Man hätte sich gewünscht, dass das 75-jährige Jubiläum der NATO anders verlaufen wäre. Staats- und Regierungschefs, die sich im gewohnten Gipfelzeremoniell über die guten alten Zeiten unterhalten und das einst so wichtige, aber heute obsolete Verteidigungsbündnis in großen Reden würdigen.
Statt Feier war es aber ein hartes Arbeitstreffen einer neuerlich mit Leben und Bedeutung aufgeladenen Organisation, die zwei neue Staaten in ihren Reihen begrüßte und deren Mitglieder erstmals seit langem mehrheitlich wieder planen, die Vorgaben von mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung einzuhalten. Die NATO erlebt eine Bedeutungsaufwertung, getrieben durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und die wachsenden Ambitionen Chinas. Trotz der zum Teil recht unterschiedlichen Positionen der 32 Mitglieder zeigt sich die NATO einig in seiner Einschätzung der Lage und der Bereitschaft sich dagegen zu wappnen.
Also alles bereit für die nächsten 75 Jahre? Bereits die Sicht auf die näherliegenden Jubiläen wird von dunklen Wolken getrübt. Ein Teil der Beschlüsse zur Ukraine soll die Unterstützung „Trump-sicher“ machen. Dies beschreibt bereits das Grundproblem der Europäer. Unsicherheit über die Zukunft der US-Außenpolitik einerseits und die weiterhin massive Abhängigkeit Europas für seine Sicherheit von dieser Politik andererseits.
Von den 1,304 Billionen Euro Verteidigungsausgaben der NATO im Jahr 2023 tragen die USA ganze 875 Milliarden allein und zu großen Teilen für Aufgaben außerhalb Europas. Der Rest verteilt sich auf die 31 übrigen Mitglieder. Diese Aufteilung ist einer der zahlreichen Gründe, warum die simple Mengenlogik à la „aber wir geben doch so viel mehr als Russland aus“ nicht funktioniert. Was zählt sind die militärischen Fähigkeiten, da wo sie benötigt werden.
Und genau da ist der europäische Kontinent mit seinen zahlreichen kleinen Boutiquearmeen nicht gut aufgestellt. Ohne amerikanische Hilfe werden aus den europäischen Einzelteilen noch keine abschreckungsfähige Armee, können Truppen und Material nicht ausreichend schnell verlegt werden, sind Information, Analyse und Kommando nicht gesichert. Europa kann sich im Angriffsfall zwar wehren, aber ohne die einende Struktur der NATO und der US-amerikanischen Unterstützung wäre ein Sieg in einem hochintensiven Krieg eher fraglich.
Die NATO bleibt auf absehbare Zeit der wichtigste Sicherheitsgarant für Europa.
Die NATO bleibt auf absehbare Zeit der wichtigste Sicherheitsgarant für Europa. Und zugleich werden die USA aller Voraussicht nach weniger aktiv in Europa sein. Die eigentliche Herausforderung der Amerikaner ist auf der anderen Seite des Pazifiks, nicht des Atlantiks.
Es hilft nichts, die Europäer müssen mehr für ihre eigene Sicherheit tun. Soll also heißen „Mehr, mehr, mehr“ für Rüstung ausgeben? Ja, aber anders als bisher. Wenn die Verteidigungsausgaben nicht schneller wachsen sollen als die effektive Verteidigungsfähigkeit, müssen mittelfristig Investitionen in die Verteidigung abgestimmter erfolgen. Europa leistet sich einen Verteidigungspluralismus, der ganz viel nationale Souveränität ausstrahlt, aber eine sinnvolle gemeinsame Handlungsfähigkeit erschwert. Während in der EU 17 verschiedene Kampfpanzer von sechs verschiedenen Herstellern Verwendung finden, kommen die Amerikaner mit einem aus. Was das im Kriegsfalle für Logistik, Instandsetzung und Einsatzfähigkeit bedeutet, liegt auf der Hand. Vor allem aber ist es teuer. Die europäischen Nationen halten, aus jeweils auch immer gut nachvollziehbaren Gründen, mit Subventionen oder vergleichsweise hohen Einkaufspreisen eigene Bonsaiindustrien aufrecht, um Arbeitsplätze oder Schlüsselindustrien im eigenen Land zu halten. Industriepolitisch ist das nachvollziehbar, für eine funktionierende europäische Verteidigung ist das allerdings weniger von Vorteil.
