Es dauerte keinen einzigen Tag, bis sich Deutschland nach der Wiederwahl von Donald Trump wieder um sich selbst drehte. Das Fundament der europäischen Nachkriegsordnung steht auf dem Spiel und in der Bundesrepublik diskutiert man nach dem Bruch der Ampel-Regierung, ob man an Weihnachten Wahlkampf machen darf, welche Pensionsansprüche die Ampel-Mitglieder haben und ob Olaf Scholz die Gefühle von Christian Lindner verletzt hat. Es beschleicht einen das unheimliche Gefühl, dass wir es sogar diesmal wieder schaffen könnten, wie in vergangenen Wahlkämpfen, fundamentale außen- und sicherheitspolitische Fragen auszuklammern. Doch das kann sich Deutschland diesmal nicht leisten. Nicht nur all jene in der Politik, die in einer neuen Regierung Verantwortung übernehmen wollen, müssen in den nächsten Wochen Antworten liefern, die zur Größe der neuen Herausforderungen passen. Auch Medien und Experten stehen in der Verantwortung, hier immer wieder kritisch nachzufragen.

Trumps Politik wird erratisch sein, aber einiges lässt sich zumindest als wahrscheinlich voraussagen: Die amerikanische Unterstützung der Ukraine könnte komplett wegfallen. Ohne diese Unterstützung wird die Ukraine den Krieg verlieren und in einen für sie und Europa unvorteilhaften Deal gezwungen werden. Gut möglich, dass dies geschieht, ohne dass die Europäer überhaupt mit am Verhandlungstisch sitzen. Gleichzeitig steht die Abschreckung gegenüber Russland durch die NATO auf dem Spiel: Sowohl Trump als auch sein designierter Vizepräsident haben die NATO-Beistandspflicht immer wieder zumindest in Zweifel gezogen oder klargemacht, dass sie bereit sind, diese als Druckmittel gegenüber den Europäern einzusetzen. Sollte Russland die NATO-Beistandspflicht testen wollen, stehen Bundeswehrsoldaten in Litauen in der ersten Reihe. Und es ist erst ein paar Wochen her, dass die Chefs der deutschen Nachrichtendienste im Bundestag eindrücklich gewarnt haben, dass hybride russische Angriffe in Deutschland nicht nur möglich sind, sondern bereits stattfinden.

Und das ist nur ein Teil der außenpolitischen Herausforderungen. Europa wird die Bemühungen zur Stabilisierung der eigenen Nachbarschaft genauso hochfahren müssen wie die Anstrengungen im Kampf gegen den Klimawandel, bei denen die USA ausfallen werden. Es wird mit den Konsequenzen eines potenziell noch stärker eskalierenden Krieges im Nahen Osten ebenso umgehen müssen wie mit möglichen Handelskriegen und Zöllen gegenüber europäischen Gütern sowie mit US-amerikanischem Druck, sich einer konfrontativeren Politik gegenüber China anzuschließen. 

Ein geschlossenes Europa mit genügend politischem Willen kann Trump konkrete Angebote machen, um sich Zeit zu kaufen.

Die europäische Abhängigkeit vom militärischen Schutzschirm der USA lässt sich nicht von heute auf morgen beenden. Aber ein geschlossenes Europa mit genügend politischem Willen kann Trump konkrete Angebote machen, um sich Zeit zu kaufen. Das hieße unter anderem, den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken und ein europäisches Versprechen, die Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen – in Richtung von eher drei als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Auch gemeinsame europäische Schulden werden notwendig sein. Und es gilt, immer wieder als Europa Kompromisse zu finden, auf die eigenen Stärken zu schauen und sich nicht spalten zu lassen.

Ob genau das auch nur halbwegs gelingt, hängt ganz wesentlich von Deutschland ab. Dazu braucht es aber nicht nur eine „stabile“ Regierung in Deutschland, wie es in diesen Tagen immer wieder heißt. Es braucht auch eine, die die deutsche Bevölkerung schon im Wahlkampf auf schwierige Abwägungsentscheidungen und Zumutungen einstellt. Und es braucht eine Regierung mit Geld. 

