In der sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland geht es derzeit heiß her. Dabei gewinnt man den Eindruck, dass ein Festhalten an der transatlantischen Sicherheitsarchitektur und die dafür notwendigen Mehrkosten für militärische Mittel alternativlos sind. Stichwort: Zwei-Prozent-Ziel. Demnach ist Deutschland ohne die USA schlichtweg nicht zu verteidigen. Jegliche Autonomiebestrebungen gegenüber den Amerikanern in sicherheitspolitischen Fragen seien mit unvorstellbaren Kosten verbunden.

Im Angesicht des Zusammenbruchs internationaler Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge, fortgesetzter russischer Realpolitik sowie dem derzeit transaktionalen Verständnis der USA von Sicherheitspolitik trifft die allgemeine Orientierungslosigkeit auf eine mit neuem Eifer geführte Diskussion um die Rolle von Nuklearwaffen, die europäische Sicherheitsarchitektur und Deutschlands Verhältnis zu beiden. Es ist schade, dass die Debatte weitgehend ideenlos und oft mit gefühlten Wahrheiten geführt wird, anstatt die aktuelle Lage zum Anlass zu nehmen, ohne Sachzwänge, sondern anhand von konkreten Optionen zu debattieren.

Ein sehr gutes, weil konkretes Beispiel ist die jüngste Aufregung um nuklearstrategische Fragen. Kurz nach Macrons jüngsten Äußerungen zum aktuellen Stand der NATO („hirntot“) veröffentlichte die Körber Stiftung eine Studie mit einem aufsehenerregenden Umfrageergebnis: 40 Prozent der Deutschen wünschen sich, lieber unter dem Schutz einer europäischen nuklearen Abschreckung zu stehen. Nur 22 Prozent wollen sich auch zukünftig auf den US-Nuklearschirm verlassen.

Und wer kann es ihnen verübeln? Das Prinzip nuklearer Abschreckung beruht auf der Glaubwürdigkeit eines nuklearen Zweitschlags, sollte ein militärischer Angriff erfolgen. Da hilft es wenig, wenn US-Präsident Trump sich nur zögerlich zu der Beistandsklausel (Art. 5 des NATO-Statuts) bekennt und auch „harte“ Sicherheitsthemen nicht vor seinem transaktionalen Verständnis von Politik gefeit sind. Mit seinem erratischen Politikstil rüttelt der amerikanische Präsident an der Glaubwürdigkeit der US-geführten nuklearen Abschreckung. „America First“ und der Schutz verbündeter Länder lassen sich leider nur schwer vereinbaren. Würde ein US-Präsident Trump Chicago für Hamburg opfern? Wohl kaum.

40 Prozent der Deutschen wünschen sich, lieber unter dem Schutz einer europäischen nuklearen Abschreckung zu stehen.

Daher stellt sich die Frage, ob man nicht über eine rein europäisch organisierte nukleare Abschreckung nachdenken sollte. Transatlantisch-orientierte Politikberatungsinstitute und Experten bemühen sich schnell, eine neue nuklearstrategische Debatte im Keim zu ersticken. Ihrer Ansicht nach würde eine europäisch organisierte nukleare Abschreckung, bereitgestellt durch Großbritannien und Frankreich, hohe Rüstungsausgaben für konventionelle Rüstung bedeuten. Des weiteren wären hohe Investitionen in die nukleare Zweitschlagskapazität fällig. Angesichts der allgemeinen Skepsis gegenüber höheren Militärausgaben könne dies doch unmöglich irgendjemand wollen, heißt es. Darüber hinaus diene Uneinigkeit innerhalb der NATO lediglich den Interessen Russlands.

Das Problem mit dieser Darstellung ist vielseitig. Auch wenn zu Recht um die Einsatzfähigkeit und den Ausrüstungsstand der Bundeswehr und anderer europäischer Streitkräfte gestritten wird, so sind diese durchaus in der Lage, eine glaubwürdige Abschreckung gegen jedwede konventionelle Aggression zu bilden. Wer sich dessen nicht sicher ist, möge die jährlich aktualisierte Streitkräfteübersicht von SIPRI und IISS konsultieren.

Die Behauptung der Notwendigkeit einer konventionellen Aufrüstung im Falle eines „Schirmwechsels“ ist nicht einleuchtend. Denn es ist vollkommen unerheblich, unter welchem nuklearen Abwehrschirm ein Staat steht. Um eine erweiterte französische Abschreckung für Deutschland und andere europäische Staaten glaubwürdig aufrechtzuerhalten, braucht es keine massive nukleare Aufrüstung. Derzeit verfügt allein Frankreich über circa 300 nukleare Sprengköpfe, welche sowohl see- als auch luftgestützt zum Einsatz gebracht werden könnten. Wenn 300 Nuklearsprengköpfe nicht reichen, wie viele wären denn genug?

