Trotz politischer Krise, der drei Jahre Repression und des Krieges vor der Haustür hoffen viele Menschen in Belarus nach wie vor auf eine Zukunft, in der auf Menschenrechte geachtet wird und in der jeder seine Meinung frei äußern kann. Die belarussische Bevölkerung hat ihre Revolution bereits im Jahr 2020 erlebt – in ihren Herzen und Köpfen. Nun beschreitet sie einen mühsamen Weg zu Veränderungen, die Stabilität schaffen und ein Leben ohne Gewalt sowie neue Erschütterungen ermöglichen können. Die Belastungen und Strapazen, die den Menschen in Belarus zugemutet werden, werden nicht vergeblich sein. Auf ihrem beschwerlichen Weg verdienen diese Menschen nicht Mitleid, sondern rückhaltlose Unterstützung.

Die Bevölkerung strebt nach friedlichen Veränderungen, die die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die politischen Gefangenen freigelassen werden, ein Dialog zwischen Gesellschaft und Staatsmacht in Gang kommt und die Isolation in der Weltgemeinschaft ein Ende hat. Derzeit sitzen rund 1 400 politische Häftlinge in den belarussischen Gefängnissen. Ihre Freilassung wäre nicht nur ein Akt der Gerechtigkeit, sondern auch ein wichtiger einleitender Schritt hin zu einem nationalen Aussöhnungsprozess. In der Gesellschaft besteht ein spürbares Bedürfnis nach konkreten Maßnahmen, die einen zivilgesellschaftlichen Dialog ermöglichen und zur Stabilisierung der Lage beitragen.

Europa darf Belarus nicht bloß als Problem sehen, sondern als unabhängigen Staat, der Unterstützung braucht.

Das Lukaschenko-Regime wird international isoliert und mit Sanktionen belegt, doch die Folgen treffen nicht die Mächtigen, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Wichtig ist: Europa darf Belarus nicht bloß als Problem sehen, sondern als unabhängigen Staat, der Unterstützung braucht. Der politische Blick sollte nicht in die Vergangenheit gerichtet sein, sondern nach vorne, geleitet von Werten und Zielen. Das Ziel muss ein unabhängiger demokratischer Staat im Herzen Europas sein, der auch in Fragen der regionalen Sicherheit ein verlässlicher Partner ist. Auf dieses große Ziel muss in kleinen Schritten hingearbeitet werden. Viele Belarussen sehen Europa als Partner und hoffen, dass dieser ihnen hilft, den Anschluss an die Welt zu halten, und dass er zur Normalisierung der Lage beiträgt. Für die Bevölkerung ist es entscheidend zu hören und zu sehen, dass Belarus als Staat Anerkennung genießt und das Bemühen der Gesellschaft um Demokratie, Achtung der Menschenwürde und Freiheit von außen unterstützt wird. Die Bevölkerung braucht das Gefühl, dass die Belastungen, die Millionen von Menschen im Land zu tragen haben, nicht umsonst sind.

Die Menschen in Belarus sind es leid, dass ihr Land als „Puffer“ zwischen Russland und dem Westen wahrgenommen wird. Die Mehrheit im Land empfindet es als Kränkung, dass Belarus als „Satellit“ Russlands oder gar als besetztes Territorium betrachtet wird. Dieses Bild entspricht in keiner Weise der Realität. Die belarussische Bevölkerung will keine Schachfigur auf dem geopolitischen Spielbrett sein, sondern erleben, dass Belarus als eigenständiger Staat wahrgenommen und geachtet wird. Deshalb muss Europa seine Unterstützung darauf ausrichten, die Eigenständigkeit des Landes zu stärken und die Voraussetzungen für eine normale zivilgesellschaftliche Entwicklung zu schaffen. Dafür braucht es praktische Maßnahmen: Programme für Studierende und junge Fachkräfte, pädagogischer Austausch und Bildungsprojekte, die auf die Weiterentwicklung lokaler Initiativen zielen, sowie konkrete Schritte zur Unterstützung und zur Freilassung der politischen Gefangenen und die Verstärkung der europäischen Präsenz in Belarus.

Die belarussische Bevölkerung braucht Partner, die sie als perspektivischen Verbündeten und nicht als Problemfall wahrnehmen. Sie muss konkrete Schritte sehen, die den Weg zur Freilassung politischer Gefangener, zur Beendigung der Repressionen und zu einem politischen Tauwetter ebnen. Selbst wenn diese Schritte zunächst nur Trippelschritte sind, ist es entscheidend, dass sie von der Isolation und Konfrontation wegführen und die Zukunft des Landes und die regionale Sicherheit unterstützen.

Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Rückkehr der diplomatischen Vertretungen nach Minsk.

Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang die Rückkehr der diplomatischen Vertretungen nach Minsk. Dabei geht es nicht um Anerkennung für Lukaschenko, sondern darum, anzuerkennen, dass die Belarussen ein Anrecht auf ihren Staat haben und dass ihr Land Teil des europäischen Raums ist, der über die Grenzen der Europäischen Union hinausgeht. Diplomatische Präsenz ist ein Instrument zur Unterstützung der einheimischen Zivilgesellschaft und kann dazu beitragen, dass Schritt für Schritt neues Vertrauen entsteht und ein politischer Dialog möglich wird.

Die Isolation, die unter anderem durch die Sanktionen verursacht wird, führt dazu, dass die Menschen in Belarus sich zunehmend nach Osten orientieren und die Verbindung zu Europa schwächer wird. Die Sanktionspolitik des Westens, mit der angeblich das Regime unter Druck gesetzt werden soll, die aber die Normalbevölkerung trifft, stößt bei vielen Menschen auf Unverständnis. Sie empfinden diese Maßnahmen als kontraproduktiv. Unter Reisebeschränkungen, Finanzsanktionen und internationaler Isolation leiden die Gesellschaftsschichten, die den Anschluss an Europa halten wollen. Diese Belastungen sind Wasser auf die Mühlen der europafeindlichen Rhetorik der Staatsmacht und erleichtern es ihr, den Westen als Feind des belarussischen Volkes hinzustellen. Die belarussische Bevölkerung will sich nicht komplett von Europa abwenden, sondern strebt nach einem Gleichgewicht, das es ihr ermöglicht, Teil des europäischen Raums zu bleiben und nicht Kriegsteilnehmer zu werden.

Für viele Belarussen ist die europäische Identität mehr als eine geopolitische Option. Sie ist Sinnbild für ein normales Leben, in dem die Menschenrechte geachtet werden und jeder sich selbst verwirklichen kann. Diese Identität wurde 2020 gestärkt, und es ist wichtig, dass sie durch entsprechende Rückendeckung weiter gefestigt wird. Auch wenn die belarussische Gesellschaft innen- und außenpolitisch unter Druck steht, wahrt sie ihre kulturelle Verbindung zu Europa und bemüht sich um Dialog.

Die belarussische Zivilgesellschaft zerfällt heute in zwei Gruppen.

Die belarussische Zivilgesellschaft zerfällt heute in zwei Gruppen: Auf der einen Seite sind die, die allen Risiken zum Trotz im Land geblieben sind, und auf der anderen Seite jene, die nach den Geschehnissen von 2020 gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen. Beide Gruppen wirken aktiv an der Formung der nationalen Identität mit. Inzwischen ist das Bedürfnis nach gefahrloser Teilhabe am zivilgesellschaftlichen Leben des Landes extrem groß, wobei wohltätige und lokale Aktivitäten eine große Rolle spielen.

Wichtig ist, dass die Menschen in Belarus wieder Gemeinschaftssinn und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln. Sie müssen mit denen, die das Land verlassen haben, in Verbindung bleiben und die horizontale Verbundenheit innerhalb des Landes stärken. Viele Initiativen – von Kulturprojekten bis zu gesellschaftlichen Programmen – zielen darauf ab, die belarussische Identität zu pflegen und zu wahren und das Gefühl zu vermitteln, dass man auch in einer Drucksituation seine Identität und seinen Stolz bewahren kann. Dazu gehört nicht nur die Bewahrung nationaler Symbole, sondern auch die Weiterentwicklung der Sprache, der Literatur und anderer Aspekte der Nationalkultur.

Unterstützung von außen darf nicht als Einmischung daherkommen, sondern sollte dazu beitragen, den Anschluss an Europa zu wahren und Belarus in den europäischen Kultur- und Wirtschaftsraum zu integrieren. Je besser dies gelingt, umso mehr werden die demokratischen Bestrebungen innerhalb des Landes gestärkt und umso schwerer wird es für die Staatsmacht, Belarus von der Außenwelt zu isolieren. In einer Situation, die von einem permanenten Ausnahmezustand, von Druck und Angst geprägt ist, ist alles, was zu demokratischen Veränderungen hinführt, nahezu unmöglich. Trotzdem werden die Belarussinnen und Belarussen nicht aufgeben. Sie werden versuchen, an ihren Prinzipien und Werten festzuhalten: Friedfertigkeit, Fleiß, Würde und Glaube an die Zukunft ihres Landes. Das verdient Respekt und Unterstützung – nicht nur von der Europäischen Union, sondern vom Westen insgesamt.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld