Bereits vor dem anstehenden BRICS-Gipfel im südafrikanischen Sandton vom 22. bis 24. August verkündete der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar, dass Indien Pläne für eine „BRICS-Währung“ nicht unterstütze – im Zentrum stehe für Indien vielmehr die Stärkung der eigenen Währung. Auch einer Erweiterung der BRICS steht Neu-Delhi kritisch gegenüber – wenngleich man bei diesem Punkt Kompromissbereitschaft signalisierte. Die ablehnende, beziehungsweise zurückhaltende Position gegenüber den beiden wichtigsten Punkten des anstehenden Gipfels verdeutlicht, dass die Reise Narendra Modis zwar schöne Bilder produzieren, daneben aber nur einen geringen Beitrag zur außenpolitischen Agenda Indiens leisten wird. Für das bevölkerungsreichste Land der Erde ist der Gipfel nur ein Nebenschauplatz, denn Indien hat größere Ambitionen, die den BRICS-Gipfel zu einem unter vielen werden lässt. 

Für Indien begann mit dem Konzept der Blockfreiheit zu Beginn der 1960er Jahre eine Politik der Nichtbeteiligung an Auseinandersetzungen in der bipolaren Welt. Das Land sollte so auf internationaler Ebene ein gewisses Maß an Unabhängigkeit bewahren. Diese Position ist bis heute präsent in der indischen Außenpolitik, wenngleich sie zunehmend geostrategischen und geoökonomischen Denkfiguren weicht, die eine gewisse Hinwendung zum Westen, einen möglichen Regionalkonflikt mit China sowie die wachsende globale Bedeutung Indiens im Zentrum tragen. Für Indien sind die BRICS in diesem Kontext lediglich ein Vehikel, um von Zeit zu Zeit alternative Formen der Global Governance oder Entwicklungsmodelle zu artikulieren. Der Anspruch auf einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN), den Brasilien, Südafrika und Russland unterstützen, ist ein Beispiel hierfür. Indiens Teilnahme an diesen nicht-westlichen multilateralen Foren muss deshalb konsequent als Antwort auf die Unterrepräsentation in den Bretton-Woods-Institutionen oder dem UN-System gesehen werden und keinesfalls als politische Festlegung.

Indiens langsame Loslösung von Russland ist unausweichlich.

Neu-Delhi mag immer noch belastbare Beziehungen zu Moskau unterhalten – seit dem russischen Angriffskrieg ist das Land beispielsweise Indiens größter Öl-Lieferant geworden – aber Indiens langsame Loslösung von Russland ist unausweichlich. Russland wird damit im Partnerspektrum Indiens zunehmend an Bedeutung verlieren. Sie fußt auf mehrerlei Erkenntnissen, hier vor allem aber jener, dass Russland zunehmend in ein direktes Abhängigkeitsverhältnis gegenüber China rutschen könnte und dass die indischen Ambitionen nicht im Kontext einer indisch-russischen Partnerschaft darstellbar sind. Der Grenzkonflikt zwischen China und Indien im Jahr 2020 hat dazu geführt, dass Indien China als eine existenzielle Herausforderung für die nationale Sicherheit ansieht. Für Indien markiert das eine eigene „Zeitenwende“ und stellt den Kern der indischen Sicherheitspolitik dar.

Gleichzeitig ermöglichen – ja, gar bedingen – die Abkühlung der indisch-russischen Beziehungen und der Konflikt mit China eine vorsichtige Hinwendung zum Westen. Diese Wendung, vor allem zu den USA, wird zunehmend deutlicher – das hat nicht zuletzt der sehr große rote Teppich in Washington eindrücklich bewiesen. Die strategischen Konvergenzen zwischen Indien und den USA sind auf einem Höchststand angekommen. Indien und die Vereinigten Staaten haben mit China einen klaren und gemeinsamen Gegner und befinden sich zunehmend in einem geopolitischen Nash-Gleichgewicht: Beide Länder wissen, dass der jeweils andere ihnen helfen kann, den jeweiligen Wettbewerb gegen Peking für sich zu entscheiden. Für die Vereinigten Staaten ist Indien eine zentrale Kraft, die nicht nur eine lange, umstrittene Landgrenze mit China teilt, sondern das Potenzial sowie – im gewissen Umfang – auch die Potenz hat, um China regional herauszufordern. Für Indien hingegen sind die Vereinigten Staaten eine Quelle für Hochtechnologien – unter anderem im Militärbereich –, stellen Investitionen, die das Land dringend benötigt, sowie sind als extraterritorialer Balance-Akteur im Indo-Pazifik. Dies findet im Rahmen des Quad Sicherheitsdialogs statt, dem Indien sich verschrieben hat. 

Indien und die Vereinigten Staaten haben mit China einen klaren und gemeinsamen Gegner.

