Das Interesse an Zentralasien erlebt eine Renaissance in der europäischen und deutschen Außenpolitik. Schon 2007 und 2019 wurden umfangreiche Strategien verabschiedet, doch das Engagement zwischen den beiden Regionen kam eher zögerlich voran. Nun aber ergreift Berlin die Initiative und etabliert das Format „Z5+Deutschland“ – eine Partnerschaft mit einer Region, die in der deutschen Außenpolitik bisher einmalig ist. Die erste Sitzung in diesem Format fand im September 2023 in Berlin statt, als die Staatschefs der fünf Länder Zentralasiens von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier empfangen wurden. Das zweite Treffen kam diese Woche in der kasachischen Hauptstadt Astana zustande. Auch wenn Deutschland bereits in der Vergangenheit die treibende Kraft hinter der europäischen Annäherung an Zentralasien war, scheint es aktuell entschlossener denn je zu sein, die Beziehungen zu dieser Region strategisch auszubauen. Das hat zum einen mit drängenden sicherheitspolitischen Fragen, zum anderen mit langfristig angelegten außenpolitischen Zielen zu tun.
Bei der Lösung aktueller sicherheitspolitischer Fragen spielen insbesondere die größten Länder der Region, Usbekistan und Kasachstan, eine zentrale Rolle, mit deren Staatschefs Olaf Scholz sich bilateral getroffen hat. Das mit Usbekistan geschlossene Migrationsabkommen soll unter anderem der Rückführung von Straftätern aus Deutschland nach Afghanistan dienen, ohne dass Berlin direkten Kontakt mit den radikalislamischen Taliban aufnehmen muss. Diese Funktion würden in diesen Fällen die usbekischen Behörden übernehmen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Kooperation zwischen Deutschland und Zentralasien in Bezug auf Afghanistan zukünftig auf weitere Themen und Bereiche ausgeweitet werden kann.
Usbekistans Nachbar Kasachstan ist für die Bemühungen um die Beendigung der russischen Aggression in der Ukraine von Relevanz. Erst kürzlich, am 8. September sprach sich der Bundeskanzler in einem ZDF-Interview dafür aus, eine diplomatische Lösung im Krieg in der Ukraine anzustreben und sagte, es sei an der Zeit, aus der Kriegssituation zu einem Frieden zu kommen. Er fügte hinzu, dass eine neue Friedenskonferenz, diesmal mit Beteiligung Russlands, organisiert werden sollte. Beim Treffen mit dem kasachischen Präsidenten Qassym-Schomart Toqajew in Astana fiel dessen Meinung zum Konflikt im Vergleich zu bisherigen Statements besonders prononciert aus. Unmissverständlich äußerte er, dass Russland militärisch nicht besiegt werden könne. Eine weitere Eskalation des Krieges würde daher zu irreparablen Folgen für die gesamte Menschheit und vor allem für alle Länder führen, die direkt oder indirekt in den russisch-ukrainischen Konflikt verwickelt seien. Er rief dazu auf, alle Friedensinitiativen sorgfältig zu prüfen, und unterstützte den Friedensplan Chinas und Brasiliens.
Kasachstans stellvertretender Außenminister Roman Vassilenko kündigte die Bereitschaft seines Landes an, zur Lösung des Konflikts beizutragen und auch als Mediator zu fungieren, wenn beide Kriegsparteien das wünschten.
Eine derart deutliche Aussage Toqajews zeigt, dass eine weitere Eskalation in der Ukraine in Astana als äußerst gefährlich eingeschätzt wird und Kasachstan, das eine 7 600 Kilometer lange Grenze zu Russland hat, ernsthafte Sorgen bereitet. Bemerkenswert ist, dass Kasachstans stellvertretender Außenminister Roman Vassilenko drei Tage vor der Ankunft des Bundeskanzlers in Kasachstan in einem DW-Interview die Bereitschaft seines Landes angekündigt hatte, zur Lösung des Konflikts beizutragen und auch als Mediator zu fungieren, wenn beide Kriegsparteien das wünschten. „Wir gehen davon aus, dass unsere Dienste in Zukunft benötigt werden könnten, deshalb nehmen wir eine zurückhaltende Position ein“, fügte er hinzu. Ob Astanas außenpolitisches Gewicht allein für eine Vermittlerrolle ausreichen würde, sei dahingestellt. Als Moderator oder Ausrichtungsort für Gespräche käme Kasachstan durchaus infrage, nachdem es bereits als Plattform für Syrien-Verhandlungen fungiert hat; in Almaty hat außerdem im Mai 2024 ein Treffen zwischen den Außenministern Aserbaidschans und Armeniens stattgefunden.