Es braucht ein anderes Gleichgewicht zwischen nationalen wirtschaftlichen Interessen und europäischer Verteidigungsfähigkeit. Manchmal muss man auch akzeptieren, dass notwendige Technologien vom Nachbarn besser hergestellt werden können. Oder aber man muss auch mal befördern, dass die eigene Technologie in anderen EU-Staaten produziert wird und dort Arbeitsplätze schafft, bevor dieser sich eine außereuropäische Lizenzproduktion ins Land holt und die Pluralität der Rüstungsgüter weiter vergrößert. Kurz, es braucht eine strategische Rüstungsindustriepolitik, die europäische Verteidigungsfähigkeit im Blick hat.
Das Einzige, was wirklich sicher ist in einer sich kontinuierlich verändernden Weltordnung: Die Geografie Europas wird sich nicht verändern. Die hiesigen Länder werden weiterhin die Geschicke des Kontinents lenken müssen. Und hier gilt es zunächst eine glaubwürdige Abschreckung Russlands zu erreichen. Dabei ist es ein Stück weit egal, für wie wahrscheinlich man es hält, ob und wann Russland die NATO-Solidarität etwa im Baltikum testen könnte. Es gilt zu verhindern, dass die USA eines Tages eventuell weg und die EU-Mitgliedsstaaten verteidigungspolitisch noch nicht ganz da sind. Denn wenn uns der Krieg in der Ukraine eines gelehrt hat, dann dass Russland gerne überrascht und schnell handelt, wenn es die andere Seite als schwächer wahrnimmt. Diese Rechnung gilt es zu verändern, indem klar signalisiert wird, nicht nur die USA, sondern auch die Europäer selbst können für Sicherheit auf dem Kontinent sorgen.
Es gilt die Stärke Europas, Einheit in Vielfalt, auch in der Verteidigung zum Tragen zu bringen.
Es gilt die Stärke Europas, Einheit in Vielfalt, auch in der Verteidigung zum Tragen zu bringen. Es braucht mehr Konsolidierung ohne sich von einigen wenigen Zulieferern abhängig zu machen und es braucht Standardisierung auf dem Binnenmarkt, um den Wettbewerb zu fördern.
Ausgehend von einer gemeinsamen Analyse, auf welche Szenarien wir uns in Europa vorbereiten, müssen die bereits funktionierenden Kooperationen innerhalb und außerhalb der EU vorangebracht werden. Erfolgreiche Projekte, wie die Beschaffungsgemeinschaft OCCAR, die Kooperation von Norwegen und Deutschland bei den U-Booten im „Common Design“ oder die Sky Shield-Initiative zur gemeinsamen Raketenabwehr, gilt es weiter zu pflegen und auszubauen.
Langfristig braucht es aber mehr Koordination und Standardisierung, welche vor allem die EU leisten kann. Die Strukturen sind auch ohne einen Verteidigungskommissar bereits vorhanden, es fehlte bisher nur der politische Wille, diese auch zum Tragen zu bringen. Die EU kann zur Vereinheitlichung von Lizenzierungen und damit einem wirklichen Binnenmarkt in der Verteidigung bei einfachen Ausrüstungen und Ersatzteilen beitragen. Die Kosteneinsparungen wären enorm. Sie kann die Kräfte bündeln für die Forschung in einem sich rasend schnell verändernden technologischen Umfeld. Sie kann die Investitionen koordinieren, sodass eine jede Nation zur gemeinsamen Verteidigung explizit das beitragen kann, was es am besten kann und sich beim Rest auf die anderen verlässt.
So wichtig die NATO für die europäische Sicherheit ist, wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass sie uns auch in 75 Jahren noch gleichermaßen schützt. Den europäischen Pfeiler der NATO so stark zu machen, dass er gegebenenfalls auch allein trägt, muss das Ziel der europäischen Nationen in der nächsten Dekade sein. Das heißt vorerst mehr, und zwar erheblich mehr Investitionen in die Verteidigung. Aber wenn sie vorausschauend und gemeinsam gemacht werden, gehen sie nicht ins Uferlose, bringen Europa nochmals stärker zusammen und schaffen Sicherheit auf dem Kontinent und seiner Nachbarschaft. Und vielleicht wird die Feier zu 150 Jahren NATO dann ein würdiger, etwas langweiliger Akt in Erinnerung an ein in Friedenszeiten bereits obsolet gewordenes Bündnis.