Auch die Europäische Union ist ein wichtiger Partner Indiens: Partnerschaften in den Bereichen grüne Energieerzeugung, digitale öffentliche Infrastrukturen, widerstandsfähiger Wertschöpfungsketten, Künstlicher Intelligenz oder bei Forschungs- und Entwicklungsprojekten im Bereich Hochleistungsrechnen und Quanteninformatik sprechen eine eindrucksvolle Sprache. Indiens Bemühungen, seine wachsende Binnenwirtschaft und Mittelschicht zu nutzen, um den Aufstieg als globale Wirtschaftsmacht zu sichern und globales Produktionszentrum zu werden, kann nicht ohne ausländische Investitionen, Marktzugänge und die bessere Integration funktionieren. Ein mögliches Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU könnte hier wichtige Brücken schlagen. Die sich verstetigende Militärkooperation zwischen Indien und Frankreich und auch die Bereitschaft Deutschlands, U-Boote nach Indien zu liefern, sind zudem von zentraler Bedeutung für Neu-Delhi. Sie markieren eine signifikante Erweiterung der bisherigen bilateralen Beziehungen.

Am deutlichsten werden die indischen Ambitionen im Zuge des kommenden G20-Gipfels. Premierminister Narendra Modi und die indische Regierung positionieren sich als Sprachrohr des Globalen Südens und stellen die indischen Ambitionen eindrucksvoll ins Zentrum des anstehenden Gipfels. Modi beschrieb diese im Zuge seiner Ansprache zum Unabhängigkeitstag am 15. August wie folgt: „Und so ist dieses Indien unaufhaltsam, dieses Indien ist unermüdlich, dieses Indien keucht nicht und dieses Indien gibt nicht auf.“ Hervorgehoben wird immer wieder, dass Indien mit fast allen Ländern Handel treibe und mit nahezu allen Ländern gute Beziehungen unterhalte. Die Welt heute, so das offizielle Motto des indischen G20-Gipfels, ist eine, die durch ein komplexes Netz von Verbindungen in den Bereichen Handel, Technologie, Migration sowie über das Internet Menschen wie nie zuvor zusammenbringt. Sie solle dabei aber auch eine Welt sein, die im Streben nach einem gerechten und ausgewogenen Wachstum für alle Menschen in der Welt zusammenkommt. Indien habe die „Stimme des globalen Südens“ erhoben, um diese Themen in den Vordergrund zu rücken. Die jüngsten Erfahrungen in der Pandemie, aber auch mit Energie und Ernährungssicherheit haben die Fragilität der globalen Systeme deutlich gemacht. Indien hat dabei die eigene Rolle klar beschrieben: eine Führungsrolle in der Welt – das unaufhaltsame Indien des Premierministers.

Premierminister Narendra Modi und die indische Regierung positionieren sich als Sprachrohr des Globalen Südens.

Das bevölkerungsreichste Land der Erde beansprucht zunehmend seinen Platz in der sich neu auslotenden globalen Ordnung. Indien versteht sich nicht nur als Stimme des Südens, mit globaler Sichtbarkeit in Afrika, dem Pazifik oder der Karibik, als kommende wirtschaftliche Großmacht („Zehn-Billionen-Dollar-Ökonomie“), sondern auch als zentraler Akteur in einer multipolaren Welt und einem klaren Anspruch, in allen globalen Institutionen entsprechend repräsentiert zu sein – vom UN-Sicherheitsrat bis hin zu nicht-westlichen Bündnissen wie BRICS. Es agiert nicht blockfrei, sondern multi-vektoral, basierend auf klaren Zielen: der Erhalt der regelbasierten Ordnung, von der man so lange profitiert hat und immer noch profitiert, der angemessenen Repräsentation in ihren Institutionen, die Vermeidung eines Konflikts zwischen Großmächten sowie dem innerstaatlichen Wachstumsimperativ und die Durchsetzung nationaler Interessen. Indien befindet sich in zunehmender strategischer Konvergenz mit dem Westen und im Konflikt mit China. Dabei befindet sich Indien ähnlich wie Deutschland in einer ökonomischen Abhängigkeit zu China und sieht sich ähnlichen Herausforderungen gegenüber. In The Indian Way beschreibt der vorgenannte indische Außenminister sein Land zunehmend als Influencer – und nicht mehr als influenced. Diesen Einfluss wird Indien in sämtlichen internationalen Foren geltend machen. Auch wenn der jeweilige Rahmen hierfür manchmal nicht ausreicht. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass die BRICS als Forum ausgedient haben. Auch weiterhin wird Indien diesen Rahmen nutzen, um die eigenen Themen und die eigene Agenda in einem nicht-westlichen Rahmen anzustoßen und voranzutreiben. Doch für Indien sind die BRICS eben nur noch ein Schauplatz unter vielen: der indische Doppelvorsitz (neben der BRICS steht Indien 2023 auch der Shanghai Cooperation Organization vor) wurde für aktive indische Interessenspolitik genutzt und so ist der BRICS-Gipfel auch nur noch ein Gipfel unter vielen. 

In Deutschland und Europa sollte man die indischen Ambitionen wahrnehmen, respektieren und unterstützen. Denn: Um den regelbasierten Multilateralismus zu erhalten, brauchen wir Indien als strategischen Partner. Die Zeichen hierfür stehen derzeit gut.