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Im Zuge der großen politischen Neuaufstellung in Europa avancierte Christine Lagarde zur Lösung für das Rätsel um die Nachfolge von Mario Draghi an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB). Aber ihr Wechsel wirft eine andere Frage auf: Wer wird Lagarde als IWF-Chefin beerben? 

Dies ist eine europäische Frage, denn im Zuge der Gründung der Bretton-Woods-Institutionen im Jahr 1944 wurde vereinbart, dass die USA jeweils die Vorsitzenden der Weltbank und die Europäer im Gegenzug die des IWF stellen. Die US-Interessen beim IWF sind dadurch gesichert, dass die USA den größten Kapitalanteil eines einzelnen Landes am IWF halten und damit über eine Sperrminorität verfügen. Zudem benennen sie seit den 1990er-Jahren die erste Stellvertretung der IWF-Führung. Derzeit hat David Lipton diese Position inne. Er übernimmt auch vorübergehend Lagardes Posten an der IWF-Spitze.

Selbst in einer Zeit wachsender internationaler Spannungen hat sich an dieser grundsätzlichen Aufteilung der Bretton-Woods-Beute nichts geändert. Als Jim Yong Kim im Januar 2019 plötzlich von seinem Amt als Präsident der Weltbank zurücktrat, nominierte die Trump-Regierung David Malpass zu seinem Nachfolger. Obwohl er als Kritiker der Weltbank gilt, wurde Malpass im April einstimmig auf den Chefsessel dieser Institution gewählt. Niemand wollte die schwelenden Spannungen mit dem Weißen Haus weiter anheizen.

Nachdem sie nun für Lagarde den roten Teppich bei der EZB ausgerollt haben, machen sich die Europäer daran, die Neuaufstellung zu vervollständigen, indem sie eine Person aus ihren Reihen für den IWF-Vorsitz nominieren.

Auch wenn sie die Tradition auf ihrer Seite haben, ist es unhaltbar und anachronistisch, dass die Europäer sich zu diesem Vorgehen berechtigt fühlen. Denn es ist nicht nur abträglich für die Legitimität des IWF, sondern auch ungesund für Europa. Die Eurozonen-Krise kreierte eine toxische Co-Abhängigkeit zwischen der Eurozone und dem IWF, die ein für alle Mal überwunden werden muss. Dass die Europäer den Chefposten einer globalen Institution als Faustpfand in einem intra-europäischen politischen Postenschacher benutzen, bei dem es um die Präsidentschaft des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rats und der Europäischen Kommission geht, setzt dem Ganzen die Krone auf.

Dass die aufstrebenden Volkswirtschaften Asiens in den Bretton-Woods-Institutionen ein größeres Mitspracherecht haben sollten, wird spätestens seit der asiatischen Finanzkrise eingeräumt.

Konfrontiert mit dem herrischen Verhalten von Politikern wie Donald Trump und Wladimir Putin rühmt sich die Europäische Union damit, Verteidigerin einer multilateralen Ordnung und Zusammenarbeit zu sein. Und gerade Institutionen wie die Welthandelsorganisation und der IWF verkörpern die allgemeinen Prinzipien einer globalen Ordnungspolitik. Aber die Akzeptanz solcher Regeln hängt wiederum davon ab, dass die wichtigsten Akteure die zugrundeliegende Machtverteilung anerkennen. Angesichts der gewaltigen Gewichtsverschiebungen in der Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten wirkt die in den letzten Phasen des Zweiten Weltkriegs zwischen Europäern und US-Amerikanern ausgehandelte Vereinbarung zur Machtteilung zusehends überholt und unglaubwürdig.

Dass die aufstrebenden Volkswirtschaften Asiens in den Bretton-Woods-Institutionen ein größeres Mitspracherecht haben sollten, wird spätestens seit der asiatischen Finanzkrise Ende der 1990er-Jahre eingeräumt. Die Art und Weise, wie der IWF mit Ländern wie Indonesien und Südkorea umgegangen war, führte zu einer großen Legitimitätskrise des Fonds. Politisch gesehen entpuppten sich Anleihen beim IWF als toxische Kredite.

