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Das Stück, das seit knapp zwei Wochen auf der italienischen Politikbühne aufgeführt wird, ist reich an überraschenden Wendungen. Eine solche Inszenierung hat man selbst in Italien noch nicht geboten bekommen – dabei gab es hier schon so einiges zu sehen. Im aktuellen Drama ist der Vorhang noch nicht gefallen und der Ausgang weiterhin offen. Einige Akteure sind zwischenzeitlich abgetreten, manche wollen nicht gehen oder versuchen einen Rollenwechsel, andere streben zurück ins Rampenlicht und so mancher hofft auf einen ersten großen Auftritt.
Mit seiner Forderung nach Neuwahlen hatte Italiens Innenminister Matteo Salvini die italienische Regierung in eine schwere Krise gestürzt. Seine Absicht war es, das Umfragehoch der Lega in konkrete Parlamentssitze umzumünzen. Als formaler Juniorpartner in der Regierung hatte die Lega bei den Parlamentswahlen 2018 17,3 Prozent der Stimmen erhalten, die Fünf-Sterne-Bewegung hingegen 32,7 Prozent.
In den vergangenen anderthalb Jahren ist es Salvini gelungen, seine eigenen Popularitätswerte steil nach oben zu treiben und damit auch die seiner Partei. Bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2019 erreichte die Lega 34,3 Prozent, die Fünf Sterne stürzten hingegen auf 17,1 Prozent ab. Manche Umfragen sahen Salvini Ende Juni knapp an der 40-Prozent-Marke, was aufgrund der Besonderheiten des italienischen Wahlrechts für eine Alleinregierung der Lega ausreichen würde. Der Taktiker und Machtmensch Salvini wollte diese Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen und erfand mitten im Hochsommer, wenn fast ganz Italien im Urlaub ist, eine Vertrauenskrise der Regierung mit dem Ziel baldiger Neuwahlen.
Zwei Veteranen betraten den Ring und wirbelten die politische Landschaft Italiens durcheinander – Beppe Grillo und Matteo Renzi.
Aber – so scheint es derzeit – damit verrechnete er sich gewaltig. Zunächst einmal wollte der sonst so farblose Ministerpräsident Conte nicht einfach zurücktreten. Der Senat lehnte zudem eine sofortige Sitzung ab und vertagte sich auf die Folgewoche. Zugefügt wurde Salvini diese Niederlage von einer Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und der sozialdemokratischen Partito Democratico, die sich bisher in erbitterter Feindschaft gegenüberstanden. Zwei Veteranen betraten den Ring und wirbelten die politische Landschaft Italiens durcheinander.
Beppe Grillo, Gründungs- und Übervater der Fünf-Sterne-Bewegung, der sich aus dem politischen Zirkus bereits zurückgezogen und wieder auf seine Kernkompetenz als Clown beschränkt hatte, rief zur Schlacht gegen die neuen Barbaren der Lega auf. Und Matteo Renzi, einstiger Shootingstar der PD, bei den Wahlen 2018 aber jäh abgestürzt und weitgehend in der politischen Bedeutungslosigkeit versunken, forderte in einem Interview seine Partei zu einer Koalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung auf. Ausgerechnet jener Matteo Renzi, der bislang erbittertster Gegner der Sterne war.
Diese Wendung brachte den Parteichef der PD, Nicola Zingaretti, in große Bedrängnis. Erst im März wurde er zum Vorsitzenden gewählt. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, die notorisch zerstrittene Partei zu einen, nach links zu rücken und stärker ins gesellschaftspolitische Umfeld zu öffnen. Zingaretti ist ein Parteichef ohne bedeutende Gefolgschaft im Parlament, die aktuellen Abgeordneten der PD wurden noch von Renzi bestimmt.
Neuwahlen würden es Zingaretti ermöglichen, seine eigenen Vertrauten in Senat und Kammer zu platzieren und den Einfluss Renzis damit stark beschneiden zu können. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass er zu Neuwahlen tendiert, während Renzi diese ablehnt. Salvini indes musste zusehen, wie sich die Dinge in eine für ihn ungünstige Richtung entwickelten. Plötzlich signalisierte er wieder Gesprächsbereitschaft. Sein Telefon sei immer angeschaltet, verkündet er. Doch es ruft niemand von den Fünf Sternen an.
Das Band zwischen den Fünf Sternen und der Lega ist zerschnitten – fürs Erste zumindest.
Am 20. August dann kam es zum Showdown. Die Regierungsmitglieder der Fünf-Sterne-Bewegung waren extra früh in den Plenarsaal des Senats gekommen und besetzten alle Stühle auf der Regierungsbank, um bloß keinen Platz für die Kollegen der Lega zu lassen. Salvini, immerhin stellvertretender Ministerpräsident, musste sich einen Stuhl an der Seite des Regierungschefs geradezu erkämpfen. Es folgte der Auftritt Contes, der die Regierung für gescheitert erklärt und seinen Rücktritt ankündigt.
