Es ist einigermaßen paradox: In Österreich scheitern die von Anfang an umstrittenen Koalitionsverhandlungen zwischen der rechtsextremen FPÖ und der bürgerlichen ÖVP. Doch wer gerät nun massiv unter Druck? Ausgerechnet die österreichische Sozialdemokratie – und das unter ihrem dezidiert linken Vorsitzenden Andreas Babler. Und zwar nicht nur von außen, sondern auch aus den eigenen Reihen.
Wie konnte es dazu kommen? Die Vorgeschichte ist schnell erzählt: Bei den Nationalratswahlen Ende September bestätigte sich das seit Langem prognostizierte Ergebnis. Die FPÖ unter ihrem radikalen Vorsitzenden Herbert Kickl ging als Siegerin hervor, während die ÖVP – trotz Kanzlerbonus und einem klaren Anti-FPÖ-Kurs („Keine Koalition mit der Kickl-FPÖ“) – nur knapp dahinter landete. Mit dem dritten Platz musste sich die sozialdemokratische SPÖ unter ihrem relativ neuen Vorsitzenden Babler begnügen.
Die Verhandlungen über eine Dreierkoalition zwischen ÖVP, SPÖ und den liberalen Neos scheiterten Anfang des Jahres überraschend. Die Liberalen waren ursprünglich hinzugekommen, um eine stabile Mehrheit im Parlament zu sichern, da ÖVP und SPÖ gemeinsam nur einen knappen Mandatsvorsprung hätten. Doch letztlich versuchten alle drei Parteien zu stark, eigene Klientelinteressen durchzusetzen. Dieser egoistische Ansatz musste scheitern – angesichts eines massiven Budgetdefizits und eines dringenden Konsolidierungsbedarfs, die kaum Spielraum für parteipolitische Profilierung lassen.
ÖVP und Neos fanden schnell einen Sündenbock für das Scheitern der Verhandlungen.
ÖVP und Neos fanden schnell einen Sündenbock für das Scheitern der Verhandlungen: den roten Parteichef Babler. Zu konfrontativ, zu „links“ sei er aufgetreten, und bis zuletzt habe er auf vermögensbezogenen Steuern bestanden. Tatsächlich wollte die SPÖ neue Einnahmen generieren – allerdings vor allem, um die von Neos und ÖVP geforderte Senkung der in Österreich vergleichsweise hohen Lohnnebenkosten gegenfinanzieren zu können. Verschiedene Modelle lagen dazu auf dem Tisch, doch genau an diesem Punkt gerieten die Verhandlungen ins Stocken.
Nach dem Scheitern der Dreierverhandlungen in der ersten Januarwoche wechselte die ÖVP ihren Parteichef aus und vollzog eine 180-Grad-Wendung. Aus Nehammers Wahlversprechen „Mit der Kickl-FPÖ nicht“ wurde plötzlich ein „Wir können mit Kickl“. Christian Stocker, gelernter Anwalt, der nach eigener Aussage „nichts mehr zu verlieren hat“, übernahm die Parteiführung und stand für diese Kehrtwende. Er folgte dem Ruf der FPÖ und trat in Koalitionsverhandlungen mit Kickl ein – eine politische Selbstaufgabe der Österreichischen Volkspartei.
Die ÖVP hatte den Anspruch auf den Kanzler einer Dreierkoalition verspielt und verhandelte nun mit der Aussicht, den Vizekanzler unter dem extrem rechten Kickl zu geben, der sich schon im Wahlkampf als „Volkskanzler“ inszeniert hatte. Besonders der Wirtschaftsflügel der ÖVP drängte auf diese Allianz, da das Wirtschaftsprogramm der FPÖ – keine neuen Steuern, Senkung der Lohnnebenkosten, harte Budgetkonsolidierung – weitgehend mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmte.
