Unerwarteter Rückenwind für den Westbalkan: Die ehemalige nordmazedonische Verteidigungsministerin Radmila Šekerinska wurde im Dezember zur neuen stellvertretenden Generalsekretärin der NATO ernannt. Dieses Ereignis ist mehr als ein Karriereschritt für Šekerinska oder eine Anerkennung für Nordmazedonien – es ist ein starkes Symbol für die wachsende Bedeutung der Region im Herzen des Nordatlantikpakts. Für diesen Teil Europas, der häufig nur als geopolitisches Anhängsel betrachtet wird, bedeutet die Besetzung eines der wichtigsten Posten des Atlantischen Bündnisses mit einer nordmazedonischen Politikerin auch, dass dem Westbalkan mehr Gewicht bei der zukünftigen Gestaltung der NATO zukommen wird.

Die Ernennung Šekerinskas, die sich gegen die Konkurrenz der früheren Außenministerin und EU-KommissarinMarija Gabriel aus dem benachbarten Bulgarien durchsetzen konnte, kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt, sowohl für den Westbalkan als auch für das gesamte Bündnis. In der Ukraine tobt weiterhin der Krieg, das Verhältnis zu Russland wird immer angespannter, und die gesamte Sicherheitslandschaft verändert sich so rasch, dass größere Einigkeit erforderlich ist. Daher ist die NATO bemüht, ihre Verpflichtungen zur gemeinschaftlichen Verteidigung durchzusetzen – und ihre Ostflanke zu stärken, die den Großteil des Westbalkans umfasst. Obwohl allgemein erwartet wurde, dass der Stellvertreterposten an eine Repräsentantin aus Osteuropa vergeben werden würde, hat die NATO durch die Wahl von Šekerinska ein starkes Signal gesetzt. Mit ihrem tiefen Verständnis für die komplexen Dynamiken des Westbalkans stärkt sie nicht nur die Führungsstruktur des Bündnisses, sondern bietet der Region auch eine Stimme, die lokale Gegebenheiten mit globalen Prioritäten verknüpfen kann.

Šekerinskas Bilanz als Verteidigungsministerin von Nordmazedonien zeigt, warum ihre Ernennung so wichtig ist. Die 52-jährige Politikerin spielte eine zentrale Rolle bei der Aufnahme ihres Landes in die NATO, denn sie setzte die komplexen Reformen der Streitkräfte um. Das kleine Land, das 2020 als 30. Mitglied in die NATO aufgenommen wurde, vermochte seine militärische Integration in die Allianz unter ihrer Führung in weniger als 19 Monaten zu bewältigen. Zu Beginn ihrer Karriere wurde Šekerinska als Vertreterin der Sozialdemokratischen Partei Mazedoniens damit betraut, die europäische Integration ihres Landes durchzuführen, nachdem die Regierung 2002 erstmals ein solches Ministerium eingeführt hatte. Sie war ebenfalls wesentlich daran beteiligt, 2005 den EU-Kandidatenstatus für Nordmazedonien zu erlangen.

Der Westbalkan bleibt weiterhin zersplittert.

Ihre Führungsstärke, als das Land den langjährigen Namenskonflikt mit Griechenland endlich beilegen konnte, ging weit über bürokratische Erfolge hinaus. Nordmazedonien konnte sich als verlässlicher NATO-Partner etablieren und nahm an wichtigen Missionen im Kosovo, Irak und Afghanistan teil.

Für den Westbalkan bringt Šekerinskas neues Amt auch die unerwartete Gelegenheit, die Politik der NATO im Inneren des Verteidigungsbündnisses mitzubestimmen und für Lösungen zu werben, die den einzigartigen Herausforderungen und Zielen der Region gerecht werden. Die Herausforderungen, die von der Abwehr hybrider Bedrohungen bis zum Umgang mit Einflussnahmen von außen reichen, überschneiden sich in vielen Teilen mit den allgemeinen strategischen Anliegen der NATO. Mit Šekerinska bekommt die Allianz eine Führungspersönlichkeit, die die Perspektiven der Westbalkanländer versteht und für Lösungen werben kann, die sowohl der Region als auch der gesamten atlantischen Gemeinschaft nutzen werden.

Der Westbalkan bleibt weiterhin zersplittert und steht zugleich vor großen Herausforderungen, wie den Spannungen im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina und den ungleichmäßigen Fortschritten hin zur euro-atlantischen Integration. Die Ernennung Šekerinskas kann nun als Symbol der Einigung gelten und zeigen, dass auch Politikerinnen und Politiker aus dieser Region Spitzenposten in internationalen Institutionen bekleiden können, wenn sie auf pragmatische, reformorientierte Politik setzen, was sie in verschiedenen Ämtern in Nordmazedonien bereits unter Beweis gestellt hat.

