Wenn die Außenminister der NATO am Dienstag (4.12) zu ihrer Herbsttagung zusammen kommen, wird es auch um die Zukunft von Abrüstung und Rüstungskontrolle gehen. Nachdem die USA offenbar geheimdienstliche Erkenntnisse vorgelegt haben, soll dort eine Erklärung verabschiedet werden, die Russland den Bruch des INF-Vertrages vorwirft. Bereits am 20. Oktober hatte Präsident Trump angekündigt, aus dem Vertrag auszusteigen, der Washington und Moskau den Besitz und die Stationierung landgestützter Mittelstreckenwaffen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern verbietet. Der INF-Vertrag von 1987 gilt zu Recht als Meilenstein und als wesentliches Kernelement kooperativer Sicherheit in Europa, weil er erstmals eine ganze Kategorie gefährlicher Raketensysteme komplett beseitigte.

Zusammen mit der bereits erfolgten Kündigung des Iran-Abkommens und der im Jahr 2021 womöglich ausbleibenden Verlängerung des noch wichtigeren sogenannten New START-Abkommens, das die Anzahl der strategischen Atomwaffen begrenzt, droht ein völliger Zusammenbruch der internationalen Rüstungskontrollarchitektur mit unabsehbaren Folgen für die globale Sicherheit. Sollte New START tatsächlich nicht verlängert werden, gäbe es zum ersten Mal seit 1972 keine rechtlich bindenden und überprüfbaren Begrenzungen der amerikanischen und russischen Nukleararsenale mehr. Wir könnten am Beginn eines neuen nuklearen Rüstungswettlaufs stehen. Die rasante technologische Entwicklung immer neuer Waffensysteme, für die es noch keinerlei Regelwerke gibt, und das Verschwimmen der Grenzen zwischen konventionellen und nuklearen Bedrohungen stellen uns zudem vor ganz neue rüstungskontrollpolitische Herausforderungen.

Das Ergebnis könnte ein sicherheitspolitisch heillos zerstrittenes Europa und eine gespaltene NATO sein. Dies wiederum liegt derzeit durchaus im gemeinsamen Interesse von Trump und Putin.

Zurückgekehrt ist vor allem das nukleare Denken. Hatte die Obama-Administration kurzzeitig sogar das Ende der Drohung mit einem nuklearen Erstschlag erwogen und gänzlich auf die atomare Bewaffnung von seegestützten Marschflugkörpern verzichtet, wurde unter Trump die Fähigkeit und der Wille zur atomaren Kriegsführung wieder in die US-Nukleardoktrin aufgenommen, die zunehmend auf kleinere und präzisere Atomwaffen setzt. Allein für die Modernisierung des amerikanischen Atomwaffenarsenals sind für die nächsten 30 Jahre unglaubliche 1,7 Billionen US-Dollar eingeplant. Und der russische Präsident Putin drohte bereits mehrfach mit dem Einsatz russischer Atomwaffen und gab den Startschuss zur Erneuerung der russischen Nukleararsenale. Wenn andere Länder ebenfalls in vergleichbaren Abschreckungskategorien denken, könnte dies in Zukunft sogar die atomaren Neurosen und Bedrohungsspiralen aus der Zeit des Kalten Krieges in den Schatten stellen.

Denn mittlerweile entwickeln immer mehr Länder ballistische Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper, von denen viele Atomwaffen tragen können. Eine Universalisierung des INF-Vertrages wurde deshalb bereits in der Vergangenheit sowohl von Russland als auch den USA immer mal wieder ins Gespräch gebracht. Bereits 2008 unternahmen sie einen vergeblichen Versuch bei den Vereinten Nationen, den Vertrag zu internationalisieren und vor allem China mit einzubeziehen. Beide Länder fühlen sich durch die Aufrüstung in Asien bedroht. In erster Linie von China, aber auch von Iran, Indien und Pakistan. Doch selbst wenn es gelingen sollte, China in ein trilaterales oder multilaterales Vertragswerk einzubinden, bleibt die Frage, was denn Amerikaner und Russen im Gegenzug anbieten könnten. Denn kämen die chinesischen Fähigkeiten tatsächlich unter einen multilateralisierten INF-Vertrag, wie er Trump vorschwebt, müsste China 80 Prozent seines Arsenals vernichten. An solch einer radikalen Einschränkung seiner Abschreckungsfähigkeit hat China naturgemäß kein Interesse und sieht vor allem die nuklearen Großmächte Russland und die USA in der Pflicht abzurüsten. Es spricht deshalb einiges dafür, dass die Vereinigten Staaten und Russland das gemeinsame längerfristige Ziel haben, sich aus den Fesseln des INF-Vertrages zu befreien.

