Die Intensität und die Dauer der Studierendenproteste in Serbien haben spätestens seit dem 15. März viele überrascht. Über 300 000 Menschen gedachten an diesem Tag der mittlerweile 15 Todesopfer des Einsturzes des Bahnhofsvordachs von Novi Sad. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass dieser Protest sogar größer war als die Massenproteste im Jahr 2000, welche schließlich zum Sturz von Slobodan Milošević führten. Die Bewegung ist inzwischen fest in der Gesellschaft verankert: Eine Mehrzahl der Hochschulprofessorinnen und -professoren unterstützt die Proteste, und auch an weiterführenden Schulen finden nach wie vor vielerorts Streiks statt. Trotz der zunehmenden Intensität der Proteste bleiben die Forderungen seit vier Monaten gleich. An erster Stelle steht die lückenlose Aufklärung des Unglücks und damit der Frage, ob beim Neubau des Bahnhofs Korruption im Spiel war.

Die Regierung erwidert auf diese Forderungen seit Monaten, dass sie ihre Schuldigkeit getan habe und alle relevanten Dokumente veröffentlicht seien. Damit stehen sich die beiden Seiten unversöhnlich gegenüber, Konfrontation und Polarisierung nehmen eher zu als ab. Es kommt nun wieder vermehrt zu gewaltsamen Angriffen auf Protestierende, zuletzt wurde am Wochenende die Dekanin der Philosophischen Fakultät in der südserbischen Stadt Niš auf offener Straße mit einem Messer angegriffen. Beim jüngsten Massenprotest in Belgrad wurde offenbar ein sogenanntes LRAD-Gerät eingesetzt, eine Schallkanone. Wer sie eingesetzt hat, ist bislang unklar.

59 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Proteste, während nur noch ein Drittel der Befragten Präsident Vučić uneingeschränkt Rückhalt gibt.

Eine Beruhigung der Lage ist also nicht in Sicht, und ein genauer Blick auf das Geschehen zeigt: Serbien befindet sich in einer tiefen politischen Krise – und zwar in einer doppelten. Das autokratische System, welches Aleksandar Vučić und seine serbische Fortschrittspartei in den letzten zehn Jahren erschaffen haben, wankt. Das zeigen auch neuere Umfragen: 59 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Proteste, während nur noch ein Drittel der Befragten Präsident Vučić uneingeschränkt Rückhalt gibt. Auf diese Krise reagiert die Regierung mit zunehmender Repression, insbesondere gegenüber der Zivilgesellschaft. Gleichzeitig hat Vučić die Gründung einer neuen Bewegung angekündigt, als Gegenmobilisierung zu den Studierendenprotesten. Ob ihm das helfen wird, ist fraglich, denn es macht sich im Land ein Gefühl der Befreiung breit. Die Studierenden sprechen endlich aus, was viele seit Langem denken: Sie wollen ein Serbien ohne Korruption – ein Land, in dem Demokratie, Würde und soziale Gerechtigkeit zählen.

Hinter der Forderung nach Aufklärung des Unglücks steht längst eine politische Dimension. „Wir ändern das System“, ist einer der Slogans, die derzeit in Belgrad zu lesen sind. Doch gemeint ist damit weit mehr als ein bloßer Regierungswechsel – etwa weg von der Koalition zwischen der Serbischen Fortschrittspartei und der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) hin zu einer neuen parlamentarischen Mehrheit. Die Studierenden fordern nicht nur die Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit und repräsentativer Demokratie. Sie streben ein grundsätzlich neues demokratisches Miteinander an – ein neues politisches System für das Land. Dementsprechend grenzt sich die Protestbewegung auch bewusst von den etablierten Parteien ab, selbst von jenen, die als pro-europäisch oder progressiv gelten.

Alle Parteien in Serbien – nicht nur die regierende Fortschrittspartei – haben in den Augen vieler Bürgerinnen und Bürger massiv an Legitimität verloren. Das gilt auch für oppositionelle, pro-europäische, junge oder weiblich geprägte Parteien. Das hat mit den Verwerfungen der Transformation zu tun, aber auch mit dem System Vučić. Die permanenten Medienkampagnen der letzten zehn Jahre gegen oppositionelle Akteure haben deren Ansehen zusätzlich geschwächt. Parteipolitik wird heute von vielen nurmehr als reines Machtspiel wahrgenommen, in dem es um Posten, Geld und Geschacher geht. Das Parlament ist schon längst nicht mehr der Ort, an dem Debatten geführt und Interessen ausgeglichen werden, sondern es erscheint vielen als eine Art Theaterbühne. Hier zeigt sich das ganze Ausmaß der zweiten Krise: der Krise der Repräsentativität.