Schaut man sich diese Reflexe also einmal genauer an, muss man schnell feststellen, dass häufig die strategische Debattenkultur der sechziger Jahre wieder aufgekocht wird. Dies ist nicht nur wissenschaftlich gesehen unangemessen. Mit der Beschwörung von strategischen Maximen aus den tiefsten Zeiten des Kalten Kriegs wird bewusst ein bestimmtes Bild der aktuellen sicherheitspolitischen Lage heraufbeschworen, um Handlungsoptionen auszuschließen.

Schaut man sich die Debatte an, gewinnt man allzu oft den Eindruck, dass die Bundesrepublik in der Sicherheitspolitik mit Sachzwängen konfrontiert ist und dadurch unweigerlich in den <link rubriken aussen-und-sicherheitspolitik artikel nicht-hirntot-aber-paranoid-3916>Großmachtwettbewerb eingesogen wird. Im Falle der Nuklearstrategie hätte man folgerichtig die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder, man bliebe unter dem Schutz einer US-geführten nuklearen Abschreckung, müsste aber dann deutlich mehr für Verteidigung ausgeben, um sich den US-Schutz gewissermaßen zu verdienen. Oder man organisiere die nukleare Abschreckung selbst im europäischen Rahmen, aber das würde noch viel mehr kosten. So wird blitzschnell eine Debatte verdichtet, die nur noch zwei Optionen zulässt: aufrüsten oder noch viel mehr aufrüsten.

Für viele der aktuellen Sicherheitsbedrohungen, welchen sich Deutschland und Europa ausgesetzt sehen, sind Nuklearwaffen nur teurer Ballast.

Gerade der sicherheitspolitische Diskurs ist oft in einer „emergency logic“ gefangen und entwirft Szenarien, die selbst die NATO in ihrem Deterrence and Defence Posture Review als „äußerst unwahrscheinlich“ beschreibt. Daher gilt es hier besonders, bestimmte Annahmen und vermeintliche Bedrohungsszenarien zu hinterfragen. Pauschalisierende Forderungen vor dem Hintergrund diffuser Bedrohungskulissen sind nicht nur wenig förderlich, sondern auch politisch unverantwortlich. Im Gegenteil, in Zeiten des internationalen Umbruchs sollten wir die Gelegenheit ergreifen, statt uns in nuklear-strategischen Fragen über Anzahl und Wirkmächtigkeit von Nuklearsprengköpfen zu verlieren, den Wert von Nuklearwaffen für deutsche und europäische Sicherheit neu zu definieren. Für viele der aktuellen Sicherheitsbedrohungen, welchen sich Deutschland und Europa ausgesetzt sehen, sind Nuklearwaffen nur teurer Ballast.

Ein Rückzug Deutschlands aus der Nuklearwaffenkooperation mit den Amerikanern hätte hingegen weitere Vorteile. Koordiniert mit anderen Ländern der nuklearen Teilhabe, wie zum Beispiel Belgien oder den Niederlanden, könnte man so das wichtige politische Signal an die osteuropäischen NATO-Länder senden, dass auch eine minimale nukleare Abschreckung unter französischer Führung deutschen sowie europäischen Sicherheitsinteressen Genüge tut. Darüber hinaus würde es Deutschland ermöglichen, mit neuer Glaubwürdigkeit in Fragen nuklearer Abrüstung aufzutreten. Derzeit steckt man in der Zwickmühle, sich nur mit halber Kraft international für nukleare Abrüstung einsetzen zu können, da sich Nuklearwaffen auf dem eigenen Territorium befinden. Der Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe könnte der Debatte um den Atomwaffensperrvertrag jedoch neuen Schwung geben.

Sicherlich müssen wir über (imaginäre und konkrete) Bedrohungen, sicherheitspolitische Reaktionen, aber vor allem Gestaltungsräume diskutieren. Auf gar keinen Fall sollten wir jedoch dabei in eine „Cold War Retromania“ mit gefühlten Wahrheiten und der Postulierung strategischer Notwendigkeiten zurückfallen. Innenpolitisch beginnt gerade die Dominanz des „there-is-no-alternative“-Ansatzes zu bröckeln. Höchste Zeit, dass dies auch in der Sicherheitspolitik geschieht.