Im Juli 2024 sorgte Premierminister Narendra Modis Umarmung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin während seines Moskau-Besuchs für ein Bild, das schnell um die Welt zog und im Westen Kritik auslöste. Im folgenden August setzte Modi noch einen drauf, als er eine herzliche Umarmung mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj austauschte und während ihres gemeinsamen Besuchs an einem Denkmal für im Krieg getötete Kinder die Hand auf seine Schulter legte. In dieser Symbolik wird die pragmatische, strategische Ausrichtung Neu-Delhis, die Dialog mit allen Seiten ermöglichen soll, sichtbar. Dieser Ansatz scheint Indien für eine Vermittlerrolle im Krieg in der Ukraine zu prädestinieren. Auch internationale Beobachter und Medien bringen Indien immer wieder als möglichen Mediator ins Spiel. Dabei sollten gute indische Beziehungen zu allen Konfliktparteien und freundschaftliche Symbolik nicht darüber hinwegtäuschen, dass Indien in erster Linie eigene Interessen verfolgt und derzeit keine Mediation internationaler Konflikte anstrebt.

Historisch gesehen erlaubte Indiens blockfreie Haltung während des Kalten Krieges, neutral in Konflikten zwischen dem Westen und der damaligen Sowjetunion zu bleiben. Die indische Außenpolitik hat sich in der letzten Dekade ab 2014 verändert und ist von dieser strikt blockfreien Haltung („non-alignment“) zu einem multi- oder all-alignment Ansatz übergegangen. Diese Neujustierung reflektiert einerseits wachsende indische Ambitionen auf der globalen Bühne, wo das Land sich bemüht, als „vishwamitra“ (Freund aller) wahrgenommen zu werden. Andererseits soll sie aber auch ermöglichen, die strategische Autonomie Indiens zu wahren. Neu-Delhi beansprucht seinen Platz in der sich neu auslotenden globalen Ordnung und versteht sich, nicht nur während des G20-Gipfels im eigenen Land im vergangenen Jahr, als die „Stimme des Südens“.

Modis direkte Gespräche mit Putin und dem Selenskyj unterstreichen die Bereitschaft Indiens, zu einer Lösung beizutragen.

Die indische Regierung will das Land zu einer wirtschaftlichen Großmacht machen – von der fünftgrößten Volkswirtschaft zur Industrienation Viksit Bharat 2047, 100 Jahre nach der Unabhängigkeit. Gleichzeitig sieht sich Indien als zentraler Akteur in einer multipolaren Welt, mit dem klaren Anspruch, in allen globalen Institutionen entsprechend repräsentiert zu sein – vom UN-Sicherheitsrat bis hin zu nichtwestlichen Bündnissen wie den BRICS+. Den neuen geopolitischen und geoökonomischen Realitäten geschuldet, hat Indien die Beziehungen zu westlichen Ländern – insbesondere den USA und der Europäischen Union – stark ausgebaut, ohne dabei jedoch seine historischen Verbindungen zu Russland aufzugeben.

Richtig ist: Indien hat sich konsequent für Dialog und friedliche Lösungen eingesetzt. Narendra Modis direkte Gespräche mit Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj unterstreichen die Bereitschaft Indiens, zu einer Lösung beizutragen. Während seines Besuchs in Berlin im September 2024 führte der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar in vier Punkten aus, wie das aussehen könnte. Erstens: Dies ist nicht das Zeitalter des Krieges. Zweitens: Es gibt keine Lösungen auf dem Schlachtfeld. Drittens: Russland muss am Verhandlungstisch sitzen. Viertens: Indien ist besorgt und engagiert, um eine Lösung für den Konflikt zu finden.

Indien ist vorsichtig, wenn es darum geht, eine formelle Vermittlerrolle zu übernehmen, die eine eigene Vision für den Friedensprozess beinhalten müsste.

Trotz dieser diplomatischen Deutlichkeit ist Indien vorsichtig, wenn es darum geht, eine formelle Vermittlerrolle zu übernehmen, die eine eigene Vision für den Friedensprozess beinhalten müsste. Dies hat prinzipiell zwei Gründe: Zum einen befindet sich die internationale Ordnung in einer Phase des Übergangs, in der sich zwei Matchpole – die USA und China – herauskristallisieren. Wenngleich der Erhalt der regelbasierten Ordnung und die Vermeidung einer G2-Welt oder des Konflikts zwischen Großmächten Kerninteressen Indiens darstellen, bleiben die angespannten Beziehungen zu China das Hauptprisma, durch jenes Neu-Delhi jede außenpolitische Entscheidung im Hier und Jetzt abwägt: Der Grenzkonflikt im Jahr 2020 hat dazu geführt, dass Indien China als eine existenzielle Herausforderung für die nationale Sicherheit ansieht. Für Indien markiert das eine eigene „Zeitenwende“ und stellt den Kern der eigenen Sicherheitspolitik dar. Indiens historische Verbindungen zu Russland dienen auch der Verhinderung dessen, dass Moskau weiter Teil des wachsenden Einflussbereichs Chinas wird und sich so die strategische Balance zwischen China und Indien ungünstig verschieben könnte. Russland liefert bis heute circa 60 Prozent des militärischen Arsenals Indiens – wenngleich man versucht, sich hier diverser aufzustellen. Angesichts der westlichen Sanktionen gegen Russland ist Moskau zudem der Hauptlieferant von Erdöl geworden, was die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern weiter festigt.

