Die Ex-Präsidentschaftskandidaten Elizabeth Warren und ihr demokratischer Kollege aus dem Repräsentantenhaus, Adam Smith, haben ein Gesetz in den Kongress eingebracht, das die USA dazu verpflichten soll, formal auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten. Der Gesetzesvorschlag hat die Debatte über Rüstungskontrolle und die heutige Nuklearwaffenstrategie erneut angeheizt.

Unter dem Prinzip „No first use“ (NFU) versteht man die offizielle Selbstverpflichtung einer Atommacht, auf einen Ersteinsatz nuklearer Waffen zu verzichten. Mit einer solchen Erklärung versichert der jeweilige Staat, dass er seine Atomwaffen nur für Vergeltungsschläge und nur gegen nukleare Angriffe einsetzt. Folglich werden diese Waffen nie für Präventivschläge oder zur nuklearen Erpressung verwendet.

Hier kommt eine Kritik am NFU-Ansatz ins Spiel, die überwiegend von erklärten Gegnern nuklearer Waffen und Befürwortern atomarer Abrüstung geäußert wird: Wenn Atomwaffen schon immer unmoralisch waren und seit der Annahme (Juli 2017) und dem Inkrafttreten (Januar 2021) des Vertrags zum Verbot von Atomwaffen (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons) auch illegal sind, dann stelle die Forderung nach dem Verzicht auf den Ersteinsatz einen Rückschritt dar. Denn damit werde gleich in drei entscheidenden Punkten gegen den Atomwaffenverbotsvertrag verstoßen: Man akzeptiere den fortgesetzten Besitz von Atomwaffen ebenso wie die Legitimität der nuklearen Abschreckung und den Einsatz solcher Waffen zur Vergeltung gegen einen Atomschlag.

Das Problem an dieser Kritik ist, dass sie das Beste zum Feind des Guten erklärt. Was ist gemeint? Es gibt mehr als 13 000 Atomwaffen. Ihre Beseitigung ist ein gemeinsames Ziel aller Abrüstungsbefürworter, muss aber sicher erfolgen – und das erfordert Zeit. Allerdings kommt von keiner einzigen der neun Atommächte derzeit auch nur das leiseste Signal, dass sie zu einer Eliminierung bereit wäre.

Die Beseitigung von Atomwaffen ist ein gemeinsames Ziel aller Abrüstungsbefürworter, muss aber sicher erfolgen – und das erfordert Zeit.

Zwar gewährleistet nur eine vollständige Abrüstung, dass Atomwaffen nicht eingesetzt werden, doch bis es so weit ist, gilt es, das Risiko eines absichtlichen, irrtümlichen oder versehentlichen nuklearen Einsatzes zu verringern. Machen wir uns nichts vor: Die Gefahr eines Atomkriegs ist real und ist in Europa, im Nahen Osten, im Pakistan-Indien-China-Dreieck, auf der koreanischen Halbinsel und in Ostasien in den letzten Jahren sogar noch gestiegen.

Kritik an einer Selbstverpflichtung im Sinne des NFU kommt auch aus den Atomwaffenstaaten. Einerseits vertreten sieben von ihnen die Überzeugung, dass durch einen Verzicht auf den Ersteinsatz in unserer realen nuklearen Welt – anders als in der Welt, in der wir gern leben möchten – die Risiken noch steigen. Andererseits argumentieren sie, dass die Selbstverpflichtung im Grunde wirkungslos bleibe, ein leeres, nicht durchsetzbares Versprechen, das über eine Absichtserklärung nicht hinausgehe.

Beide Einwände sind unzutreffend. Der Verzicht auf den Ersteinsatz bringt nur geringe militärische Nachteile mit sich. Anders als die üblichen Rüstungskontrollmaßnahmen kann er jedoch einseitig ohne mühsame Verhandlungen erfolgen. China und Indien bekennen sich bereits zum Verzicht auf den Ersteinsatz und unterfüttern die Glaubwürdigkeit dieses Versprechens mit Standards, Doktrinen und der Art der Stationierung ihrer Atomstreitkräfte.