In einer fast einstündigen Rede listet er zunächst sein erfolgreiches Regierungshandeln auf, um dann bei aller Freundlichkeit in Ton und Auftreten, seinem Innenminister die Leviten zu lesen: Salvini sei unverantwortlich, schade Italien und stelle seine persönlichen Interessen und Parteiinteressen über die Italiens. Er habe dem Ruf der Regierung geschadet, missachte die institutionellen Regeln und Verfahren der parlamentarischen Demokratie, sei übergriffig in andere Ministerien und missbrauche religiöse Symbole zu politischen Zwecken. Der wie ein Schulbub gemaßregelte Salvini küsste trotzig seinen Rosenkranz.
Conte zeigte Format, erstmals ist er wirklich Regierungschef, allerdings nur für einen Tag. Im Anschluss an die vierstündige Debatte fuhr er zum Präsidenten der Republik und bot seinen Rücktritt an. Der Präsident akzeptierte und bat Conte, die Regierungsgeschäfte kommissarisch weiterzuführen. Wer hingegen immer noch nicht zurückgetreten ist, ist Innenminister Salvini, der nicht müde wird, allen anderen vorzuwerfen, an ihren Sesseln zu kleben. In letzter Minute hatte er den Misstrauensantrag gegen Conte wieder von der Tagesordnung nehmen lassen, in der Hoffnung, eine Wiederannäherung sei möglich. Aber das Band zwischen den Fünf Sternen und Lega ist definitiv zerschnitten – fürs Erste zumindest.
Nun hat also Staatspräsident Mattarella die Regie übernommen. In den kommenden Tagen wird er Konsultationen mit den Vertretern der Parteien und den Vorsitzenden von Senat und Kammer vornehmen. Er hat signalisiert, dass er keine lange Hängepartie wünscht und auch keine Übergangslösungen. Damit scheint die Variante einer Expertenregierung, die nur für wenige Monate amtiert, den Haushalt durchs Parlament bringt und einige Reformen durchsetzt, vom Tisch zu sein.
Es verwundert kaum, dass sich die italienischen Bürgerinnen und Bürger immer stärker von der Politik abwenden und ihr immer weniger zutrauen, das Allgemeinwohl im Blick zu haben.
Es bleibt also nur eine Neuwahl, die wahrscheinlich Ende Oktober/Anfang November abgehalten würde, oder es findet sich eine neue dauerhafte Regierungsmehrheit zwischen Fünf-Sterne-Bewegung und Partito Democratico. Ob das wirklich gelingt, ist momentan noch unklar. Aber immerhin sind die beiden Parteien bereit, aufeinander zuzugehen und auszuloten, ob eine Basis für eine belastbare Zusammenarbeit besteht. Die gemeinsame Absicht, Neuwahlen zu verhindern und Salvini von der Regierung fernzuhalten, dürfte allerdings zu wenig sein für eine Koalition zwischen zwei Parteien, die sich bis vor kurzem noch mit heftigsten Vorwürfen überzogen.
Der Partito Democratico hat seine Bedingungen für ein Zusammengehen mit den Fünf-Sternen definiert. Die neue Regierung müsse sowohl inhaltlich als auch personell in großer Diskontinuität zur vorangegangenen stehen. Als zentrale programmatische Anliegen der PD nannte deren Vorsitzender Zingaretti folgende Punkte: verlässliche Mitgliedschaft Italiens in der EU, volle Anerkennung der repräsentativen Demokratie und der zentralen Stellung des Parlaments, eine ökologisch nachhaltige Entwicklungsstrategie für Italien, eine Veränderung in der Migrationspolitik sowie eine neue Ausrichtung der Finanz- und Sozialpolitik. Über diese Punkte müssen sich nun Zingaretti und der Vorsitzende der Fünf-Sterne di Maio in den nächsten Tagen verständigen und sich auf ein Personaltableau einigen.
Viel Zeit wird ihnen der Staatspräsident dafür nicht lassen. Dass es zu einer Einigung zwischen den beiden Vorsitzenden kommt, scheint nicht unwahrscheinlich, aber beide teilen eine Sorge: Wie verlässlich ist Matteo Renzi? Wird Renzi diese neue Regierung wirklich dauerhaft stützen oder sie alsbald stürzen, um mit seiner Gefolgschaft eine zentristische Partei zu gründen und mit dieser im Frühjahr 2020 in den Wahlkampf zu ziehen? Sollte dies eintreten, hätte das absurde Regierungstheater in Italien eine weitere Stufe erreicht. Es verwundert kaum, dass sich die italienischen Bürgerinnen und Bürger immer stärker von der Politik abwenden und ihr immer weniger zutrauen, das Allgemeinwohl im Blick zu haben.
Wie es mit Salvini, der sich mit der Inszenierung dieser Sommerkrise verhoben hat, weitergeht, ist vorerst unklar. Auch wenn in seiner Partei erste leichte Kritik an ihm laut wird, ist er nach wie vor der unangefochtene leader der Lega. Aber er wäre nicht der erste Politiker, der in Italien sehr hoch geflogen und dann jäh abgestürzt ist. Das wären gute Nachrichten für Italien und Europa. Aber das Ende des absurden Theaters ist offen, es könnte sich auch zu einer Tragödie entwickeln.