Dass auch das repräsentative System selbst in der Krise steckt, belegen die neuesten Entwicklungen auf lokaler Ebene. Bürgerinnen und Bürger in Belgrad, Niš, Novi Sad und vielen kleineren Städten versuchen immer wieder, Sitzungen der Stadträte zu boykottieren, und finden sich in sogenannten Zborovi („Versammlungen“) zusammen. Diese Versammlungen beraten öffentlich über langjährige Missstände wie den Öffentlichen Nahverkehr, Umweltverschmutzung oder das Bildungswesen. Politiker und Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft – selbst aus der Opposition – sind bei diesen Versammlungen oft unerwünscht. Zu groß ist der Frust über ausgebliebene Reformen – zu tief das Misstrauen gegenüber etablierten Akteuren. Es wächst der Wunsch nach neuen Formen der politischen Beteiligung. Direkte Demokratie ist das Stichwort der Stunde – dies haben auch schon einige der oppositionellen Parteien verstanden.

Der serbisch-stämmige Ökonom Branko Milanović hat diese Entwicklungen kürzlich in einen globalen Kontext eingeordnet: den weltweiten Zerfall des repräsentativen Systems. Die Studierendenbewegung, so Milanović weiter, sei zwar unpolitisch im klassischen Sinne, aber zum Protest verdammt – denn die Erfüllung ihrer Forderungen würde bedeuten, dass sich das System Vučić selbst abschaffen müsste. Mit ihm wäre der Weg in eine Diktatur vorgezeichnet, oder zumindest eine weitere Verschärfung staatlicher Repression. Die jüngste Zunahme von Gewalt auf den Straßen sowie der mutmaßliche Einsatz einer Schallkanone beim Protest am 15. März in Belgrad scheinen Milanović Recht zu geben.

Damit bleiben nun 30 Tage, um eine neue Regierung zu bilden. Gelingt dies nicht, müssen Neuwahlen in der ersten Junihälfte stattfinden.

Wie geht es nun weiter? Gibt es noch einen Platz für parteipolitische Lösungen oder liegt die Zukunft Serbiens zwischen weiterer Autokratisierung und direkter Demokratie? Am 19. März hat das serbische Parlament den Rücktritt des Premierministers angenommen, den dieser schon im Januar angekündigt hatte. Damit bleiben nun 30 Tage, um eine neue Regierung zu bilden. Gelingt dies nicht, müssen Neuwahlen in der ersten Junihälfte stattfinden. Doch bislang ist diese Entscheidung nicht gefallen. Sicher ist jedoch, dass die Opposition an möglichen Neuwahlen nicht teilnehmen wird. Es droht eine politische Pattsituation. Vor Kurzem stellte die Opposition ihr Konzept einer „Regierung des nationalen Vertrauens“ vor – einer Übergangsregierung mit einem Mandat für ungefähr neun Monate. Sie soll zwei Hauptziele verfolgen: die vollständige Aufklärung des Unglücks von Novi Sad sowie die Vorbereitung von freien und fairen Wahlen. Dabei soll sowohl der Dialog mit den Studierenden als auch mit den neuen Organen der direkten Demokratie, den lokalen Versammlungen (Zborovi) gesucht werden. Die Idee der Übergangsregierung bezeichnet damit einen konsensualen und dialogischen Weg – aus der autoritären Krise, aber auch aus der Krise der Repräsentation. Sie wäre ein logischer Schritt in einem Moment tiefgreifender Vertrauensverluste.

Präsident Vučić lehnt das Modell einer Übergangsregierung jedoch entschieden ab. Er mag dabei das nordmazedonische Vorbild vor Augen haben, bei dem eine solche Übergangsregierung schließlich zum Machtverlust für den damaligen Premier Gruevski und die regierende VMRO-DPMNE führte. Derzeit ist kaum absehbar, wie eine Verständigung zwischen Regierung und Opposition gelingen könnte. Genauso wenig ist klar, wie der Graben zwischen der Protestbewegung und den Oppositionsparteien geschlossen werden könnte. Die Europäische Union hält sich bisher auffallend zurück. Zwar ist die Unterstützung der Europäischen Kommission für die serbische Regierung leicht zurückgegangen, doch klare Signale fehlen. Das wirtschaftliche Interesse an Großprojekten wie dem Lithium-Abbau im Jadar-Tal oder der Expo 2027 in Belgrad scheint ungebrochen – auch wenn diese Vorhaben nur denkbar sind, wenn sich die Lage im Land stabilisiert und demokratisiert. Gerade deshalb wäre ein stärkeres Engagement der EU wünschenswert: durch klare Worte gegenüber der Regierung und gezielte Unterstützung der demokratischen Bewegung. Die Bewegung wiederum kann an Durchschlagkraft und Macht gewinnen, wenn sie die Gesprächskanäle zwischen Studierenden, den Bürgerinnen und Bürgern sowie den Parteien wieder öffnet und wenn die Spaltungen im progressiven Lager überwunden werden. Aus einer entsprechenden Position der Stärke heraus wäre dann auch eine Verhandlung mit der Regierung über Vorbedingungen für freie und faire Wahlen und einen demokratischen Übergangsprozess möglich.