Hier wird es weder reichen, „Frieden“ zu plakatieren, noch pauschal mehr Verteidigungsausgaben zu fordern, ohne zu sagen, wo denn das Geld dafür herkommen soll. Laut einer Studie des Thinktanks Dezernat Zukunft fehlen rein rechnerisch 193 Milliarden Euro, um bis 2030 das mögliche Ziel von 2,5 Prozent des BIP zu erreichen. Diese Rechnung beinhaltet aber bereits einen Sprung des Verteidigungshaushalts von regulär um die 50 Milliarden auf 80 Milliarden Euro ab 2028 aus der mittelfristigen Finanzplanung der Ampel-Regierung. Doch wo diese 30 Milliarden herkommen sollen, weiß bisher niemand. Nimmt man die 2,5 Prozent als Ausgangspunkt – und es ist nicht ausgemacht, dass das genug ist –, läge der tatsächliche Mehrbedarf also eher in der Nähe von 300 Milliarden Euro. Angenommen, man würde diese Lücke gleichmäßig auf die nächsten sechs Jahre verteilen, ginge es um 50 Milliarden Euro pro Jahr. Man müsste mehr als ein Viertel des Etats für Arbeit und Soziales streichen, um auf diese Summe zu kommen. Selbst wer die Etats für Bildung und Forschung, Gesundheit, Entwicklungs- und Außenpolitik in Gänze streichen würde, hätte immer noch keine 50 Milliarden zusammen. Bei einem möglichen Drei-Prozent-Ziel ginge es eher um 70 Milliarden pro Jahr. Diese Summen lassen sich nicht einfach irgendwo einsparen.

Die fiskalpolitischen Herausforderungen hören hier ja nicht auf. Denn gleichzeitig müssen alle Parteien, die eine Regierung anführen wollen, eine Vision anbieten, die die notwendige sicherheitspolitische Reaktion auf die veränderte Weltlage mit konkreten Ideen kombiniert, wie sie für die Menschen in Deutschland die Zukunft gestalten wollen, und für die dafür notwendigen Investitionen in Deutschland das Geld aufbringen. Laut Umfragen befürwortet immer noch eine Mehrheit der Deutschen die Unterstützung der Ukraine sowie höhere Verteidigungsausgaben. Doch zeigen Studien, dass viele Menschen die grundsätzliche Handlungsfähigkeit des Staates – eben auch in der Außenpolitik – infrage stellen, wenn sie in ihrem Alltag ständig erleben, dass der Staat nicht funktioniert. Wenn die Bahn nicht fährt, die Kitas schließen, Brücken einstürzen. Auch für Investitionen in Infrastruktur, in Bildung, in deutsche und europäische Wettbewerbsfähigkeit wird also das Geld vorhanden sein müssen. Und gleichzeitig braucht es bei diesen riesigen Summen konkrete Vorschläge, wie Geld besser ausgegeben werden kann, etwa durch umfassende Verwaltungsreformen, Digitalisierung und Bürokratieabbau sowie – nicht zuletzt in der Sicherheitspolitik – bessere Koordinierung und Abstimmung auf nationaler und europäischer Ebene. 

Um diese Summen zusammenzukriegen, wird es realistischerweise alles brauchen: Kürzungen, Steuererhöhungen sowie eine Reform der Schuldenbremse.

Um diese Summen zusammenzukriegen, wird es realistischerweise alles brauchen: Kürzungen, Steuererhöhungen (wie eine Vermögenssteuer) sowie eine Reform der Schuldenbremse. Wie genau ein neuer fiskalpolitischer Konsens aussehen sollte, ist eine Frage der Aushandlung politischer Prioritäten – nicht zuletzt in den Koalitionsverhandlungen. Aber die Grundvoraussetzung hierfür sind politische Parteien, die bereits im Wahlkampf die Dimensionen deutlich machen, um die es geht. Die beschreiben, was für die europäische Sicherheit, den Zusammenhalt und die Demokratie in Europa auf dem Spiel steht und was das mit dem Leben jedes Einzelnen in Deutschland zu tun hat.

Und es braucht Journalistinnen und Journalisten, die immer wieder nach den sicherheitspolitischen Plänen der Parteien fragen und danach, wie sie diese genau bezahlen wollen, sowie Expertinnen und Experten, die die Lücke zwischen den Herausforderungen und bisherigen Politikvorschlägen verdeutlichen. In Deutschlandfunk-Interviews mit Friedrich Merz und Rolf Mützenich nur zwei Tage nach der Trump-Wahl kamen die Stichworte „Russland“ und „Ukraine“ noch nicht einmal vor. In bisherigen Interviews fordert Friedrich Merz Mehrinvestitionen in die Verteidigung, ohne genau erklären zu müssen, wo das Geld herkommen soll. Das reicht nicht mehr.

Es ist schon eine ziemliche Katastrophe, dass sich Deutschland bei der Amtsübernahme Donald Trumps im Januar 2025 mitten im Wahlkampf befinden wird. Genau in dem Moment, in dem der amerikanische Präsident damit beginnen wird, den Zusammenhalt in Europa auf die Probe zu stellen. Unter diesen Umständen ist es umso wichtiger, dass in den nächsten 100 Tagen vom Wahlkampf sowohl nach innen als auch nach außen das Signal ausgeht: Wir haben den Ernst der Lage verstanden.