Unübersehbar neigt sich die Pax Americana dem Ende zu. China und Russland drängen auf eine Neuordnung der Welt. Die Vereinigten Staaten haben weder die Macht, noch den Willen, die unipolare Ordnung zu garantieren, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet hatte. Nach der Demütigung des Westens in Afghanistan haben die Präsidenten Biden und Macron das Zeitalter der humanitären Interventionen für beendet erklärt. Trotz allen Geredes von Systemrivalität wird sich zeigen, was der Westen noch bereit ist, für die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten zu riskieren. Wer wird nun die Schutzverantwortung mit militärischen Mitteln durchsetzen? Wer wird jahrzehntelang die Ressourcen für Peace- und Nation-Building bereitstellen? Die globalisierungsmüden Amerikaner engagieren sich eher in Handelskriegen als für den Freihandel. Für die Exportnation Deutschland kann die Erosion der liberalen Weltordnung dramatische Konsequenzen haben.

Aus dem Ende der liberalen Ordnung der letzten 30 Jahre folgt allerdings noch lange nicht das Ende der regelbasierten multilateralen Nachkriegsordnung. Denn die Kooperation zwischen Systemrivalen im Rahmen vereinbarter Spielregeln hat selbst zu den Hochzeiten des Kalten Krieges funktioniert. Wie damals die Sowjetunion schließt heute auch Russland Rüstungskontrollabkommen ab, hat auch China ein vitales Interesse an einer offenen Handelsordnung. Gut vorstellbar also, dass die großen Mächte auch in Zukunft multilateral zusammenarbeiten, um Konflikte einzuhegen, Migrationsströme zu lenken oder Terror und Klimawandel gemeinsam zu bekämpfen. Das setzt allerdings voraus, dass der Hegemoniekonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China nicht gewaltsam eskaliert. Auch heute wieder könnten die rivalisierenden Großmächte in einen Weltkrieg schlafwandeln. Die Lunten für einen Weltenbrand liegen in der Straße von Taiwan oder in der Ostukraine.

Für die Exportnation Deutschland kann die Erosion der liberalen Weltordnung dramatische Konsequenzen haben.

Daher mehren sich in Peking und Moskau und neuerdings sogar in Washington die Befürworter eines neuen Mächtekonzerts, das den Weltfrieden um den Preis der Nichteinmischung in die exklusiven Einflusszonen der Rivalen garantiert. Angestrebt wird eine westfälische Weltordnung, welche die Souveränität der Staaten zulasten der universellen Werte betont. Ist der Preis des Friedens tatsächlich der Verzicht auf Demokratie und Menschenrechte? Wie verträgt sich das mit den deutschen Vorstellungen einer wertebasierten Außenpolitik, die weltweit Freiheit, Demokratie und Menschenrechte verteidigen will?

Aber selbst, wenn es gelingt, gewaltsame Zusammenstöße zu verhindern, stehen die Zeichen in Washington und Peking in Richtung einer Wiederauflage des Kalten Krieges. Deutschland wird entscheiden müssen, welchen politischen Preis es für den Zugang zum chinesischen Markt zu zahlen bereit ist. Auf der anderen Seite geben die Auseinandersetzungen um die Beteiligung Huaweis an der 5G-Kommunikationsinfrastruktur und die deutsch-russische Nordstream 2-Pipeline einen Vorgeschmack darauf, wie Washington seine Verbündeten dazu bringen will, sich von China und Russland zu entkoppeln.

Es mehren sich die Befürworter eines neuen Mächtekonzerts, das den Weltfrieden um den Preis der Nichteinmischung in die exklusiven Einflusszonen der Rivalen garantiert.

Ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende werden die USA ihre Sicherheitsgarantien für Europa nur erneuern, wenn die Europäer im Gegenzug mehr Verantwortung übernehmen. Aus der Perspektive Washingtons sind zwei Modelle der transatlantischen Arbeitsteilung vorstellbar: Entweder die Europäer beteiligen sich an der Einhegung Chinas im Indo-Pazifik – denkbar ist die Gründung einer „Globalen NATO“, die sich insbesondere die Wahrung des Status quo in der Taiwanstraße auf die Fahnen schreibt. Oder die Europäer entlasten die USA, indem sie die Verantwortung für die europäische Nachbarschaft vom Baltikum über den Nahen Osten bis in die Sahelzone übernehmen. Um diese Herkulesaufgabe stemmen zu können, müssten die Europäer allerdings militärische, entwicklungspolitische und diplomatische Kapazitäten in einer Größenordnung aufbauen, welche die von der neuen deutschen Regierung angestrebten jährlichen Investitionen von 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes deutlich übersteigen dürften.

