Seit die Vereinigten Staaten die Weltbühne betreten haben, gab es im Wesentlichen eine weltpolitische Strategie: die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Mächte auf den wichtigsten Kontinenten. Im 20. Jahrhundert war das Europa, heute ist es Asien. Der Grund dafür: Die Vorherrschaft über einen Kontinent wie Europa oder Asien könnte es einer Hegemonialmacht ermöglichen, genügend Einfluss und Ressourcen zu akkumulieren, um die USA in Übersee herauszufordern. Deshalb griffen die USA immer dann ein, wenn eine Macht nach Hegemonie strebte, und stellten sich mit voller Kraft an die Seite jener, die sich diesem Anspruch widersetzten.

So intervenierten sie im Ersten Weltkrieg gegen das Deutsche Reich, im Zweiten Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland und im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion. Für den Erfolg dieser Strategie waren die USA als Seemacht auf Verbündete an Land angewiesen. Grundlage für das Schmieden dieser Allianzen war der amerikanische Umgang mit dem Souveränitätsprinzip und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Fast alle Imperien vor den USA zwangen kleine und mittlere Mächte zu Gehorsam. Die USA hingegen mussten sie nicht mit Gewalt für sich gewinnen, die anderen Staaten neigten ihr von Natur aus zu. Das historisch Einmalige war, dass die USA und ihr strategisches Interesse, keine Hegemonialmacht in Kontinentaleuropa und Asien zuzulassen, mit dem Souveränitätsprinzip der Klein- und Mittelmächte deckungsgleich war. Durch Washingtons eigene Macht, gepaart mit der vereinten Stärke verbündeter Nationen, besaß die USA die Fähigkeit, das Gleichgewicht der Mächte auf jedem wichtigen Kontinent zu lenken. Doch als die Sowjetunion implodierte und die USA keinen ebenbürtigen Gegner mehr hatten, geschah in Washington etwas Ungewöhnliches. Die traditionelle Gleichgewichtspolitik wurde aufgegeben oder zumindest anders interpretiert.

Wie viele Imperien vor ihnen standen die USA vor einem historischen Dilemma. Mit dem Zerfall der Sowjetunion lag Russland am Boden, während sich die ehemaligen Sowjetrepubliken zunehmend dem Westen zuwandten. Dies eröffnete die Möglichkeit, diese Staaten in das westliche Bündnis zu integrieren und damit die eigene Einflusssphäre zu sichern. Gleichzeitig bedeutete dies jedoch, sich die Feindschaft Russlands zuzuziehen – einer Großmacht, die trotz ihres Niedergangs immer noch erheblichen Einfluss besaß.

Wie viele Imperien vor ihnen standen die USA vor einem historischen Dilemma.

Die USA standen vor einer grundlegenden Entscheidung: Sollten sie dem Prinzip des Gleichgewichts folgen und Russland mäßigend begegnen, um die Beziehungen nicht zu gefährden? Oder sollten sie sich strikt am Souveränitätsprinzip orientieren und es den ehemaligen Ostblockstaaten ermöglichen, sich dem westlichen Bündnis anzuschließen?

Beide Optionen hatten ihre Tücken. Würde man auf das Souveränitätsprinzip setzen, riskierte man eine Belastung der Beziehungen zu Russland, könnte jedoch die eigene Einflusssphäre sichern und das Prinzip der Selbstbestimmung wahren. Würde man hingegen eine Politik der Mäßigung gegenüber Moskau wählen, bliebe das Verhältnis unbeschädigt, doch es entstünde eine geopolitische Lücke, die Russland für eine erneute Expansion nutzen könnte.

Die USA entschieden sich, kein Risiko einzugehen und möglichen revisionistischen Bestrebungen Russlands frühzeitig entgegenzuwirken. Sie integrierten die ehemaligen Ostblockstaaten in die NATO – eine Entscheidung, die das Verhältnis zu Russland zwangsläufig belasten musste. Doch erst mit der offenen Perspektive für die Ukraine, sich dem Westen anzuschließen, eskalierte die Situation endgültig. Jede Großmacht, die etwas auf sich hält – insbesondere Russland, das sich immer als Land mit einer besonderen Mission in der Welt verstanden hat –, hätte niemals zugelassen, dass ihr wichtigster Pufferstaat in ein Militärbündnis aufgenommen wird, in dem sie selbst nichts zu sagen hat.

Somit war die Politik, das Gleichgewicht herzustellen, letztlich gescheitert. Den USA war es nicht gelungen, das Souveränitätsprinzip der Einzelstaaten und das Gleichgewicht der Mächte in einer friedenssichernden Weise zu vereinen. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis eskalierte schließlich in einem Krieg.