Obgleich die Positionen Deutschlands und Kasachstans darin übereinstimmen, dass der Krieg möglichst bald beendet werden müsse, sind Unterschiede bei der Beurteilung der aktuellen Lage und der optimalen Lösungswege augenfällig – wahrscheinlich einer der Gründe, warum eine ursprünglich geplante gemeinsame Pressekonferenz Berichten zufolge von kasachischer Seite abgesagt wurde. Eine wichtige Zusage gab es im Bereich der Energiekooperation: Kasachstan ist nach Norwegen und den USA bereits jetzt der drittwichtigste Öllieferant Deutschlands und ist bereit, die Lieferungen nach Deutschland, die allerdings über die Druschba-Pipeline und somit das russische Territorium fließen, weiter aufzustocken. Insgesamt passieren circa 90 Prozent des kasachischen Erdöls das Territorium Russlands und bedürfen somit Moskaus Kooperationsbereitschaft – ein weiterer Grund für Astanas vorsichtige Positionierung.
Der Besuch des deutschen Bundeskanzlers könnte außerdem dazu beitragen, Weichen für eine aktivere EU-Zentralasien-Strategie zu stellen. Im Januar dieses Jahres forderte das Europäische Parlament die EU auf, ihre diplomatische Strategie gegenüber Zentralasien vor dem Hintergrund großer globaler Umbrüche zu überdenken. Betont wird die strategische Bedeutung der Region in Bezug auf Sicherheit, Konnektivität, die Diversifizierung der Energie- und Ressourcenversorgung, Konfliktlösung und die Aufrechterhaltung der multilateralen, regelbasierten internationalen Ordnung.
Der jüngste Besuch von Olaf Scholz spiegelt eine zunehmende Kontinuität der deutschen Politik gegenüber der zentralasiatischen Region wider.
Der jüngste Besuch von Olaf Scholz spiegelt eine zunehmende Kontinuität der deutschen Politik gegenüber der zentralasiatischen Region wider. Er bekräftigt die Verbindlichkeit der im September 2023 beschlossenen strategischen Partnerschaft (eine privilegierte Form zwischenstaatlicher Beziehungen) mit Zentralasien, wobei der Schwerpunkt auf Energie, Wirtschaft, Klima und Umwelt gelegt wird. Bei der grünen Energie und Industrie sind die Chancen für eine langfristige Zusammenarbeit besonders aussichtsreich. Deutschland und die EU sind mittel- bis langfristig auf den Import von Ökostrom und von grünem Wasserstoff angewiesen. Zentralasien verfügt über erhebliche Ressourcen an Wind- und Solarenergie, die erschlossen werden müssen. Der deutsche Investor und Projektentwickler Svevind Energy plant in Kasachstan die Realisierung eines Großprojekts zur Produktion von grünem Wasserstoff unter Nutzung der Wind- und Sonnenenergie.
Der turkmenische Präsident Serdar Berdymukhamedov betonte beim Z5+1-Treffen in Astana die Stärkung von Partnerschaften mit deutschen Unternehmen im Energie- und Infrastrukturbereich und wies darauf hin, dass solche Projekte nicht nur zur wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch zur regionalen Stabilität beitragen würden. Der usbekische Präsident Shavkat Mirziyoyev schlug auf dem Gipfel die Etablierung eines „Energiedialogs“ zwischen den zentralasiatischen Ländern und Deutschland vor.
Positiv gesehen wird auch das Bestreben Deutschlands, eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe anzubieten.