Wie wird sich die neue Bundesregierung inmitten dieser tektonischen Plattenverschiebungen positionieren? Hier lohnt sich ein Blick auf die Kräfteverhältnisse zwischen den Denkschulen, die unter dem Banner der Ampel zusammenkommen sollen.

Nach den finsteren Trump-Jahren setzen die Transatlantiker alles daran, das westliche Bündnis zu erneuern. Rufen der Amerikaner nach einem robusteren Auftreten gegenüber China wird beispielsweise durch die Entsendung einer Fregatte ins südchinesische Meer Folge geleistet. Um die europäische Verwundbarkeit gegenüber chinesischen und russischen Aggressionen zu vermindern, sollen Verteidigungsbereitschaft und wirtschaftliche Resilienz gestärkt werden. Ungeklärt ist, wie der dafür notwendige Kapazitätsaufbau einer interventionsmüden Bevölkerung vermittelt werden soll.

Ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende werden die USA ihre Sicherheitsgarantien für Europa nur erneuern, wenn die Europäer im Gegenzug mehr Verantwortung übernehmen.

Schützenhilfe erhalten die Transatlantiker von den Menschenrechtlern. Diese Denkschule ist alarmiert über die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und will dem Prinzip „Ein Land – zwei Systeme“ in Hong Kong wieder Geltung verschaffen. In der Zusammenarbeit Pekings mit autoritären Regimen sehen die Menschenrechtler eine Gefahr für Demokratie und Menschenrechte rund um den Globus. Diesen Bestrebungen des Systemrivalen gelte es robust entgegenzutreten. Eine Feminist Foreign Policy soll weltweit Frauenrechte und Diversität fördern. Wie das gelingen kann, wenn der bisherige Hegemon die liberale Ordnung nicht länger garantieren will, bleibt allerdings offen.

Vor demselben Problem stehen auch die Multilateralisten, die sich von einer regelbasierten Weltordnung Wohlstand, Frieden und globale Gerechtigkeit erhoffen. Den Blockaden und Unterwanderungsversuchen autoritärer Mächte setzen sie eine Liberalisierungsstrategie entgegen, die Global Governance durch die Einbindung der Zivilgesellschaften sozial- und klimagerecht weiterentwickeln will. Der Versuch Trumps, die Axt an das multilaterale System zu legen, sollte durch eine Allianz der Multilateralisten aufgefangen werden. Allerdings weisen die asiatischen Wunschpartner, die sich keinesfalls zwischen Washington und Peking entscheiden wollen, bislang alles zurück, was den Namen Allianz trägt.

Die immer enger werdenden Spielräume auf dem chinesischen Markt haben in Teilen der deutschen Industrie zum Umdenken geführt, die sich nun um die Verminderung einseitiger Abhängigkeiten durch Diversifizierung bemüht.

Unter Druck geraten sind auch die Freihändler, deren Hoffnungen auf „Wandel durch Handel“ durch die autoritären Entwicklungen in China widerlegt scheinen. Die immer enger werdenden Spielräume auf dem chinesischen Markt haben daher zum Umdenken in Teilen der deutschen Industrie geführt, die sich nun um die Verminderung einseitiger Abhängigkeiten durch Diversifizierung bemüht. Zunehmend besorgt über die Globalisierungsmüdigkeit der Bevölkerung lassen die Freihändler nicht nach, die Bedeutung offener Märkte für die Wohlstandssicherung in Deutschland zu betonen. Wie der Freihandel jedoch gegen die weltweiten protektionistischen Tendenzen verteidigt werden kann, ist unklar.

Die Friedenspolitiker sind alarmiert von militärischen Muskelspielen und fordern die Wiederbelebung internationaler Abrüstungsinitiativen und Nichtverbreitungsregime. Langfristig ist ihr Ziel eine atomwaffenfreie Welt (Global Zero). Die Friedenspolitiker erkennen die Kriegsgefahr, die von dem Hegemoniekonflikt zwischen den USA und China ausgeht. Nicht geklärt ists, mit welchen internationalen Verbündeten den weltweiten Rüstungswettläufen entgegengetreten werden soll, die sich an der neuen Unordnung entzünden.