Doch nun sind die Verhandlungen geplatzt – 137 Tage nach den Nationalratswahlen steht Österreich weiterhin ohne neue Regierung da. Kickl hatte darauf gedrängt, das Innenministerium unter seine Kontrolle zu bringen – jenes Ressort, in dem auch die Nachrichtendienste angesiedelt sind. Die wachsende Sorge in der ÖVP, dass Österreich unter einem Kanzler Kickl zu Russlands Türöffner in der EU werden könnte, führte schließlich zum Bruch. Doch diese Bedenken hätte man auch früher haben können. Kickls problematische sicherheitspolitische Haltung ist alles andere als ein Geheimnis. Für alle Parteien bedeutet das: zurück auf Anfang. Bundespräsident Alexander Van der Bellen machte in seiner Erklärung am Mittwochabend deutlich, dass ihm ein neuerlicher Anlauf der konstruktiven Kräfte lieber wäre als Neuwahlen.
Wenn sich jemand mächtig verkalkuliert hat, dann ist es die ÖVP. Trotzdem erhöht diese jetzt den Druck auf die SPÖ. Ja, man wolle erneut eine Dreierkoalition probieren, aber nur mit einem „moderaten Sozialdemokraten“, also nicht mit Babler. Er möge „einen Schritt zu Seite machen“, sagte der Tiroler ÖVP-Chef Anton Mattle wörtlich. Auch aus den eigenen Reihen der SPÖ kommen Signale in diese Richtung. Wiens einflussreicher SPÖ-Chef und Bürgermeister Michael Ludwig bringt seine Parteifreundin, die zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures, als mögliche Lösung ins Spiel. Bures, Jahrgang 1962, gilt als erfahrene Regierungsmanagerin mit guten Verbindungen zur ÖVP – eine Qualität, die Ludwig besonders schätzt. Eine Achse, die Babler, der seine politische Laufbahn als Bürgermeister der mittelgroßen Arbeiterstadt Traiskirchen in Niederösterreich begann, fehlt.
Die Frage der gerechten Verteilung dürfte daher ein rotes Kernthema bleiben.
Damit sendet die SPÖ ein geradezu masochistisches Signal: Ja, wir sind bereit, unseren Parteichef, den wir erst kürzlich in einer langwierigen Mitgliederbefragung als Favoriten des linken Parteiflügels gewählt haben, zu opfern – um eine Regierungskoalition möglich zu machen. Für viele in der SPÖ wirkten ÖVP und Neos in den vorherigen Dreierverhandlungen wie ein wirtschaftspolitischer Block, während der Sozialdemokratie ihre traditionelle Rolle blieb: die Interessen all jener zu vertreten, die um ein leistbares Leben kämpfen müssen. Die Frage der gerechten Verteilung – also wer welchen Beitrag zur Sanierung Österreichs leisten soll – dürfte daher ein rotes Kernthema bleiben.
In den Bereichen Bildung und Integration gab es zwischen ÖVP, Neos und SPÖ weitgehende Übereinstimmung, auch beim Thema bezahlbares Wohnen zeichneten sich Kompromisse ab. Doch bei der Frage des Pensionsalters, einem zentralen Anliegen der Neos, war die Einigkeit schnell vorbei. Hier müsste sich die SPÖ bewegen – denn Österreich hält im EU-Vergleich den Spitzenplatz für den frühesten Pensionsantritt. Doch als reine Pensionisten-Partei hat die SPÖ keine Zukunft.
Man könnte es auch anders sehen: Österreichs Sozialdemokratie war immer dann erfolgreich, wenn sie pragmatisch aus der Mitte geführt wurde. Ein linksaußen positionierter Parteichef wie Babler ist in der aktuellen Lage – angesichts der Rezession, des Erstarkens der extremen Rechten und der politischen Sackgasse der letzten fünf Monate – der falsche Mann zur falschen Zeit.
Parteipolitische Profilierung und ideologische Reinheitsgebote, wie sie Babler verfolgt hat, müssen zurückstehen, wenn die Staatsräson ruft. Eine Brandmauer gegen die extreme Rechte errichtet man nicht mit linken Tribunen und Träumern, sondern mit machterfahrenen Pragmatikern – Menschen, die in der Lage sind, ihrer Partei und ihrer Gefolgschaft auch schmerzhafte Kompromisse abzuringen. Der Preis, den die SPÖ dafür zahlen wird, ist noch nicht kalkulierbar.