Vor allem dank ihrer Erfahrungen bei der Verhandlung entscheidender Abkommen, wie des Prespa-Vertrags mit Griechenland, kann Radmila Šekerinska als Vorbild für die Zusammenarbeit in der Region dienen. Da sie die Fähigkeit besitzt, auch langjährige historische Hindernisse zu überwinden, kann sie andere Länder des Westbalkans inspirieren, ebenfalls auf Versöhnung und Zusammenarbeit zu setzen, und ihre Beziehungen untereinander und innerhalb des Nordatlantikpakts zu verbessern.

Die Länder des Westbalkans haben in den vergangenen fast drei Jahren sehr unterschiedlich auf Russlands Versuche reagiert, seinen westlichen Nachbarn unter Kontrolle zu bringen. Während führende Politikerinnen und Politiker in Ländern wie Kroatien und Nordmazedonien den russischen Einmarsch verurteilten, pflegt Serbien, die größte Volkswirtschaft der Region, weiterhin ein freundschaftliches Verhältnis zu Russland. Diese Divergenz verdeutlicht das bestehende Ungleichgewicht auf dem Westbalkan, sowohl in der Wahrnehmung der Situation in der Ukraine als auch in den entsprechenden politischen Reaktionen.

Der Westbalkan galt oft als Schwachstelle Europas.

Deshalb hat Šekerinskas Ernennung auch über den Westbalkan hinaus Gewicht, vor allem für die Ukraine. Nordmazedonien ist einer der verlässlichsten Unterstützer Kiews in der Region, sandte Militärhilfe und schloss sich der solidarischen Haltung der NATO gegen die russische Aggression an. Pro Kopf gerechnet, zählt Nordmazedonien zu den vier NATO-Ländern, die die Ukraine am stärksten militärisch unterstützten. Trotz seiner geringen Größe schickte das Land 30 Panzer vom Typ T-72, zwölf Mi-24-Kampfhubschrauber, vier Su-25-Kampfflugzeuge sowie Munition und weitere wichtige Ausrüstung.

Jetzt kann Šekerinska in ihrem neuen Amt diese Hilfen noch ausweiten und die Grundlagen für eine besser koordinierte Unterstützung der Ukraine durch den Westbalkan schaffen. Für die NATO ist dies ein klares Zeichen, dass auch kleine Verbündete großen Einfluss nehmen können. Die Entscheidung ist zugleich eine wichtige Botschaft an Kiew: Die Unterstützung der NATO reicht über ihre Mitgliedstaaten hinaus, und auch kleine Länder können in dieser Gemeinschaftsanstrengung eine wichtige Rolle spielen.

Der Westbalkan galt oft als Schwachstelle Europas, weil die Region von zahlreichen inneren Rissen durchzogen und für äußere Einflussnahme anfällig ist, vor allem für russische Propaganda. Die Berufung einer Vertreterin der Region an die Spitze der NATO-Hierarchie widerlegt dieses Narrativ und beweist, dass der Westbalkan auch Führungspersönlichkeiten hervorbringt, die wesentliche Beiträge zur globalen Sicherheit leisten können. Sie zeigt auch, was die Länder des Westbalkans erreichen können, wenn sie Reformen angehen und sich den transatlantischen Werten anschließen. Zugleich ist diese Ernennung ein Zeichen dafür, dass die Region nicht länger am Rande mitspielt, sondern fortan als strategischer Partner betrachtet wird.

Das bietet den Ländern des Westbalkans die Gelegenheit, ihre Rolle in der Sicherheitslandschaft Europas und der Welt neu zu definieren und mehr Einfluss zu nehmen. Die NATO wiederum gewinnt eine erfahrene Politikerin, die unter Beweis gestellt hat, dass sie Übereinkommen erzielen und Ergebnisse liefern kann.

Für die Ukraine bedeutet Šekerinskas Ernennung, dass die Einigkeit der NATO durch Beiträge aller Mitgliedstaaten gestärkt wird, unabhängig von deren Größe oder geografischer Lage. Ihre Amtsübernahme markiert eine Wende – nicht nur für sie und Nordmazedonien, sondern für den gesamten Westbalkan. Sie zeigt, dass die Region jetzt bereit ist, auf internationalem Parkett aufzutreten.

Aus dem Englischen von Sabine Jainski