Das anhaltende tiefe Misstrauen zwischen Russland und dem Westen erschwert es, die Interessen und die Politik der jeweils anderen Partei richtig zu deuten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Krise in Syrien, die zum Inbegriff der Komplexität der aktuellen Weltpolitik geworden ist. Jüngste Gespräche zwischen dem russischen Außenminister, Sergei Lawrow, und US-Außenminister John Kerry scheinen zu einer Annäherung zwischen Moskau und Washington bezüglich eines koordinierten militärischen Vorgehens gegen den „Islamischen Staat“ (IS) geführt zu haben. Doch selbst wenn es zu einer Vereinbarung kommt, wird die Kooperation wahrscheinlich eher taktisch als strategisch sein. Und auch in diesem Fall ist Erfolg nur möglich, wenn klar ist, was der potenzielle Partner vorhat.
Als Russland am 30. September 2015 seinen Militäreinsatz in Syrien begann, war die Welt schockiert: Niemand hatte dieses Eingreifen erwartet. Moskau erklärte, den IS bekämpfen zu wollen, verfolgte jedoch in erster Linie das Ziel, die angeschlagenen Truppen von Präsident Baschar al-Assad zu unterstützen. Diese standen kurz davor, von den Rebellen – moderaten und weniger moderaten – besiegt zu werden. Es war nicht klar, welche Militärstrategie Wladimir Putin genau verfolgte, insbesondere, ob Russland auch Bodentruppen entsenden würde, um die Wirksamkeit seiner Luftangriffe zu steigern. Auch die politischen Strategien des Kremls mit Blick auf Assad, den Iran und die syrische Opposition wurden heftig diskutiert. Heute, ein Jahr später, herrscht in einigen Punkten Klarheit, andere geben Analysten allerdings immer noch Rätsel auf.
Fest steht vor allem, dass Russland mit seinem ersten direkten militärischen Eingreifen im Nahen Osten eine unmissverständliche Botschaft an die Vereinigten Staaten und den Westen gesendet hat, die da lautet: Wir melden uns als politisch-militärische Weltmacht zurück und erwarten, als solche behandelt zu werden. Zugleich hat es den Arabern, Persern, Türken und Israelis durch sein Vorgehen klargemacht, dass Russland als Akteur in der Region nicht außer Acht gelassen werden darf. Dies steht im Einklang mit dem wichtigsten außenpolitischen Ziel Putins, das Land 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder zur anerkannten Weltmacht zu machen.
Russland und das Assad-Regime stellen keine untrennbare Einheit dar.
Russland will die Einheit Syriens und dessen territoriale Integrität bewahren. Die Antwort auf die Frage nach der passenden Regierungsform und Führungsperson müsste in einem umfassenden politischen Dialog geklärt werden, der von Moskau und Washington moderiert wird. Russland und das Assad-Regime stellen keine untrennbare Einheit dar. Vielmehr will Russland einen Übergang hin zu einer zukunftsfähigen Regierung, auf die sich alle wichtigen Gruppen, einschließlich der Alawiten, einigen können. Darüber hinaus möchte das Land seine eigenen Interessen wahren, was derzeit eine Marinebasis, einen Luftwaffenstützpunkt und einen gewissen politischen Einfluss in Syrien umfasst.
Russland schätzt Assad nicht dafür, was er ist, sondern dafür, wogegen er steht: gegen Farbenrevolutionen im Stile des Arabischen Frühlings, die Moskau als äußerst destabilisierend empfindet, gegen den IS und andere Dschihadisten sowie gegen die Einmischung des Westens. Im Gegensatz zu anderen autoritären Regimen im Nahen Osten, die von Revolutionen, ausländischen Interventionen und Bürgerkriegen zerstört wurden, war Damaskus auch nach fünf Jahren Krieg noch nicht am Boden. In Putins Augen hatte sich Assad die Hilfe von Russland daher redlich verdient. Wäre Assad 2015 gestürzt worden, wäre Syrien heute wohl ein Kalifat. Moskaus Eingreifen hat dies verhindert.