Als der Spanier Rodrigo Rato 2007 fast beiläufig als IWF-Chef zurücktrat und das Amt an den ehrgeizigen französischen Sozialisten Dominique Strauss-Kahn („DSK“) übergab, befand sich der Fonds in einer Talfahrt. Auf der Kundenliste standen nur noch die Türkei und Afghanistan. Ohne die Einnahmen aus dem Kreditgeschäft schrumpfte das Budget des Fonds, und „DSK“ begann seine Amtszeit mit einer Verkleinerung des Teams aus Wirtschaftswissenschaftlern.

Manch einer wäre sicher froh gewesen, den IWF ganz loszuwerden. Aber die Finanzkrise von 2008 wischte diese Vorstellung schnell wieder vom Tisch. Die Kundenliste des IWF wurde rasant größer, angeführt von den verzweifelten osteuropäischen Volkswirtschaften wie Ungarn, Lettland und der Ukraine.

Als der G20-Gipfel im November 2008 erstmals auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs gehoben wurde, war damit ein neues globales Forum geschaffen, in dem den aufstrebenden Volkswirtschaften ein angemesseneres Gewicht zuteilwurde. Auf dem Folgetreffen im April 2009 in London wurden dann eine größere Ausgewogenheit der Stimmrechte im IWF und eine Aufstockung der Fondsmittel auf über eine Billion USD vereinbart. Das machte den IWF wieder zu einer Krisenbekämpfungsorganisation des 21. Jahrhunderts.

Aber wo und wie sollte diese neue „Kampfkraft“ zum Einsatz kommen? Im Jahr 2010 wurde das Vertrauen in die Finanzwelt durch den Ausbruch der Eurozonenkrise erschüttert. Der Gedanke, den IWF in die Angelegenheiten der Eurozone einzubeziehen, entsetzte sowohl die Sarkozy-Regierung in Frankreich als auch die EZB.

Allerdings kam Europas eigener Krisenbewältigungsapparat viel zu langsam in die Gänge. Zur Stabilisierung der Lage trafen Angela Merkel und der damals amtierende US-Präsident Barack Obama mit Unterstützung des IWF-Chefs eine Vereinbarung. Damit wurde der IWF nachhaltig in die nationalen Krisenprogramme für Griechenland, Irland und Portugal einbezogen und diente allgemein als Letztsicherung für die Eurozone. Im Mai 2010 flossen immerhin 250 Milliarden US-Dollar aus dem Fonds in die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, den hastig zusammengeschusterten Vorgänger des Europäischen Stabilitätsmechanismus.

Gegen den Protest mehrerer Nicht-EU-Mitgliedstaaten im Direktorium zwang die Einbeziehung des IWF in die Eurozonenkrise den Fonds dazu, sich über Grundprinzipien der Krisenbekämpfung hinwegzusetzen, die er seit den 1990er-Jahren entwickelt hatte. Zwischen 2010 und 2015 unterstützte er Umschuldungsprogramme, die von seinen eigenen Wirtschaftswissenschaftlern als ungerecht und untragbar erachtet wurden. Als sich DSK’s Karriere aufgrund von Anschuldigungen wegen angeblicher sexueller Übergriffe (Anschuldigungen, die schließlich fallen gelassen wurden beziehungsweise von denen er freigesprochen wurde) ab 2011 dem Ende näherte, hatten die Europäer sogar die Dreistigkeit zu argumentieren, dass sein Nachfolger ein Europäer sein müsse, weil der IWF so existentiell in die Eurozone verwickelt sei. Und aus der Angst heraus, dass Europa einen weiteren „Lehman-Moment“ auslösen könnte, bestand die Obama-Regierung darauf, dass der IWF auch weiterhin beteiligt blieb.

Die Erfahrung bestätigt, dass der Fonds in europäischer Hand nicht sicher ist.

Auf diese Weise von seinen beiden größten Kapitaleignern instrumentalisiert zu werden, war nicht nur schlecht für die Legitimität IWF als globale Institution, sondern auch für Europa selbst. Dass der Fonds als Teil der „Troika“ mit der Kommission und der EZB Europas katastrophales Krisenmanagement in der Eurozone mittrug, bedeutete auch, dass Europa sich mit dem Aufbau eines eigenen Sicherheitsnetzes Zeit lassen konnte.

