Der militärische Siegeszug der Taliban in Afghanistan und der vollständige Abzug aller US-Truppen aus dem Land haben eine neue Debatte über Sinn und Unsinn westlicher Militärinterventionen ausgelöst. Unter dem Eindruck der überraschend schnellen Implosion der afghanischen Regierung und der chaotischen Evakuierung westlicher Botschaften sprechen Beobachter von einem vollständigen Scheitern des Afghanistan-Einsatzes, gar von einer historischen Zäsur globalen Ausmaßes und dem Versagen der liberalen Weltordnung. Insbesondere die USA, so das Argument, seien mit der hehren Mission gescheitert, Afghanistan zu demokratisieren, Frauenrechte durchzusetzen und die liberale Idee in jeden Winkel der Welt hinauszutragen.

Die Vehemenz der Kritik, die nicht nur den Afghanistan-Einsatz, sondern mit ihm gleich die von den USA geführte Weltordnung – neuerdings regelbasierte, liberale Ordnung genannt – für gescheitert erklärt, ist wenig überraschend. Sie basiert auf der Annahme, dass der militärische Sturz der Taliban im Jahre 2001 und das anschließende Nation Building in den Jahren danach Teil eines liberalen Weltprojekts der USA und insbesondere der Präsidentschaft George W. Bushs waren. Doch so kritisch der Afghanistan-Einsatz auch gesehen werden muss, gerade vor dem Hintergrund von mindestens 46 000 zivilen Opfern im Land: Die weitverbreitete Idee, Afghanistan sei ein „Experimentierfeld“ für den von den USA intendierten Export von Demokratie gewesen, ist nichts weiter als ein Mythos.

Wie ich in meinem kürzlich erschienenen Buch The Origins of Overthrow zeige, werden in der Diskussion um die Motive US-amerikanischer Regimewechsel-Interventionen (regime change) zwei wesentliche Sachverhalte gänzlich verkannt. Erstens wird die Rolle des liberalen Impetus für militärische Interventionen überhöht. Andere Beweggründe, deren Bedeutung zu untersuchen wäre, treten so in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund. Gerade angesichts ausbleibender Stabilität und Demokratisierung im Zielland – Afghanistan ist hier ein tragisches, aber nicht das einzige Beispiel für den unbefriedigenden Ausgang von US-Regimewechsel-Interventionen – bleibt die Frage ungeklärt, warum die USA trotzdem immer wieder zu diesem gewaltsamen Instrument der Außenpolitik gegriffen haben. Zwischen 1906 und 2011 sage und schreibe sechzehn Mal, und damit öfter als jeder andere Staat der Welt.

Die weitverbreitete Idee, Afghanistan sei ein „Experimentierfeld“ für den von den USA intendierten Export von Demokratie gewesen, ist nichts weiter als ein Mythos.

Die Ursprünge US-amerikanischer Regimewechsel-Interventionen lassen sich besser verstehen, wenn wir die emotionale Lage des jeweiligen US-Präsidenten unter die Lupe nehmen. Im Gegensatz zu Deutschland besitzen die USA einen ausgeprägten nationalen Sicherheitsapparat, der die Formulierung und Implementierung von Außenpolitik zu einem bürokratisch anmutenden Routineprozess macht. Der US-Kongress spielt in der Außenpolitik schon allein aufgrund des in der US-amerikanischen Verfassung verbrieften Rechts, anderen Staaten den Krieg zu erklären, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zusätzlich kann die öffentliche Meinung außenpolitischen Druck auf die US-Regierung erzeugen. Trotz dieser Faktoren ist der Präsident im US-System der wichtigste Akteur der Außenpolitik. Dies hat nicht zuletzt Joe Bidens Afghanistan-Abzug trotz der gegenteiligen Meinung des Pentagons und anderer Berater eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Im Zuge ihrer Amtszeit erleben US-Präsidenten Frustration am laufenden Band. Gerade in der internationalen Politik, wo Erwartungen meist unerfüllt bleiben, Interessen selten gänzlich durchgesetzt werden können und selbst mächtige Staaten sich mit dem Widerstand anderer Staaten abfinden müssen, ist Enttäuschung eine Routineerscheinung. Doch wird diese Frustration emotional, können gravierende Konsequenzen entstehen. Dies geschieht, wenn US-Präsidenten hegemoniale Erwartungen an Zielländer gerichtet haben und den Widerstand des Ziellandes nicht als eine rationale Verfolgung nationaler Interessen des Gegenübers, sondern als Ausdruck eines unumkehrbaren Anti-Amerikanismus wahrnehmen.

Im Zuge ihrer Amtszeit erleben US-Präsidenten Frustration am laufenden Band.