Obwohl Indien sich in bestimmten Fragen deutlich enger mit dem Westen abgestimmt hat, bleibt es vorsichtig, in Konflikte hineingezogen zu werden, die Implikationen für die nationalen Interessen haben könnten. Im Fall der Ukraine hat sich Indien wiederholt geweigert, Russlands Handlungen öffentlich zu verurteilen oder eine Position zu beziehen, die seine Beziehungen zu Moskau gefährden könnte. Der indische Außenminister spitzte diese zu und meinte: „Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt sind.“

Wenngleich sich die indische Position heute nuancierter darstellt, ist dieser vorsichtige geopolitische Balanceakt – zwischen historischen Verbindungen zur damaligen Sowjetunion und damit dem heutigen Russland und der Ukraine sowie vorsichtiger Hinwendung gen Westen – typisch für Indiens Zielsetzung. Die beabsichtigt, gute Beziehungen zu allen wichtigen Mächten zu pflegen und gleichzeitig eigene Interessen zu verfolgen. Eine zu engagierte Vermittlerrolle Indiens könnte derzeit Russland entfremden – zumindest, solange Russland kein wirkliches Interesse an Verhandlungen hat. Ein Möglichkeitsfenster für indische Mediation würde sich demnach erst dann öffnen, wenn Russland ein nachhaltiges Interesse an einer Verhandlungslösung entwickelt oder die relative Bedeutung Russlands für Indien abgenommen hat.

Realistischer ist es, dass sich Indien auch weiterhin als wichtiger Übermittler von Botschaften zwischen Russland und der Ukraine zeigt.

Indiens Zurückhaltung, eine Vermittlerrolle in der Ukraine zu übernehmen, liegt zum anderen auch daran, dass eine Vermittlung nicht nur eine gewisse Unparteilichkeit erfordert. Sie erfordert auch die Bereitschaft, erhebliche politische und diplomatische Ressourcen in die Lösung eines Konflikts – und damit auch in die Erstellung eines Friedensplans – zu investieren. Dies ist etwas, das Indien angesichts seiner innenpolitischen Herausforderungen sowie der regionalen Sicherheitsbedenken gegenüber Chinas möglicherweise im Fall der Ukraine nicht bereit ist oder nicht vermag, zu tun. Angesichts der Tatsache, dass global weitere Konflikte lodern, stellt sich die Frage, wo die „Stimme des globalen Südens“ die limitierten außenpolitischen Ressourcen einsetzen möchte und wie sich das mit der interessenorientierten indischen Außenpolitik in Einklang bringen ließe. Realistischer ist es, dass sich Indien auch weiterhin als wichtiger Übermittler von Botschaften zwischen Russland und der Ukraine zeigt. Bisherige Vermittlung bei Diskussionen über Themen wie das Schwarzmeer-Getreideabkommen und die Sicherheit des Kernkraftwerks Saporischschja sind gute Beispiele dafür, wie Indien erfolgreich zum diplomatischen Prozess beigetragen hat, ohne eine offizielle Vermittlerrolle zu übernehmen.

Indiens wandelnde Außenpolitik hat dafür gesorgt, dass Neu-Delhi seine Rolle und Bedeutung stark ausbauen konnte. Die Mediation internationaler Konflikte bleibt jedoch weiterhin unwahrscheinlich. Die historischen Beziehungen zu Russland, die Bedeutung dieser Beziehungen im Umgang mit China, die strategische Autonomie Indiens und seine abwägende Herangehensweise an internationale Konflikte deuten darauf hin, dass das Land hierfür derzeit noch nicht bereit ist. Spannend bleibt die Betrachtung der indischen Position gegenüber der Ukraine im Kontext der Mitgliedschaft in BRICS+ oder Quad. In beiden Gruppen gibt es nur wenige Konvergenzen zwischen der indischen Position und jener der anderen Mitgliedsländer. Auch die indische Rolle im Rahmen einer internationalen Kontaktgruppe, wie vorgeschlagen vom SPD-Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, könnte in der Zukunft an Bedeutung gewinnen. Hier könnte Indien tatsächlich eine wichtige Rolle zukommen, da Neu-Delhi in einem solchen Szenario weder alleine politische und diplomatische Ressourcen mobilisieren müsste, noch – sofern der Zeitraum richtig gewählt ist – Gefahr läuft, Moskau in die Arme Chinas zu treiben.