Ein weiterer Faktor, der die strategische Partnerschaft bestimmt, ist der Zugang zu kritischen Rohstoffen. Zentralasien verfügt über bedeutende Reserven an Metallen wie Titan, Kupfer, Kobalt, Wolfram, Uran und Lithium. Deutschland und die EU haben bereits eine Rohstoffpartnerschaft mit Kasachstan und Usbekistan vereinbart. Da Zentralasien einen erheblichen Bedarf an Technologien und Investitionen hat, ist das in Astana diskutierte Kooperationsmodell „Investitionen und Technologien im Austausch für Rohstoffe“ für diese Länder besonders attraktiv. Und Deutschland wird als ein Akteur wahrgenommen, der hohe Standards im Bereich der Innovation setzt und für Qualität und Zuverlässigkeit bekannt ist. Positiv gesehen wird auch das Bestreben Deutschlands, eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe anzubieten, angelehnt an das Prinzip der fairen Konkurrenz unter allen regionalen Akteuren, so wie die deutsche Botschafterin in Kasachstan es neulich erklärte. Aktuell plant das Unternehmen HMS Bergbau geologische Erkundungen für den Bau einer Lithiumverarbeitungsanlage in Ostkasachstan – eines der ersten konkreten Investitionsprojekte im Umfang von 500 MillionenUS-Dollar. Es wird von deutschen Firmen erwartet, dass sie ihre Präsenz auch in anderen Ländern Zentralasiens verstärken.
Und schließlich ist da die Entwicklung der Verkehrs- und Logistikinfrastruktur, die eines der Hauptthemen des diesjährigen Gipfels war. Der Ausbau des Mittleren Korridors zwischen Zentralasien, China und der EU, der über das Kaspische Meer und den Kaukasus verläuft und für den Transport von Industriegütern, fossilen Energieressourcen und langfristig auch von grüner Energie bestimmt ist, ist sowohl für Zentralasien als auch für Deutschland von zentraler Bedeutung. Doch der Korridor ist infrastrukturell noch unterentwickelt und würde eine signifikante Erhöhung des Verkehrsaufkommens nicht stemmen können. Deutschland hat nun bekanntgegeben, im Rahmen der Global Gateway-Initiative zehn Milliarden Euro in die Entwicklung dieser Route unter Umgehung Russlands und Irans investieren zu wollen.
Es sieht danach aus, als sei Deutschland auf dem Weg, seine Präsenz in Zentralasien im Rahmen der strategischen Partnerschaft dauerhaft und sichtbar zu etablieren. Die Vereinbarung von über 66 Investitionsprojekten in Höhe von 55 MilliardenUS-Dollar allein mit Kasachstan hört sich beeindruckend an. Doch eine strategische Partnerschaft impliziert mehr als die Ankündigung von ambitionierten Investitionsprojekten und die Ausrichtung eines großen Gipfels einmal im Jahr. Analytisch-wissenschaftlich bedeutet strategische Partnerschaft eine langfristige multidimensionale Zusammenarbeit, die auf kompatiblen Interessen und Vertrauen beruht. Das heißt, es bedarf eines stetigen politischen Dialogs auf hohem Niveau, eines engen kulturellen und gesellschaftlichen Austauschs und einer ähnlichen Sichtweise auf regionale und globale Geschehnisse. Letzteres – das zeigt etwa die Positionierung zum Krieg in der Ukraine – ist noch deutlich ausbaufähig.
Um mit den Entwicklungen in einer geopolitisch immer wichtiger werdenden Region Schritt halten zu können, bedarf es schließlich einer kontinuierlichen journalistischen Berichterstattung aus der Region, die gegenwärtig nicht ausreichend stattfindet. Aktuell klafft in diesem Bereich eine große Lücke, zumal die Meldungen sowohl der Deutschen Presseagentur als auch von ARD/ZDF aus deren Moskauer Büros erfolgen. Dabei zeigen die Entwicklungen der letzten drei Jahre und auch der Deutschland-Zentralasien-Gipfel in Astana: Als eine Region, die sich zunehmend zu einer Mittelmacht entwickelt und eine ambitionierte Nachbarschafts- und Sicherheitspolitik betreibt, sollte Zentralasien europäisch eine aktivere Beachtung finden.