Unter der Maxime „Wer redet, schießt nicht“, suchen die Entspannungspolitiker weiter den kritischen Dialog mit Russland und China. Mit ihrem Argument, dass niemand Interesse an einem neuen Kalten Krieg haben kann, treffen sie in Asien auf große Zustimmung. In Europa gewinnen die Kalten Krieger jedoch durch das Zusammenspiel zwischen chinesischen und russischen Aggressionen einerseits und massivem amerikanischen Druck andererseits an Boden. Auch durch die Schwäche ihrer verbündeten Friedenspolitiker, Freihändler und Multilateralisten geraten die Entspannungspolitiker daher zunehmend in die Zange zwischen Transatlantikern und Menschenrechtlern. In einer solchen Atmosphäre drohen Befürworter des Dialogs als naiv oder fremdgesteuert diskreditiert zu werden.

Vor einem Dilemma stehen auch die Europa-Zentristen. Ohne den Schutzschild der Amerikaner kann Europa seine eigene Sicherheit nicht garantieren. Daher drängen neben den Amerikanern auch die Franzosen darauf, die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsgemeinschaft zu befähigen, die Sicherheit Europas und seiner Nachbarschaft aus eigener Kraft zu stemmen. Eine realistische Einschätzung dieses Kraftakts schließt jedoch die Teilnahme an den amerikanischen Einhegungsversuchen in Ostasien aus. Andererseits sind die Europa-Zentristen alarmiert von chinesischen Versuchen, Europa durch die Kultivierung von Klientenverhältnissen in Osteuropa und auf dem Balkan zu spalten. Vollmundige Bekenntnisse zur geopolitischen Macht Europa können nicht verbergen, dass der krisengeschüttelte Kontinent zum Spielball der Großmächte zu werden droht.

Vollmundige Bekenntnisse zur geopolitischen Macht Europa können nicht verbergen, dass der krisengeschüttelte Kontinent zum Spielball der Großmächte zu werden droht.

Bei den Koalitionsverhandlungen wurde deutlich, dass die Konflikte zwischen den Denkschulen quer durch die Ampel-Parteien gehen. Im Koalitionsvertrag ist für jeden etwas dabei. Unklar bleibt jedoch, welches überwölbende strategische Narrativ sich daraus ableiten lässt. In der praktischen Umsetzung wird der Kurs der Regierung also davon abhängen, wie sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Denkschulen entwickeln.

Bleibt das Bündnis aus Menschenrechtlern und Transatlantikern tonangebend, wird Deutschland robuster als bisher in den „Systemwettbewerb mit autoritär regierten Staaten“ eintreten und „eine strategische Solidarität mit unseren demokratischen Partnern“ stärken. Ein Bündnis zwischen Transatlantikern und Europa-Zentristen würde die „faire Lastenteilung“ im transatlantischen Verhältnis dagegen eher durch mehr Verantwortungsübernahme für die europäische Nachbarschaft sicherstellen. Eine Allianz aus Entspannungspolitikern mit Multilateralisten und Freihändlern dürfte eher nach pragmatischen Problemlösungen mit allen Stakeholdern suchen. Für die „abrüstungspolitische Offensive“ brauchen die Friedenspolitiker den Schulterschluss mit Entspannungspolitikern und Multilateralisten.

Die neue Regierung tut gut daran, nicht durch die Überbetonung bestimmter Narrative falsche Erwartungen bei Partnern zu wecken, die angesichts der realen Kräfteverhältnisse zwangsläufig zu Enttäuschungen führen.

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, das Prinzip ist klar: Für die Durchsetzung ihrer Kernanliegen benötigen alle Denkschulen Verbündete. Umgekehrt tut die neue Regierung gut daran, nicht durch die Überbetonung bestimmter Narrative falsche Erwartungen bei Partnern zu wecken, die angesichts der realen Kräfteverhältnisse zwangsläufig zu Enttäuschungen oder Fehlkalkulationen führen.

Um seine geopolitischen Interessen langfristig durchsetzen zu können, muss Deutschland seine begrenzten Machtressourcen mit langem Atem einsetzen. Um die Pendelschläge nach Regierungswechseln abzumildern braucht es einen breiten gesellschaftlichen Konsens in der internationalen Politik. Durchsetzungsfähig ist Deutschland nur im Verbund mit den europäischen Partnern. Daher müssen die weit auseinander liegenden Positionierungen unserer Nachbarn, die ihre jeweiligen Interessen und Verwundbarkeiten widerspiegeln, auf einer gemeinsamen Plattform zusammengeführt werden. Wir brauchen also eine europaweite Debatte über die Rolle eines souveränen Europas in der neuen Weltordnung.