Der Brexit ist jetzt also tatsächlich vollzogen. Das Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien wurde auf eine neue Grundlage gestellt und der Ausstiegsprozess des Vereinigten Königreichs ist abgeschlossen. Was der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs konkret bedeutet, zeigte sich erst zu Beginn dieses Jahres. Weitreichende Auswirkungen traten zutage, die noch nicht abschätzbar sind. In Schottland ist der Brexit seit Langem mit der Unabhängigkeitsdebatte verknüpft. Ein neues Referendum über die Unabhängigkeit des Landes rückt in den Bereich des Möglichen.

Früher war die Labour Party in Schottland die führende politische Bewegung. Sie führte von den Anfängen der 1999 gegründeten schottischen Regierung mehrere Regierungskoalitionen hintereinander an, bis sie 2007 gegen die für die Unabhängigkeit eintretende Scottish National Party (SNP) verlor. Seitdem ist die SNP mal mit einer Minderheits-, mal mit einer Mehrheitsregierung an der Macht. Nach dem Unabhängigkeitsreferendum 2014 ging es für die schottische Labour Party noch weiter bergab. Bei den britischen Parlamentswahlen 2015 verlor sie 40 Sitze im Unterhaus an die SNP und landete bei den schottischen Parlamentswahlen 2016 auf Platz drei hinter den schottischen Konservativen.

Somit ist die Frage nach der Zukunft Schottlands für die Labour Party eine komplexe Angelegenheit. Sie hängt mit ihren Grundprinzipien, ihrer Haltung zum Brexit, ihrem Verständnis von Dezentralisierung, ihrer Vision für das Vereinigte Königreich und ihren Wahlaussichten zusammen. Die Unabhängigkeitsdebatte wird bei den kommenden Wahlen zum schottischen Parlament, die nach jetzigem Stand der Dinge im Mai dieses Jahres stattfinden sollen, eine zentrale Rolle spielen. Die öffentliche Meinung hat sich deutlich zugunsten der Unabhängigkeit verschoben. Laut 17 nacheinander veröffentlichten Meinungsumfragen spricht sich eine Mehrheit der bereits entschiedenen Wählerinnen und Wähler für die Eigenstaatlichkeit ist. Für Keir Starmer, den Vorsitzenden von Labour, dürfte Schottland zum zentralen Thema werden.

Dass die Labour Party die schottische Unabhängigkeit ablehnt, ist zentraler Bestandteil ihres Programms.

Dass die Labour Party die schottische Unabhängigkeit ablehnt, ist zentraler Bestandteil ihres Programms, sowohl in Schottland als auch im übrigen Vereinigten Königreich. Dennoch unterstützte die Partei 2014 das Unabhängigkeitsreferendum als eine Möglichkeit für Schottland, über seine eigene Zukunft zu entscheiden. Damit steht sie nun vor der Schwierigkeit, ihre ablehnende Haltung zur Unabhängigkeit mit der Tatsache zu vereinbaren, dass in der schottischen Öffentlichkeit die Unabhängigkeit neuerdings eine breite Unterstützung findet. Während seiner Zeit als Parteivorsitzender schien Jeremy Corbyn in der Frage eines neuen Unabhängigkeitsreferendums oftmals zwiegespalten und vertrat eher das Prinzip der Selbstbestimmung als den Wunsch, die Einheit des Vereinigten Königreichs zu erhalten.

Ähnlich wie bei anderen Positionen des Corbynismus schlägt Keir Starmer in der Debatte um die schottische Unabhängigkeit einen anderen Kurs ein. Im Dezember machte er in einer Rede zu den Themen Schottland und Dezentralisierung deutlich, dass die Labour Party ein neues Referendum auf absehbare Zeit entschieden ablehnt. Er kündigte an, dass die Partei eine „Verfassungskommission“ einrichten werde, die sich mit der Neuverteilung der Macht von Westminster auf die verschiedenen Teile des Vereinigten Königreichs befassen und für Schottland konkrete Alternativvorschläge zur Unabhängigkeit erarbeiten soll. Das Ziel ist, noch vor den schottischen Wahlen mit fertigen Vorschlägen aufzuwarten, damit die Partei sie in ihr Angebot an die Wählerinnen und Wähler aufnehmen kann.

Starmer möchte gegenüber einem neuen Referendum eine entschlossenere Haltung einnehmen als sein Vorgänger. Doch die in seiner Rede umrissene Strategie könnte der Labour Party zwar in England und Wales helfen, zu den Konservativen abgewanderte Unterstützer zurückzugewinnen, aber in Schottland könnte sie ihr eher schaden als nutzen. So bezeichnete Starmer beispielsweise die schottische Unabhängigkeit durchgehend als „Separatismus“. Eine solche Wortwahl wird zwangsläufig viele Wählerinnen und Wähler abschrecken. Sie verkennt die Tatsache, dass in der schottischen Gesellschaft der Wunsch nach Unabhängigkeit mittlerweile weitverbreitet ist und zum Mainstream gehört. Bei den schon entschlossenen Wählerinnen und Wählern – darunter sicher auch zahlreiche heutige und ehemalige Labour-Wähler – liegt die Zustimmung zu einem eigenen schottischen Staat bei 58 Prozent.