Das war wohl auch der Grund, warum im Juni 2020 bei der gefährlichsten militärischen Konfrontation seit 1967 keiner der beiden Staaten fürchten musste, die Schwelle zum Atomschlag zu überschreiten. Der Verzicht auf den Ersteinsatz war ein wirkungsvoller Krisenstabilisator.

China und Indien bekennen sich bereits zum Verzicht auf den Ersteinsatz.

Kritik am NFU-Konzept kommt schließlich auch von Verbündeten, die unter dem US-Atomschirm Schutz suchen. Sollte der Schirm geschlossen und entfernt werden, warnen Kritiker einer Selbstverpflichtung, würden manche Länder eine unabhängige nukleare Abschreckung ins Visier nehmen. Tatsache aber ist, dass jeder Atomwaffeneinsatz das Tor zur Hölle weit öffnen und die alles verzehrenden Flammen keine geografischen Grenzen kennen würden. Die ersteinsatztaugliche Struktur der Nuklearkräfte ist ein Vermächtnis aus dem Kalten Krieg. Sie verliert an Logik, sobald Atomwaffen wirklich zum Einsatz kommen und die Abschreckung aus Friedenszeiten in der Realität keine Rolle mehr spielt, sondern ein echter Atomkrieg tobt.

Ob der US-Atomschirm die Sicherheit der Verbündeten und ob die nukleare Abschreckung die nationale Sicherheit der USA gewährleisten kann, hängt jedoch in erster Linie von der Zweitschlagfähigkeit ab – also davon, ob das Land bei einem Atomangriff auf das Territorium der USA oder seiner Alliierten einen Vergeltungsschlag durchführen kann. Andererseits sind keine Umstände vorstellbar, unter denen Washington zu einem Erstschlag aufgefordert werden könnte.

Wenn der Gegner keine Atomwaffen besitzt, würde der Einsatz von Atomwaffen einen so hohen moralischen und politischen Preis fordern, dass die Androhung eines Erstschlags nicht glaubhaft wäre. Ist der Gegner eine Atommacht und verfügt nachweislich über eine Zweitschlagfähigkeit, ist die Androhung eines Ersteinsatzes gleichermaßen unglaubwürdig, weil in dem daraus entstehenden Atomkrieg das Territorium der Verbündeten völlig zerstört würde. Was sollten die Verbündeten daran beruhigend finden?

Die einzige vernünftige Strategie besteht darin, mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen zu drohen, ihn aber nicht durchzuführen. Wenn es allerdings einem nationalen Selbstmord gleichkäme, die Drohung wahr zu machen, ist sie eben nicht glaubwürdig, und eine nicht glaubwürdige Drohung vermag nicht abzuschrecken.

Tatsache aber ist, dass jeder Atomwaffeneinsatz das Tor zur Hölle weit öffnen und die alles verzehrenden Flammen keine geografischen Grenzen kennen würden.

Wichtig ist somit nicht die Ersteinsatzdoktrin, sondern eine glaubwürdige Zweitschlagfähigkeit. Die Selbstverpflichtung zum Verzicht auf den Ersteinsatz führt, gestützt durch eine geeignete Strategie und Stationierung der Atomstreitkräfte, maßgeblich von einer Politik des maximalen Risikos weg und bürdet die Last der Eskalation dem Gegner auf.

Der Verzicht auf den Ersteinsatz vereinfacht auch ansonsten schwierige Entscheidungsprozesse. Ein großes Netz an Stützpunkten wird ebenso überflüssig wie ein Launch on Warning – das Erteilen des Startbefehls unmittelbar nach Eintreffen einer Alarmmeldung – und die Vorab-Übertragung von Befugnissen an Kommandanten vor Ort; dadurch wird ein versehentlicher und unautorisierter Atomwaffeneinsatz deutlich unwahrscheinlicher.

