Nur knapp konnte in der vergangenen Woche eine Verlängerung der seit April geltenden Waffenruhe im Jemen erreicht werden. Diese gilt jedoch vorerst nur bis Anfang Oktober. Für das fehlende Momentum eines möglichen Friedensprozesses sind lokale Machthaber und internationale Akteure gleichermaßen verantwortlich.
„Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“ – mit diesem oft den afghanischen Taliban zugeschriebenen Sprichwort ließe sich auch die aktuelle Verhandlungsstrategie der Huthi-Rebellen beschreiben. Seit 2014 kontrollieren sie die Hauptstadt Sanaa und – trotz massiver militärischer Gegenwehr insbesondere durch die seit 2015 involvierten Regionalmächte Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) – den Norden des Landes, in dem mehr als 70 Prozent der Bevölkerung leben. In den vergangenen sieben Jahren sind UN-Berichten zufolge mehr als 370 000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen des Krieges gestorben – Gefechte, Luftschläge und Blockaden haben die Lebensgrundlage von Millionen Jemenitinnen und Jemeniten zerstört und eine beispiellose humanitäre Krise ausgelöst.
An der militärischen Front zwischen den Rebellen und der international anerkannten Regierung in Aden herrscht nach besonders heftigen Gefechten zu Beginn des Jahres ein Patt, weshalb UN-geführte Verhandlungen über eine zumindest temporäre Waffenruhe an Fahrt aufnehmen und letztlich erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Auch die internationale Großwetterlage begünstigte Bemühungen um eine Deeskalation des Konflikts: Stabilität und eine gesteigerte Ölproduktion in den Nachbarstaaten könnten helfen, die weltweiten Energiepreise unter Kontrolle zu bringen. Die militärischen Fähigkeiten der Huthis, für den internationalen Rohstoffhandel und Lieferketten kritische Infrastruktur im Roten Meer und im Golf mit Drohnen und Raketen anzugreifen, stellte hier ein signifikantes Risiko dar. Da es jedoch nicht gelungen ist, die Rebellen zu entwaffnen, scheint kein Weg an einer Verhandlungslösung vorbeizuführen.
Die Waffenruhe bietet gerade für den US-Präsidenten Joe Biden und den saudischen Kronprinzen Mohammed Bin Salman (MBS) eine Plattform, das seit der Ermordung des saudischen Dissidenten Jamal Khashoggi im Herbst 2018 zerrüttete Verhältnis zu reparieren. Es ist kaum ein Zufall, dass die US-Regierung am Tag der Verlängerung milliardenschwere Rüstungslieferungen in den Golf ankündigte. Vom US-Außenministerium wurde Riad, das Biden im Wahlkampf 2020 noch zum „Paria“ machen wollte, als „Macht für politische Stabilität in der Golfregion“ gelobt. Was 2015 als Chance für den jungen saudischen Verteidigungsminister und derzeitigen Thronanwärter MBS begann, den saudischen – und persönlichen – Führungsanspruch in der Region zu untermauern, gilt sieben Jahre später als Desaster.
Auch die internationale Großwetterlage begünstigte Bemühungen um eine Deeskalation des Konflikts.
Vergleichbar mit den Abwägungen der USA mit Blick auf die Intervention in Afghanistan hat auch Riad nun die Wahl zwischen Pest und Cholera: Die Konfrontation mit den Huthis ist militärisch erfolglos, teuer (zeitweise zirkulierten Summen in Höhe von 1 Milliarde US-Dollar pro Woche) und riskant, da Raketen und Drohnen der Huthis jederzeit kritische Infrastruktur und damit auch das Vertrauen von aktuellen und potenziellen Investoren in Saudi-Arabien treffen können. Auch der Einfluss des Iran in der unmittelbaren Nachbarschaft ist durch den Konflikt sogar noch gewachsen.
Ja, demgegenüber stünden eine außenpolitische Blamage und Fragen über die Verlässlichkeit der Saudis, sollten sie ihren Verbündeten in Aden die militärische und mittelfristig sogar finanzielle Unterstützung entziehen. Ein erstes Anzeichen dafür, dass Riad bereits Schadensbegrenzung in diese Richtung betreibt, dürfte die Unterstützung für die Einrichtung eines Präsidialrats im April 2022 gewesen sein, der den glücklosen und einst von Saudi-Arabien protegierten Präsidenten Hadi ablöste. Dass Saudi-Arabien in den UN-Verhandlungen nicht als Konfliktpartei geführt wird und der eigene militärische Fußabdruck im Jemen marginal ist, erlaubt es Riad zudem, Konditionen und Zeitpunkt für ein Ende des eigenen Engagements ohne ein formales Abkommen mit den Huthis, das den Schutz abziehender Truppen garantieren müsste, selbst zu bestimmen.
In der Tat sind in den vergangenen Monaten einige der an den Waffenstillstand geknüpften Bedingungen umgesetzt worden, von der auch die lokale Bevölkerung profitieren soll. So berichtete Oxfam noch im März, dass der Preis für Treibstoff um 543 Prozent seit 2019 gestiegen sei und sich allein im ersten Quartal 2022 verdreifacht habe – tagelange Warteschlangen an Tankstellen waren kein Einzelfall. Durch die Lockerung der Blockade um die von den Huthis kontrollierte Hafenstadt Hodeïda konnten zwischen April und Ende Juli mehr als 720 000 Tonnen Erdöl anlanden – im gesamten Jahr 2021 waren es nur 470 000 Tonnen gewesen. Doch die Verteilung der zusätzlichen Einnahmen sorgt für neuen Streit. Zwar hatten sich die Huthis im Abkommen von Stockholm 2018 dazu verpflichtet, Gewinne an die Zentralbank abzuführen und so zu ermöglichen, dass Beschäftigte im öffentlichen Sektor ihre seit Jahren ausstehenden Gehaltszahlungen erhalten können. Dass dies bisher ausgeblieben ist, erhöht die Frustration auf Seiten der anderen Verhandlungspartner – auch wenn sich der UN-Gesandte Hans Grundberg optimistisch gibt, dass getreu dem Motto „Aller guten Dinge sind drei“ bald ein transparenter und wirksamer Mechanismus gefunden werden kann.
Mehr als 8 000 Passagiere konnten von der ebenfalls vereinbarten Wiederaufnahme des Flugverkehrs am Flughafen von Sanaa profitieren. Zudem hatte die Regierung auch zugesichert, dass Pässe, die von den Huthi-Rebellen ausgestellt worden waren, für Reisen von und nach Sanaa genutzt werden können. Dies hielt die Huthis jedoch nicht davon ab, beispielsweise Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft daran zu hindern, an internationalen Konferenzen teilzunehmen oder gleichzeitig die Bewegungsfreiheit von Frauen empfindlich einzuschränken.
Die Eskalationsdominanz liegt weiterhin auf Seiten der Huthis.
Der ausbleibende Fortschritt um die strategisch wichtig gelegene Stadt Taiz, immerhin die drittgrößte des Landes und seit 2016 unter Belagerung der Rebellen, stellt weiterhin den größten Stolperstein für eine politische Einigung dar. Die Huthis hatten zwar im März das Ende der Blockade als eine der Bedingungen für die Waffenruhe anerkannt, seitdem aber wenig Interesse daran gezeigt, diese auch wirklich umzusetzen. Wie der jemenitische Autor Ibrahim Jalal treffend festhielt, ist in den vergangenen Monaten eine absurde Situation entstanden, in der Tausende Jemenitinnen und Jemeniten zwar teure Flugtickets in Nachbarstaaten oder nach Sanaa kaufen können, für die 3 Millionen Einwohner der Provinz Taiz aber selbst kurze Busfahrten in weiter Ferne liegen.
Die international anerkannte Regierung, die EU und die USA haben die Huthis für ihre wortwörtliche Blockadehaltung kritisiert. Auf den Straßen von Taiz und Aden werden Stimmen laut, dass die Friedensdividende einseitig verteilt werde und Drohungen der Huthis, den Verhandlungstisch zu verlassen, nicht mit noch mehr Konzessionen belohnt werden sollten. Aufgrund ihrer eigenen Schwäche und Abhängigkeit von internationalen Gebern steckt die Regierung in Aden also in einem ähnlichen Dilemma wie die republikanische Regierung in Afghanistan nach dem Doha-Abkommen von 2020: Sie kann entweder an einem Waffenstillstand festhalten, von dem der Gegner deutlich stärker profitiert und der die eigene Legitimität auch in den Augen der Bevölkerung erodiert. Oder sie kann sich gegen den erklärten Willen ihrer finanziellen und militärischen Unterstützer wenden und auf verlorenem Posten kämpfen. Die Eskalationsdominanz liegt weiterhin auf Seiten der Huthis – ein echter Durchbruch in den Verhandlungen ist daher auch in dieser dritten Runde unwahrscheinlich.
Die Waffenruhe, das Ende der Luftschläge und die deutliche Abnahme der zivilen Opferzahlen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gewalt in vielen Teilen des Landes weiterhin auf der Tagesordnung steht. Mehr als 1 800 überwiegend von den Huthis verursachte Zwischenfälle wurden seit dem 2. April erfasst – mehr als 300 Menschen kamen bisher zu Tode. Gleichzeitig gibt es Berichte darüber, dass die Konfliktparteien die Feuerpause nutzen, um beispielsweise militärische Stellungen um die zuletzt heftig umkämpfte Stadt Marib auszubauen.
Unterhändler, Vermittler und Jemens internationale Partner müssen nun die Quadratur des Kreises schaffen, um den Waffenstillstand nicht zum Selbstzweck verkommen zu lassen – einerseits einen erneuten Waffengang verhindern, beispielsweise durch die Ausweitung bisheriger humanitärer Hilfe auf strukturbildende Maßnahmen, andererseits den Huthis echte Zugeständnisse über eine Feuerpause hinaus abringen, die auch die Lebenswirklichkeiten auf der „anderen Seite“ verbessern. Sonst droht ein mit dem Doha-Abkommen vergleichbarer Deal, ohne Erfolge im Friedensprozess, ohne Konzessionen mit Blick auf Menschen- und insbesondere Frauenrechte in den von ihnen kontrollierten Gebieten, und ohne eine gemeinsame Vision aller Jemenitinnen und Jemeniten, wo die Reise hingehen soll.