Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine steht auch die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr wieder in der Diskussion. War sie der Beginn eines Sündenfalls, eines naiven Umgangs mit Russland? Oder kann sie uns heute zeigen, wie der Weg zum Frieden aussehen sollte? Lässt sich mit der damals entwickelten Methode – mit der Anerkennung der Realitäten, die im Anschluss in kleinen Schritten verändert werden sollen – wieder eine friedliche Koexistenz mit Russland erreichen, wie dies zuletzt Hans Kundnani im IPG-Journal vorschlug?
Die Anerkennung der Realitäten durch Deutschland als Ausgangspunkt für einen Friedensprozess in der Ukraine zu fordern, hat einen großen Haken. Die Ostpolitik bedeutete, dass die Bundesrepublik aufhörte, die Grenzen infrage zu stellen, in denen die Deutschen nach 1945 lebten, also die Westgrenze Polens, und dass sie dazu bereit war, die DDR als Staat anzuerkennen. Welche Realität soll und kann Deutschland heute anerkennen? Damit kann nur die russisch-ukrainische Grenze gemeint sein. Deutschland solle also die Annexion der Krim und des Donbass anerkennen. Was die Ukraine dazu sagen würde, bleibt bei solchen Forderungen eine Leerstelle. Mit der Ostpolitik, die auf die Wahrung der Chance zur nationalen Einheit der Deutschen zielte, hat dies nichts zu tun. Stattdessen erinnert es an das „Konzert der Großmächte“ des 19. Jahrhunderts, in dem einige Staatslenker über das Schicksal von Völkern und Staaten entscheiden wollten. Willy Brandt hingegen orientierte sich am Recht auf nationale Selbstbestimmung.
Eine deutsch-russische Verständigung ohne Einschaltung der Ukraine widerspräche dem ostpolitischen Erbe.
Ein Beispiel: Ende 1969 bat Brandt die polnische Regierung um Verständnis dafür, dass angesichts der Machtverhältnisse der erste Vertrag mit der Sowjetunion ausgehandelt werden müsse und Polen erst an zweiter Stelle komme. Eine Politik über Polen hinweg war ihm ein Graus, wie er auch grundsätzlich nach seinen Erfahrungen im skandinavischen Exil die kleineren Staaten nicht als Verhandlungsmasse ansah. Eine deutsch-russische Verständigung ohne Einschaltung der Ukraine widerspräche dem ostpolitischen Erbe. Die Ukraine kann entscheiden, ob sie „die Realitäten anerkennen“ will oder nicht. Sie dazu zu zwingen, wäre nicht nur gegen den Geist der Brandt’schen Außenpolitik, sondern auch keine Basis für einen dauerhaften Frieden.
Und überhaupt das Erbe. Einer der meist zitierten Sätze von Brandt lautet: „Jede Zeit will eigene Antworten.“ Das war nicht nur eine Mahnung an seine Nachfolger, das galt auch für seine eigene Politik. In Westberlin war er eigenem Bekunden nach „Kalter Krieger“, um die Freiheit der Teilstadt zu verteidigen. Als sich später die Chance bot, nutzte er die Möglichkeiten zur Entspannung, aber ohne die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik zu schwächen.
Das war eine „realistische“ Politik, aber sie hatte auch eine transformative Absicht. Brandt und Bahr waren von der Überlegenheit, von der Attraktivität des westlichen Gesellschaftsmodells überzeugt. Sie wollten durch eine Vielzahl von Kontakten auf die Gesellschaften des Ostens einwirken, in der Erwartung, dass dort eine allmähliche Transformation stattfinden werde. Der „Wandel durch Annäherung“ – eine unglückliche, weil missverständliche Formulierung, die Brandt nie verwendete – sollte einzig im Osten stattfinden.
Heute auf die Ostpolitik der 1960er und 1970er Jahre zurückzugreifen, wäre nicht im Sinne von Willy Brandt.
Heute auf die Ostpolitik der 1960er und 1970er Jahre zurückzugreifen, wäre nicht im Sinne von Willy Brandt. Sie war ein zeitgebundenes, durchdachtes, konsistentes Projekt, mit dem aufeinander abgestimmt die Beziehungen zur Sowjetunion, zu Polen, zur DDR und zur Tschechoslowakei entspannt werden sollten. Dieses Projekt fand 1989/91 sein Ende, als sein Objekt, der Ostblock, verschwand. Stattdessen bedarf es heute gänzlich neuer Ansätze, die gegenüber Russland und Belarus anders ausfallen müssen als gegenüber Polen und dem Baltikum. Es bedarf einer Vielzahl von „Politiken“, eine „Ostpolitik“ aus einem Guss ginge an der Realität vorbei. Dass bei der Konzeptionierung dieser Politiken „kleine Schritte“ eine Option sein können, ist zutreffend, aber dieser Hinweis alleine hilft nicht viel weiter.
Auch sonst sind die Umstände nicht vergleichbar mit denen vor 50, 60 Jahren – eine Binsenweisheit, die aber doch kein Allgemeingut zu sein scheint. Damals kam das Angebot zur friedlichen Koexistenz aus Moskau. Brandt und Bahr gehörten – anders als die CDU/CSU – zu denen, die testen wollten, wie ernsthaft dies gemeint war. Die Sowjetunion bewegte sich in dieser Zeit im Innern und nach außen weg vom wahllosen Stalin’schen Terror hin zu einer regelbasierten Diktatur. Ein Rechtsstaat wurde sie dadurch nicht, aber sie wurde berechenbarer. Wladimir Putins Russland hat seit seinem Amtsantritt den genau gegenläufigen Weg eingeschlagen. In der Innen- wie in der Außenpolitik wurde Moskau immer willkürlicher, immer unberechenbarer. „Friedliche Koexistenz“ gehört nicht zum außenpolitischen Angebot Putins, er fordert Unterwerfung unter seine Hegemoniegelüste. Mit ihm kann man nicht verhandeln wie mit Leonid Breschnew, auch wenn beide Diktatoren sind beziehungsweise waren. Putin verfolgt ein aggressives, imperialistisches Programm und will die bestehenden Grenzen verändern, während der KPdSU-Chef vor über 50 Jahren die damaligen Grenzen des sowjetischen Einflussbereichs zementieren wollte. Das eine Programm bedeutete Frieden – wenn auch nach innen der Friedhofsruhe ähnelnd. Das andere Programm, das von Putin, bedeutet Krieg. Friedliche Koexistenz mit Russland kann es nur geben, wenn auch zwischen der Ukraine und Russland Frieden herrscht.
All das mindert überhaupt nicht den berechtigten Stolz der Sozialdemokratie auf den Mut, die Weitsicht und die Kreativität von Willy Brandt und Egon Bahr, mit der sie ab Mitte der 1960er Jahre zu Werke gegangen sind. Nur Geschichtsvergessene stellen heute noch in Abrede, dass dies eine Politik auf der Höhe der Zeit war. Kaum ein Politiker der Union, der nicht in Podiumsdiskussionen konzediert, dass CDU und CSU vor 50 Jahren falsch lagen, als sie die Ostpolitik bekämpften. Stolz auf Vergangenes darf aber nicht den Blick darauf verstellen, dass heute wieder ein neues Denken vonnöten ist.