Die Selbstverpflichtung würde den Abzug taktischer US-Waffen aus Europa erleichtern, und sie wirkt einer Kriseninstabilität entgegen, da sie die Entscheidungsträger von dem Druck entlastet, ihr nukleares Arsenal einzusetzen, um es nicht zu verlieren („use or lose“). Während also eine erstschlagtaugliche militärische Aufstellung die Gefahren einer Krise zwischen den Atommächten erhöhen kann, weil sie Anreize für einen Präventivschlag setzt, um einen sogenannten Enthauptungsschlag zu vermeiden, kann der explizite Verzicht auf einen Ersteinsatz diese Gefahren bannen.

Kritiker unterschätzen den potenziellen Nutzen eines Ersteinsatzverzichts und bauschen mögliche militärische und diplomatische Nachteile auf. Eine NFU-Selbstverpflichtung garantiert den Nichteinsatz von Atomwaffen ebenso wenig wie eine Ersteinsatzstrategie, doch im Vergleich dazu wirkt sie Versuchungen und nuklearen Drohgebärden entgegen und stärkt die strategische Stabilität. Truppen und Infrastruktur einer Atomstreitmacht würden so aufgestellt, dass sie für Offensivszenarien nicht geeignet sind.

Ein glaubhafter Verzicht auf den Ersteinsatz brächte es mit sich, dass Ziele nicht von vornherein ins Visier genommen, Warnstufen abgesenkt und Modernisierungspläne auf Eis gelegt werden. Eine solche Selbstverpflichtung würde zudem die normative Kraft des Tabus stärken, die Illegitimität eines jeden Erstschlags unterstreichen und die Geltung von Atomwaffen beschränken.

Truppen und Infrastruktur einer Atomstreitmacht würden so aufgestellt, dass sie für Offensivszenarien nicht geeignet sind.

Doktrinen und Strategien der Atomwaffenstaaten haben eine starke Wirkung auf alle anderen Länder. Vor allem die USA üben mit der Doktrin und dem Konzept ihrer Atomstreitkräfte und dem deklaratorischen Charakter ihrer Nuklearpolitik einen Legitimationssog auf andere Atommächte aus – wie könnte es auch anders sein? Würde diese deklaratorische Politik durch echte Maßnahmen gestützt, könnten sich andere Staaten sicherer sein, dass sie keinen Enthauptungserstschlag fürchten müssen.

Die USA könnten gemeinsam mit China und Indien auf die Verabschiedung einer weltweiten Konvention über den Verzicht eines Ersteinsatzes hinwirken, die das Kernstück eines Systems atomarer Zurückhaltung bildet. Das Risiko vertikaler Proliferation unter Gegnern, die einen Überraschungsangriff fürchten, wie auch die horizontale Verbreitung unter Staaten, die noch keine Atomwaffen besitzen, würde sinken. Zudem würden auch Streitkräftestrukturen, die den Ersteinsatz ermöglichen, Fähigkeiten zum präemptiven Nuklearwaffeneinsatz und destabilisierende Strategien zur Kriegsführung eingedämmt.

Auf diese Art könnte auch den humanitären Belangen der Welt Rechnung getragen werden. Nachdem Donald Trump als Disruptor-in-Chief vier Jahre lang die globale Atomordnung aufgemischt hat, könnten sich die USA mit einem Ersteinsatzverzicht wieder als verantwortungsbewusster Hüter der Weltordnung positionieren.

Die wiedergewonnene moralische Autorität könnte dem Land Glaubwürdigkeit verleihen, wenn es seine Position als führende Atommacht wieder einnimmt und beispielsweise Resolutionen parallel im Sicherheitsrat und in der Vollversammlung der Vereinten Nationen unterstützt. Eine solche Haltung würde bekräftigen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf.

Aus dem Englischen von Anne Emmert