Es ist mehr als erstaunlich, welche Kehrtwende die USA, Europa und kürzlich auch die Türkei in ihrer Haltung zu Assad vollzogen haben. Heute besteht die allgemeine Bereitschaft, ihn noch geraume Zeit an der Macht zu halten. Was die syrische Opposition angeht, so ist Russland nie von einer Lösung des Konflikts ausschließlich zu Assads Bedingungen ausgegangen. Bisher hat Russland jedoch keinen etablierten und glaubwürdigen Partner gefunden, der ernsthafte politische Verhandlungen mit Assad führen könnte. Die Opposition ist zersplittert und agiert uneinheitlich; inzwischen ist sie zudem in hohem Maße von Dschihadisten der Al-Nusra-Front abhängig, die seit Kurzem unter dem neuen Namen „Dschabhat Fatah asch-Scham“ firmiert. Sie erweist sich im Hinblick auf eine Lösung des Konflikts als größerer Hemmschuh als ein sturer, widerspenstiger Assad.
Die Al-Nusra-Front ist ein größerer Hemmschuh als ein widerspenstiger Assad.
Russland ist es zudem gelungen, sich in der Gesamtregion mit einer Reihe schiitischer Akteure (Damaskus, Teheran, Bagdad, Hisbollah) gut zu stellen, ohne sich in den Machtkampf zwischen Sunniten und Schiiten zu verstricken. Zudem hat Russland seine historischen Beziehungen zu Ägypten – dem wichtigsten sunnitischen Staat – intensiviert, einen komplexen und anhaltenden Dialog mit Saudi-Arabien aufgenommen, es geschafft, sich nicht mit Jordanien zu überwerfen, und sich darüber hinaus Aufmerksamkeit und auch einen gewissen Respekt am Golf verschafft. Und auch die siebenmonatige Eiszeit zwischen Russland und der Türkei, ausgelöst durch das Abschießen eines russischen Kampfbombers im November 2015 durch die Türkei, endete im August 2016 mit der Entschuldigung durch Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Beziehung zwischen den beiden Ländern ist zwar weiterhin fragil, aber wieder beherrschbar. Moskaus Talent, die Nähe zu seinen Rivalen und sogar Feinden, wie etwa dem Iran und Israel, nie zu verlieren, muss man schlicht als phänomenal bezeichnen.
Doch all das bedeutet nicht, dass Russland durch sein Engagement in Syrien und im gesamten Nahen Osten darauf abzielt, in der Region die Rolle der USA zu übernehmen oder die neue Schutzmacht zu werden. Vielmehr geht es dem Kreml darum, sein Hauptziel zu erreichen und als bedeutender globaler Akteur anerkannt zu werden. Offensichtlich ist auch, dass Russland seine wieder erstarkte „harte Macht“ und seine politische Entschlossenheit maximieren will, um sich in den ölreichen muslimischen Ländern nahe seinen eigenen Grenzen eine gute Position zu sichern. Und natürlich geht es darum, Terroristen und Dschihadisten zu vernichten, von denen viele aus Russland und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) stammen und eine Bedrohung für Russland darstellen könnten.
Russland ist ernsthaft daran interessiert, diplomatisch und militärisch mit dem Westen zu kooperieren, allerdings auf Augenhöhe.
Konfrontation steht nicht im Mittelpunkt der Westpolitik Russlands im Nahen Osten, auch wenn der Einsatz der russischen Luftwaffe das Monopol der USA und ihrer Verbündeten auf ein militärisches Eingreifen in der Region beendet und damit die Weltordnung nach Ende des Kalten Krieges erneut umgestürzt hat. Russland ist ernsthaft daran interessiert, diplomatisch und militärisch mit dem Westen zu kooperieren, allerdings auf Augenhöhe. Bisher können sich in den USA und andernorts allerdings nur wenige dafür erwärmen. Solange sich dies nicht ändert, wird die Beziehung zwischen Russland und dem Westen wohl weiterhin angespannt und vorwiegend taktisch geprägt bleiben.