Noch hat die US-Regierung den Vertrag weder formal suspendiert noch gekündigt. Die europäischen NATO-Staaten sollten auf dem Außenministertreffen eine gemeinsame Position einnehmen und der US-Administration klar machen, dass sie ein zentrales Interesse am Erhalt des INF-Vertrages haben und eine Neustationierung von amerikanischen Nuklearwaffen in Europa ablehnen. Und die NATO insgesamt sollte Russland dazu auffordern, die Standorte seiner vermuteten INF-vertragsverletzenden Systeme offen zu legen und für Inspektionen zu öffnen.

Spätestens jetzt ist offensichtlich, dass die einseitige Stationierung der US-amerikanischen Raketenabwehr in Osteuropa und die Kündigung des ABM-Vertrages über die Begrenzung derartiger Systeme durch den ehemaligen Präsidenten George W. Bush als ein großer Vertrauensbruch gegenüber Russland wahrgenommen wurde. Die Belastungen sind bis heute spürbar. Europa muss der Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens entschieden entgegentreten und darauf bestehen, gegenseitige Anschuldigungen transparent und kooperativ zu überprüfen.

Deutschland und Europa dürfen niemals wieder zum Austragungsort atomarer Kriegsspiele werden. Mit der SPD wird es jedenfalls keine neuerliche Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland geben.

Sonst droht die Rückkehr einer Aufrüstungs- und Stationierungsdebatte, wie wir sie aus den Hochzeiten des Kalten Krieges kennen. Sollten beispielsweise Polen und Balten in bilateralen Verträgen der Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen auf ihrem Territorium zustimmen, wird dies in erster Linie die Sicherheit der Länder Europas bedrohen. Das Ergebnis könnte eine neue Nachrüstungsdebatte, ein sicherheitspolitisch heillos zerstrittenes Europa und eine gespaltene NATO sein. Dies wiederum liegt derzeit durchaus im gemeinsamen Interesse von Russen und Amerikanern oder korrekter von Wladimir Putin und Donald Trump. Und genau dies müssen wir Europäer mit allen Kräften versuchen zu vermeiden!

Die Kündigung des INF Vertrages wäre nicht nur ein tiefer Einschnitt in den Bestand der vertraglichen Rüstungskontrolle. Der Schritt ruft diejenigen Geister zurück, die glauben, ein atomarer Krieg sei führ- und gewinnbar. Sowohl die russische als auch die US-Regierung haben Atomwaffen wieder zu Kriegsführungswaffen gemacht. Unter diesen Voraussetzungen stellt sich die Nachfolgefrage für das Trägermittel Tornado, das mit in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen bestückt werden kann, für die Bundesregierung völlig neu und bedarf der sorgfältigen Erörterung. Es kann nicht sein, dass wir Präsident Trump für seine gefährliche Politik neue Mittel an die Hand geben oder gar als Stationierungsort für neue Mittelstreckenraketen dienen. Alle Anstrengungen müssen auf neue Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge gerichtet sein, unter Einbeziehung der Raketenabwehr.

Deutschland hat sich deshalb völlig zu Recht in den nächsten beiden Jahren vorgenommen, als nichtständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates die Krise der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Denn Deutschland und Europa dürfen niemals wieder zum Austragungsort atomarer Kriegsspiele werden. Mit der SPD wird es jedenfalls keine neuerliche Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland geben. Vielmehr müssen wir alles dafür tun, damit das Denken in nuklearen Kategorien nicht wiederkehrt und sich nicht abermals ein atomarer Schatten über Europa legt.