Es ist Christine Lagarde hoch anzurechnen, maßgeblich darauf hingewirkt zu haben, den IWF aus der Eurozone herauszuholen. Sie weigerte sich 2015, ein drittes Rettungspaket für Griechenland zu unterschreiben. Aber die Erfahrung bestätigt, dass der Fonds in europäischer Hand nicht sicher ist.

Inzwischen wird stärker denn je für ein höheres Mitspracherecht der aufstrebenden Volkswirtschaften im IWF gekämpft. Heute hat die EU27, also ohne Großbritannien, einen Stimmanteil von 26,6 Prozent gegenüber den USA mit 16,5 Prozent, China mit 6 Prozent, Deutschland mit 5,3, Frankreich mit 4 Prozent und Indien mit 2,6 Prozent. Es ist allerdings nach wie vor umstritten, wie die Quoten genau festgelegt werden sollten.

Sollte die Höhe der Devisenreserven oder doch das Bruttoinlandsprodukt das ausschlaggebende Kriterium sein? Wenn es das BIP ist, sollte es dann anhand der Kaufkraftparitäten (KKP) oder anhand des gegenwärtigen Wechselkurses berechnet werden? Gemessen an den KKP ist China die größte Volkwirtschaft der Welt; gemessen am gegenwärtigen Wechselkurs liegt es aber noch weit hinter den USA. Und inwieweit sollte die Abschirmung eines Großteils der chinesischen Wirtschaft ins Gewicht fallen?

Die richtige Formel zu finden ist ein hochpolitisches Unterfangen. Aber selbst wenn man sich an dem bisher vereinbarten Berechnungsschema für die IWF-Quoten orientieren würde, hätte das einschneidende Auswirkungen. Chinas Stimmanteil müsste sich auf 12,9 Prozent verdoppeln. Der Stimmanteil der EU müsste auf 23,3 Prozent und der der USA auf 14,7 Prozent gesenkt werden. Die Senkung des US-Stimmanteils wäre von entscheidender Tragweite, weil sie die USA unter 15 Prozent drücken würde. Diese werden aber benötigt, um eine Entscheidung des Direktoriums zu verhindern, die einer Mehrheit von 85 Prozent bedürfen.

Würden die Europäer den derzeitigen Stillstand dazu nutzen, wieder jemanden aus ihren Reihen für den IWF-Vorsitz zu nominieren, wäre das ein deutliches Zeichen für ihre Unredlichkeit.

Es ist völlig ausgeschlossen, dass die USA eine derartige Veränderung akzeptieren werden. Es ist überhaupt unwahrscheinlich, dass die USA ihre Zustimmung zu jeglicher Quotenveränderung geben werden. Unter Obama dauerte es schon bis Januar 2016, bis die Republikaner im Kongress die bescheidenen Anpassungen der Stimmrechtsgleichgewichte billigten, die von der US-Regierung im Frühjahr 2009 in London akzeptiert wurden.

Würden die Europäer den derzeitigen Stillstand dazu nutzen, wieder jemanden aus ihren Reihen für den IWF-Vorsitz zu nominieren, wäre das ein deutliches Zeichen für ihre Unredlichkeit. Wenn Europa es ernst damit meint, die internationale Ordnung durch eine schrittweise Durchsetzung der berechtigten Forderungen aufstrebender Mächte zu sichern, könnte es ein wichtiges Signal senden, indem es die Lagarde-Nachfolge für geeignete Kandidaten aus den Schwellenländern öffnet. Es gäbe mehrere offensichtliche Anwärter.

Die drei am häufigsten genannten Kandidaten wären: Agustín Carstens, ehemaliger Gouverneur der mexikanischen Zentralbank und heute Generaldirektor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel; Raghuram Rajan, ehemals Chefökonom beim IWF und Direktor der indischen Zentralbank, der heute an der Booth School of Business an der Chicagoer Universität lehrt und auf höhere Aufgaben wartet; und Singapurs ehemaliger Finanzminister Tharman Shanmugaratnam, der als erster Asiat den Vorsitz einer der wichtigsten politischen Lenkungsgruppen des IWF innehatte, des Internationalen Währungs- und Finanzausschusses.