Auf die Frage, ob es für Syrien und den Westen besser wäre, zu akzeptieren, dass es Assad mithilfe Russlands und des Irans gelungen ist, den Sieg zu erringen, gibt es eine klare Antwort: Militärisch kann Damaskus nicht gewinnen. Politisch ist in Syrien keine politische Einigung zu erwarten, solange die Assad-Familie an der Macht ist. Und auf diplomatischer Ebene ist abzusehen, dass sich die regionalen Kräfte im Nahen Osten, wie die Türkei und Saudi-Arabien, nicht komplett aus Syrien heraushalten werden, selbst wenn der Westen sich hierfür entscheiden sollte – was sehr unwahrscheinlich ist. Das heißt, dass eine wie auch immer geartete Lösung des Konflikts in dem geschundenen Land ohne die Unterstützung einer kritischen Masse Beteiligter undenkbar ist, wozu inländische Gruppierungen, die für den politischen Prozess Verantwortlichen – USA und Russland – sowie die regionalen Akteure, darunter der Iran und Saudi-Arabien, gehören. Zum jetzigen Zeitpunkt könnte der Westen die Gruppen, die er als moderate syrische Opposition bezeichnet, dabei unterstützen, in Genf als glaubwürdiger Gesprächspartner aufzutreten und einen Deal mit Assad, den Kurden und anderen auszuhandeln. Und genau das sollte er auch tun.
9 Leserbriefe
Ein glänzender Artikel, in dem endlich mal von glaubwürdigen Menschen mit außerordentlichen Fachkenntnissen die Sachlage wunderbar verständlich zusammen gefasst ist.
Dass Putin seinen westlichen Widersachern strategisch teilweise sogar schon unheimlich überlegen ist, dazu muss man kein Putin-Fan sein. Dazu reicht näheres Interesse an der Wahrheit, die Infragestellung der Transatlantikbrücken-hörigen deutschen Standardmedien und schlichter Hausverstand.
Eine Freude, zu lesen. GENAU SO vorurteilsfrei und ideologiefrei sollte Journalismus sein. Bravo!
TOP!
Heinz Köberl
Allerdings reflektiert der Artikel nur die Anschuldigungen des Westens gegen Russland und Syrien. Ich würde mich über einen Artikel freuen, in dem offen und recherchiert, die Rolle des Westens inkl. Saudi Arabiens in diesem Konflikt dargelegt wird.
Ich bin der Meinung, wenn der Westen die Unterstützung von Söldnergruppen einstellt, ist der Krieg auch bald vorbei. So kann man Fluchtursachen bekämpfen. Das scheint aber z.B. in der Bundesregierung keiner zu wollen oder zu wissen.
Der klassische Stellvertreter-Krieg aus der Zeit des kalten Krieges ist zurück. Und solange die Opponenten in Syrien von der einen oder anderen Seite mit Geld, Munition, Waffen und logitischen Informationen versorgt werden, wird dieser Krieg vermutlich kein Ende finden. Man schaue sich die Stellvertreterkriege der 70er Jahre, z.B. in Angola an.
Mit dem "versehentlichen" Angriff auf den letzten syrischen Verteidigungsposten inmitten eines IS-Gebietes sind die letzten Masken gefallen.
Es sollten jetzt auch den gutgläubigsten Menschen die Augen aufgehen, daß es dem NATO-Bündnis nicht um den Schutz und die friedliche Zukunft des syrischen Volkes geht.
Das Schlimmste in meinen Augen ist, dass DEU sich erst ohne Not an diesem Verbrechen beteiligt und dann angesichts von Terrorgefahr u. Flüchtlingsmassen von "der Welt aus den Fugen" schwafelt.
Was den Applaus betrifft, beschränkt sich Meiner, wie sich klar ersehen lässt, auf den Artikel, und nicht auf den Stellvertreterkrieg dort. Dass die Russen mit Informationen sauberer umgehen, als der totideologisierte Westen (egal ob links oder rechts), konnte ich kürzlich bei der Wahl Trumps live beobachten. Auch Propaganda. Klar. Doch wesentlich näher an der Realität. Für die Menschen im russischen Einflussbereich ist die Wahrheit wenigstens noch spürbar. Wir dagegen "spüren" überhaupt nichts mehr. Wir folgen doch nur dem Aufschrei, der entweder politisch korrekt angesagt kommt, oder wegen Verstoß gegen den Mainstream ausbleibt.
Die Russen sind die Allerletzten, die Krieg wollen. Sie schienen mir deutlich besser informiert und durchblickend. Russisch zu verstehen war ein Vorteil.