Emotionale Frustration ist ein negativer Gefühlszustand, der den darauffolgenden außenpolitischen Entscheidungsprozess entscheidend färbt und einen Impuls zur gewaltsamen Reaktion erzeugt. Emotional frustrierte US-Präsidenten fragen sich, wie die USA mit einer hasserfüllten anti-amerikanischen Führung in einem als bedeutend eingestuften Zielland dauerhaft koexistieren können. Gerade für den Oberbefehlshaber des mächtigsten Militärs der Welt macht dieser durch emotionale Prozesse ausgelöste Pessimismus militärisch herbeigeführte Regimewechsel attraktiv.

Es ist wenig überraschend, dass der 11. September in der Bush-Regierung den Eindruck einer besonders von Hass getriebenen anti-amerikanischen Bedrohung in Gestalt von Al-Qaida erzeugte. Öffentliche und private Einlassungen George W. Bushs belegen diese Überzeugung des damaligen Präsidenten. Überraschender ist die Tatsache, dass sich diese Wahrnehmung auf andere Staaten übertrug. So unterstellte Bush dem irakischen Diktator Saddam Hussein, die USA zu hassen und von Anti-Amerikanismus getrieben zu sein. Die Ausweitung des war on terror mit dem Sturz des irakischen Regimes war die logische Folge.

Der 11. September hatte eine weitere Konsequenz: Nur einige Tage nach den Anschlägen wandelte sich Bushs zurückhaltende Außenpolitik in eine Richtung, die explizit hegemoniale Erwartungen an alle Staaten der Welt richtete. Die sogenannte Bush-Doktrin erklärte jeden Staat, der die USA im Kampf gegen den globalen Terrorismus nicht unterstützen würde, zum potenziellen Feind. Sowohl die Taliban als auch Saddam Hussein wurden so zur Zielscheibe der Bush-Regierung, als diese Erwartungen missachtet wurden. Die Rhetorik des Demokratieexports hingegen gewann erst dann die Oberhand in öffentlichen Verlautbarungen, als andere Gründe nicht mehr glaubhaft waren, im Falle Iraks die vermeintlichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins.

Bush unterstellte dem irakischen Diktator Saddam Hussein, die USA zu hassen und von Anti-Amerikanismus getrieben zu sein.

Damit eng verbunden ist ein zweiter Punkt, der in Debatten um US-amerikanische Regimewechsel-Interventionen verkannt wird: Der Unterschied zwischen dem militärischen Sturz eines Regimes und nation building (besser: state building), also dem Aufbau eines neuen Regimes im Zielland. Regimewechsel-Interventionen bestehen grundsätzlich aus diesen zwei aufeinander folgenden Phasen. Doch dass nation building, also die Phase nach dem gewaltsamen Sturz des alten Regimes, das eigentliche Ziel militärischer Interventionen darstellt, sollte nicht vorausgesetzt werden. Gerade Afghanistan zeigt uns, dass die USA sich mehr für den Sturz der Taliban interessierten als für den Aufbau einer stabilen Demokratie im Land.

Der ehemalige US-Botschafter John Kornblum argumentiert sogar, dass erst die westlichen Alliierten der USA, allen voran Deutschland, den Afghanistan-Einsatz zu einem Nation-Building-Einsatz machten und ihm so den Charakter gaben, für den er gemeinhin bekannt ist. Auch im Falle Iraks, dem vermeintlichen Paradebeispiel des gewaltsamen Demokratieexports, zeigt eine eingehendere Analyse, dass die von Saddam Hussein ausgelöste Frustration ausschlaggebender war als der US-amerikanische Wunsch der Demokratisierung Iraks, was nicht zuletzt die fehlende Vorbereitung für die Phase nach dem Sturz des irakischen Regimes erklärt.

Was bedeutet das für die Zukunft amerikanischer Regimewechsel-Interventionen? Solange US-Präsidenten ihre hegemonialen Erwartungen einhegen, wird dem Aufkommen emotionaler Frustration das Potenzial genommen. Durch die enge Definition nationaler Interessen, die Ländern wie Afghanistan wenig Bedeutung einräumt und stattdessen den Fokus auf globale Großmächte, allen voran China, lenkt, setzt Joe Biden einen Trend fort, den Barack Obama begann und Donald Trump intensivierte. Regimewechsel-Interventionen werden somit unwahrscheinlicher.

Die Geschichte US-amerikanischer Außenpolitik lehrt uns allerdings, dass interventionsintensivere Zyklen wiederkommen können. Doch auch, wenn sich die Abkehr von Regimewechsel-Interventionen fortsetzen sollte, ist dies mitnichten mit einer friedlichen Außenpolitik der USA gleichzusetzen. Militärische Invasionen sind gewiss nicht das einzige gewaltsame Instrument im Arsenal amerikanischer Außenpolitik.