Auch über den Brexit hat der Labour-Vorsitzende relativ wenig gesprochen, wenn man davon absieht, dass er sich missbilligend über die Art und Weise geäußert hat, wie die Konservativen ihn vollzogen haben. Starmer hat jedoch deutlich gemacht, dass er den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und seine Post-Brexit-Beziehung mit der EU akzeptiert. In England, wo der Kampf um die EU-Mitgliedschaft wohl vorbei ist, ist das eine pragmatische Vorgehensweise. In Schottland ist dieser Kampf allerdings noch lange nicht beendet. Der Brexit war und ist der Hauptgrund für die wachsende Zustimmung zur Unabhängigkeit, und Schottlands Verhältnis zur EU ist ein entscheidender Aspekt der Unabhängigkeitsdebatte. Wenn die Labour Party Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen will, wird sie nicht an der Tatsache vorbeikommen, dass die schottische Politik den Blick ständig auf Europa richtet.

Der Brexit war und ist der Hauptgrund für die wachsende Zustimmung zur Unabhängigkeit.

Zum Referendumsgedanken erklärte Starmer, dass die britische Regierung wegen der durch Brexit und Corona-Pandemie bedingten Unwägbarkeiten kein neues Referendum auf Vorschlag der schottischen Regierung „gewähren“ sollte. Seine Argumentation lässt darauf schließen, dass er im ungelösten Konflikt um die Verortung der demokratischen Souveränität Schottlands der Meinung ist, dass diese Souveränität beim britischen Staat und seinen Institutionen liegt und nicht bei der schottischen Öffentlichkeit und beim schottischen Parlament. Viele Menschen in Schottland sind der gegenteiligen Ansicht. Dennoch scheint Starmers Standpunkt, dass in naher Zukunft kein Referendum abgehalten werden sollte, mit der öffentlichen Meinung konform zu sein. Trotz zunehmender Unterstützung für die Unabhängigkeit deuten Meinungsumfragen darauf hin, dass die Durchführung eines neuerlichen Referendums nicht zu den Prioritäten der schottischen Wählerinnen und Wähler gehört.

Auch wenn die Labour Party den Themen Verfassung und Brexit gerne aus dem Weg gehen würde, gehören beide Themen in Schottland zu den politischen Kernfragen. Die Corona-Pandemie hat jene wirtschaftlichen und sozialen Fragen in den Blickpunkt gerückt, bei denen die Labour Party punkten könnte – doch selbst die Bewältigung der Pandemie spielt in die Unabhängigkeitsdebatte mit hinein. Bei den bevorstehenden schottischen Parlamentswahlen konkurriert die schottische Labour Party derzeit mit den Konservativen um den zweiten Platz, weit abgeschlagen hinter dem voraussichtlichen Sieger SNP. Sollte die SNP die Mehrheit holen oder sich in einem Bündnis mit den schottischen Grünen eine deutliche Mehrheit für die Unabhängigkeit sichern können, wird sich die Labour Party entscheiden müssen, ob sie zähneknirschend ein neues Referendum akzeptieren oder bei ihrer bisherigen Oppositionshaltung bleiben soll.

Sollte es irgendwann zu einem Unabhängigkeitsreferendum kommen, wird die Labour Party sich gezwungenermaßen erneut für den Erhalt der britischen Einheit starkmachen müssen. Der schwindende Einfluss der schottischen Labour Party – sie belegte bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 den fünften Platz und verlor bei der britischen Parlamentswahl 2019 alle Sitze bis auf einen – dürfte allerdings auch ihre Einflussmöglichkeiten auf die Wählerinnen und Wähler begrenzen. Gordon Brown, der letzte Labour-Premierminister Großbritanniens, war beim Referendum 2014 vor allem gegen Ende der Kampagne eine einflussreiche probritische Stimme. Starmer kündigte in seiner Rede zur Dezentralisierung an, dass Brown der Verfassungskommission beratend zur Seite stehen würde.

Die Labour Party würde ihre Argumentation gegen die Unabhängigkeit sicherlich auf der Prämisse aufbauen, dass eine künftige Labour-Regierung in Großbritannien Veränderungen für Schottland bewirken könnte, die einen Austritt aus dem Vereinigten Königreich überflüssig machen würden. Unabhängig davon, wie die Chancen stehen, dass Labour in naher Zukunft die Macht in Westminster übernimmt, wird die Partei den schwierigen Realitäten ins Auge sehen müssen, die mit diesem zentralen Versprechen verbunden sind. Wenn sie neue Befugnisse für Schottland verspricht, käme das wahrscheinlich gut an, aber der Brexit-Prozess hat gezeigt, dass bei Dezentralisierungen nichts garantiert ist. Es könnte sehr gut sein, dass die Wählerinnen und Wähler die Befürchtung hätten, jede Reform könnte von einer nachfolgenden britischen Regierung jederzeit nach Belieben wieder rückgängig gemacht werden.

Der wichtigste Punkt für die Labour Party ist dieser: Die wachsende Unterstützung für die Unabhängigkeit zeigt, dass viele Menschen in Schottland nicht länger der Meinung sind, Solidarität setze eine politische Union mit dem übrigen Vereinigten Königreich voraus. Stattdessen wird für sie die europäische Solidarität innerhalb der EU gerade zur bevorzugten Option. Wenn sie in Schottland wieder zu einer relevanten Größe werden und die schottische Wählerschaft von der Eigenstaatlichkeit abbringen will, muss die Labour Party die zugkräftigen Argumente für die Unabhängigkeit, die in der schottischen Gesellschaft Anklang gefunden haben, zur Kenntnis nehmen. Sie muss praktikable Alternativen entwickeln, die eine ebenso große Zugkraft entwickeln.

Aus dem Englischen von Christine Hardung