Dass diese Männer aus aufstrebenden Volkswirtschaften kommen, macht sie nicht zu Vertretern heterodoxer Ansichten – alle drei gehören zum Davos-Stammklientel. Rajan ist der intellektuellste von den dreien. Aber seine bevorzugte Ausrichtung ist der Ordoliberalismus. Rajan war einer der stärksten Kritiker der unkonventionellen geldpolitischen Maßnahmen, die Ben Bernanke als US-Notenbankchef verfolgte.

Dennoch wäre die Ernennung von einem dieser Männer zum IWF-Chef eine Anerkennung der grundlegenden Gewichtsverschiebungen in der Weltwirtschaft. Und jeder von ihnen wäre ein stärkerer Kandidat als die von den Europäern bisher in die engere Wahl genommenen Kandidaten und Kandidatinnen.

Mark Carney, der (in Kanada geborene) Gouverneur der Bank of England, ist der einzige „Europäer“, der den dreien in Bezug auf das Ansehen in der globalen Finanzwelt das Wasser reichen könnte. Aber trotz seines irischen Passes kam er nicht in die engere Auswahl, weil er nicht europäisch genug ist. Und angesichts der Unterstützung, die Irland wegen des Brexits braucht, wird Dublin nicht auf seine Kandidatur bestehen.

Bedauerlicherweise sind die maßgeblichen Akteure in Europa fest entschlossen, jemanden aus der Eurozone für das Amt zu nominieren. Und genau an der Stelle beginnt das altbekannte europäische Gezänk. Die Südeuropäer haben zwei Personen im Ring: den Portugiesen Mário Centeno, derzeit Präsident der Euro-Gruppe, und Nadia Calviño, die heute spanische Wirtschaftsministerin ist und zuvor hochrangige EU-Beamtin war. Beiden mangelt es an Profil und sie würden nur schwer Unterstützung in Nordeuropa finden.

Als Präsident der Euro-Gruppe verkörperte Jeroen Dijsselbloem eine Mischung aus populistischer nordischer Missgunst und finanzpolitischer Engstirnigkeit, die die Politik der Eurozone gegenüber Zypern und Griechenland bestimmte.

Die beiden Kandidaten, die vermutlich von Nordeuropa unterstützt würden, sind tief in das Eurozonen-Desaster verwickelt. Olli Rehn, der Gouverneur der finnischen Zentralbank, galt als Alternativkandidat für den zunächst als Draghi-Nachfolger gehandelten Jens Weidmann. Er könnte sich der Unterstützung aus der „Neuen Hanse“ sicher sein, mit allen Konsequenzen: Zwischen 2010 und 2014 war Rehn als EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung unter Barroso ein lautstarker Vertreter der Austeritätspolitik.

Schlimmer noch aber wäre der offensichtlich derzeitige Spitzenkandidat Jeroen Dijsselbloem, der frühere niederländische Finanzminister. Als Präsident der Euro-Gruppe von 2013 bis 2018 verkörperte er eine Mischung aus populistischer nordischer Missgunst und finanzpolitischer Engstirnigkeit, die die Politik der Eurozone gegenüber Zypern und Griechenland bestimmte. Sollte er zum geschäftsführenden Direktor des IWF ernannt werden, wäre das eine wahrhaft entsetzliche Wendung in der Saga der Verwicklungen des Fonds in die Eurozone.

Die Weltpolitik steckt gerade in einer fragilen Situation. Die USA sind unberechenbar. Die Spannungen mit China nehmen zu. Die EU muss klären, wo sie steht. In den UN- und Bretton-Woods-Institutionen, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs gegründet wurden, ist Europa auf anachronistische Weise überrepräsentiert. Es besteht die Gefahr, dass Europas Beschäftigung mit den eigenen Problemen die Legitimität dieser Institutionen untergraben wird.

Stattdessen sollte Europa seinen noch vorhandenen Einfluss sinnvoll nutzen. Beginnen sollte es damit, beim IWF eine neue Ära einzuläuten.

Aus dem Englischen von Ina Goertz

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPS-Journal.