Strategisch kam der Krieg für Washington zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Während China – der mächtigste Gegner in der US-Geschichte – massiv aufrüstet und sich auf den entscheidenden Moment vorbereitet, wird die amerikanische Regierung in einen Konflikt in Europa hineingezogen. Einem Kontinent, der aus strategischer Sicht heute weniger Bedeutung hat als Asien und auf dem es für die USA geopolitisch wenig zu gewinnen gibt. Das europäische Gleichgewicht hängt nicht von der Ukraine ab – und im weiteren Sinne nicht einmal von ganz Osteuropa. Nur wenn Moskau kurz davor stünde, Berlin zu erobern, wäre die europäische Stabilität ernsthaft in Gefahr. Erst dann wäre es für die USA strategisch sinnvoll, mit aller Macht einzugreifen.

Die Ukraine war nie ein solcher Fall. Aus rein geopolitischer Perspektive wäre es für Washington am vernünftigsten gewesen, Russland vor dem Krieg eine neutrale Ukraine zu garantieren und sich stattdessen auf Asien zu konzentrieren. Sicherlich hätte dies den Zorn vieler osteuropäischer Staaten hervorgerufen, doch dieser wäre geopolitisch verkraftbar gewesen. Stattdessen geschah das Gegenteil: Trump vollzieht nun eine radikale Kehrtwende, weil er erkennt, dass dieser Krieg nicht den strategischen Interessen der USA dient. Er versucht, die Situation zu retten, indem er Moskau große Zugeständnisse in Aussicht stellt – ohne sicher zu sein, dass der Kreml tatsächlich zu einem Friedensabkommen bereit ist.

Trump vollzieht nun eine radikale Kehrtwende, weil er erkennt, dass dieser Krieg nicht den strategischen Interessen der USA dient.

Doch Vorleistungen ohne Gegenleistung haben sich historisch selten ausgezahlt. Die unmittelbaren Konsequenzen sind bereits spürbar: Die Europäer sind durch Trumps Vorgehen in beispielloser Aufregung, das transatlantische Vertrauen ist erschüttert. Für die USA wird es dadurch weitaus schwieriger, Europa als Gegengewicht zu China zu mobilisieren – zumindest ohne massiven politischen Druck. Darüber hinaus hat Trump mit seiner Politik in Deutschland ein militärisches Erwachen ausgelöst, dessen langfristige Folgen erst in Jahrzehnten vollständig abzusehen sein werden.

Am Zug ist nun Wladimir Putin, der eine Vielzahl komplexer Faktoren berücksichtigen muss. Selbst wenn er einen Frieden mit der Ukraine schließt, bleiben seine Beziehungen zu Europa tief zerrüttet – und es ist fraglich, ob sie sich in den kommenden Jahren wieder normalisieren werden. An dieser Front gibt es für ihn also wenig zu gewinnen. Putin mag auf Trumps Angebot einer neutralen Ukraine eingehen, doch stellt sich die Frage, ob ein Friedensschluss für Russland überhaupt sinnvoll ist, wenn es militärisch bereits auf der Siegerstraße ist. Was wäre der Preis für die vielen toten russischen Soldaten, die hohe Inflation, den Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen zum Westen und den Verlust des Technologietransfers? Ein solcher Preis wäre enorm, wenn am Ende lediglich die Neutralität der Ukraine erreicht würde, während alle anderen Verluste bestehen blieben.

Natürlich bleibt Putin die Option, einem Waffenstillstand zuzustimmen, sich noch stärker an China zu binden und auf die nächstbeste Gelegenheit zu warten, um den Krieg in der Ukraine fortzusetzen. Doch damit würde er sich langfristig eine entscheidende strategische Möglichkeit nehmen: die USA und China gegeneinander auszuspielen und eines Tages vielleicht doch wieder eine Annäherung an Europa zu erreichen.

Schon jetzt sorgt Putin für eine beispiellose Aufrüstung in Europa und auch die Türkei wird einer weiteren Expansion Russlands am Schwarzen Meer und in Zentralasien nicht tatenlos zusehen. Selten zuvor waren Russlands Nachbarn so entschlossen, Moskau in Schach zu halten, wie es heute der Fall ist.

Alles in allem zählt dieser Konflikt zu den strategisch sinnlosesten Kriegen in der Geschichte der USA. Hätten sie eine europäische Sicherheitsarchitektur geschaffen, die Russland integriert und intern ausbalanciert, wäre es womöglich gar nicht erst zu diesem Krieg gekommen – und Washington hätte sich uneingeschränkt auf die Herausforderung in Asien konzentrieren können. Dass es so weit gekommen ist, liegt maßgeblich an der mangelnden Staatskunst Washingtons und seiner Verbündeten in Europa. Es fehlte die Weisheit, das Prinzip des Gleichgewichts zu verstehen und entsprechend den Kräfteverhältnissen zu kalibrieren, um so letztlich den Frieden zu sichern.