichten von der Untätigkeit der örtlichen Behörden; Fernsehsendungen verbreiten bis zur letzten Minute beruhigende Lügen („Es handelt sich nur um kleine Aufklärungstrupps der Ukrainer“) statt überlebenswichtige Informationen (Adressen der Notunterkünfte im Landesinnern, Hinweise auf Evakuierungsrouten, Packlisten).

Russland versinkt im Kriegs- und Informationsnebel.

Auch das Blame Game beginnt prompt: Die an der Grenze stationierten Kadyrow-Kämpfer schieben die Schuld in die Schuhe des Verteidigungsministeriums, örtliche Beamte verweisen auf das Schweigen im föderalen Zentrum, die Reste der Wagner-Truppen melden sich aus Mali und bitten um rasche Wiedereinsetzung an der ukrainischen Grenze. Ausgerechnet in derselben Woche beginnt die russische digitale Zensurbehörde mit der lange geplanten großflächigen Abschaltung von YouTube – weiterhin die wichtigste Informationsquelle für Millionen von Menschen. Russland versinkt im Kriegs- und Informationsnebel.

Doch auch die erfolgreichsten Überraschungen wirken nur kurz, das ist ihre Natur. Nach einer Woche wissen wir zwar immer noch nicht, welche Ziele genau die Ukrainer verfolgen, man kann aber die unterschiedlichen Effekte der Operation bereits bewerten. Da wären zunächst die kommunikativen Ziele des Unterfangens: Neben der sicherlich sehr notwendigen Selbstvergewisserung der ukrainischen Streitkräfte und Gesellschaft –man ist nicht vollends im quälenden Ermüdungskampf gefangen – sendet die Operation auch mehrere Signale an Russland. Die Bevölkerung der Grenzbezirke auf der russischen Seite soll noch mehr als zuvor spüren: Der Krieg kommt nach Hause, der Kreml kann seine Sicherheitsversprechen nicht halten. Das ist tatsächlich eine wirksame Message, denn der Beschuss von Belgorod und anderer grenznaher Orte in der Vergangenheit haben die dortige Bevölkerung sehr wohl in Krisenstimmung versetzt.

Das ist allerdings – wie schon früher bei Drohnenangriffen auf Moskau – keineswegs in einer kreml- und kriegskritischen Haltung gemündet. Als Reaktion startete Moskau im Frühjahr mit der Charkiw-Operation den Versuch, die ukrainische Artillerie zu verdrängen und damit russische Dörfer und Städte aus ihrer Reichweite zu rücken. Gleichwohl ist diese Entwicklung sehr lokal. Russinnen und Russen in anderen Landesteilen bleibt das Leid ihrer Landsleute an der ukrainischen Grenze fern und egal – dafür ist die Zensur in den russischen Medien zu stark und der Grad der Dissoziation und der gesellschaftlichen Kälte, den das Regime Putins bewusst pflegt, zu hoch. Nur wer Verwandte und Freunde in den Grenzbezirken hat und wer mit ihnen spricht, weiß es aus erster Hand: Der Krieg ist schon längst in Kernrussland angekommen, nicht erst seit einer Woche.

Anders sieht es allerdings mit der Verlagerung der menschlichen Verluste auf der russischen Seite hin zu Wehrdienstleistenden aus, die vorrangig zur Grenzsicherung eingesetzt werden. Hier könnte die ukrainische Operation eine manifeste Auswirkung auf die Stimmung in Russland entfalten. Es gibt bereits namentlich bekannte Tote unter den im Schnitt 20-jährigen Angehörigen der grenznah stationierten russischen Regimenter. Über die letzten zweieinhalb Jahre hat der Kreml sehr darauf geachtet, den Einsatz der Wehrdienstleistenden an der Front zu vermeiden beziehungsweise als Fehler aufzuklären. Der absolute Großteil der Rekrutierungen entfällt auf Ältere (um die 40-Jährige), Gefangene, Veteranen, Neueingebürgerte, Polizisten und Silowiki aus anderen Branchen sowie Söldner.

Der Gesellschaftsvertrag – gemäß dem die russische Armee zwar viele junge Menschen einzieht, sie aber aus Auslands- und Kriegseinsätzen heraushält und nach Ende ihrer Dienste weitestgehend unbeschadet den Familien wieder zurückgibt – hält sogar über die gesetzliche Lage hinaus. Nicht mal in den annektierten Gebieten der Ukraine findet man gegenwärtig Wehrdienstleistende. Dabei sind diese Territorien nach russischer Rechtsauffassung ja inländisch und damit für die Einsätze der Wehrdienstpflichtigen geeignet. Sollten im Zuge der ukrainischen Operation viele weitere von ihnen sterben, würde das die Soldatenmütterbewegung wie auch die Sozialen Medien elektrisieren, so etwas lässt sich selbst im heutigen Russland nicht effektiv geheim halten.

Schlussendlich bleibt die Frage, ob das Ganze auch ein Signal an Wladimir Putin senden soll.

Schlussendlich bleibt die Frage, ob das Ganze auch ein Signal an Wladimir Putin senden oder sogar Vorbereitungen für diplomatische Bemühungen um das Ende des Krieges einläuten soll. Kann das Ganze in einem Gebietsaustauschangebot Kiews enden? Das erscheint gegenwärtig fraglich. Für eine tatsächliche Besatzung müsste das blitzartige Vordringen der ukrainischen Streitkräfte einen massiven Folgeeinsatz von ukrainischen Soldaten und Material nach sich ziehen. Das russische Militär zieht seit drei Tagen bereits unterschiedliche Reserven in der Region Kursk zusammen, die weiterhin deutlich umfangreicher als auf der ukrainischen Seite sind. Und übrigens müssen die bisher an der Front im Donbass kämpfenden russischen Einheiten nur marginal Kapazitäten und Ressourcen abgeben, ihre Vorwärtsbewegung ist keineswegs zum Stillstand gekommen.

Auch ist es angesichts seines Führungsstils fraglich, dass Wladimir Putin sich nun eher verhandlungsbereit zeigen würde als zuvor. Womöglich will der Kremlchef zunächst seine Position der Stärke wiederherstellen, ehe er den Überraschungserfolg des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskij und des ukrainischen Oberbefehlshabers Oleksandr Syrskij mittels Verhandlungen würdigen würde. In seiner heutigen Regierungskonsultation zeigt er sich militant: Es könne keine Gespräche mit einem Staat geben, der „russische Zivilisten und Atomkraftwerke angreift“.

Noch ist die Lage dynamisch, und daher lässt sich kein Fazit ziehen. Die ukrainische Offensive markiert ein neues Kapitel des Krieges, sieht aber gleichzeitig bisher nicht wie ein Game-Changer aus. Trotzdem kann man der Ukraine anrechnen, Russland und die Welt daran erinnert zu haben, dass man eben nicht beides haben kann – den Krieg im Nachbarland und den Frieden zu Hause.