Nach einschneidenden politischen Richtungswechseln wie der Präsidentschaft von Donald Trump in den Vereinigten Staaten steht im globalen Diskurs eine entscheidende Frage wieder im Raum: Wie lassen sich demokratische Institutionen schützen, und wie können progressive Akteure hieran mitwirken? Europa ist gleichzeitig mit rechtsextremen und extremistischen Ideologien konfrontiert, die sich auf dem gesamten Kontinent ausbreiten. Demokratische Kräfte in Ländern wie Polen, Ungarn und der Türkei stellen sich diesen Herausforderungen nicht nur, sondern lernen aus ihren Erfahrungen und entwickeln mögliche Lösungsansätze. Statt über populistische Politik nur besorgt zu sein, können Demokraten und Progressive überall auf der Welt Strategien gegen den Populismus entwickeln, indem sie sich eingehend mit dem populistischen Drehbuch befassen und wirksame Gegenmaßnahmen ergreifen.

Es gehört zu den immer wieder angewandten Strategien von Populisten und Autokraten, die Außenpolitik innenpolitisch zu instrumentalisieren und damit noch mehr zu polarisieren und zu spalten. Der seit zwei Jahrzehnten amtierende türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist dafür ein Paradebeispiel.

Zwar konnte die Opposition bei den Kommunalwahlen 2024 beachtliche Erfolge erzielen, aber das Narrativ der türkischen Parlamentswahlen war durch das Thema Sicherheit und durch Polarisierung bestimmt. Präsident Erdoğan, der mit strukturellen Problemen der Politikgestaltung zu kämpfen hat, die zu Wirtschaftskrisen, wachsender Unsicherheit und zur Aushöhlung demokratischer Prinzipien führen, konnte sich bei den Wahlen 2023 gegen eine Koalition der Opposition durchsetzen. Er setzt weiterhin auf politisches Taktieren, um seine Macht zu festigen. Dass es der demokratischen Opposition nach wie vor nicht gelingt, dem Populismus entschieden entgegenzutreten, unterstreicht einmal mehr, wie schwierig es für Demokraten in aller Welt ist, Populisten die Stirn zu bieten.

Während Erdoğan die Außenpolitik der Türkei an bestimmten strategischen Interessen ausrichtet, nutzt er sie – in Kombination mit einer populistischen und aggressiven Rhetorik – vor allem in Wahlzeiten geschickt, um innenpolitisch Kapital daraus zu schlagen. Seit Beginn seiner Amtszeit verknüpft er internationale Beziehungen systematisch mit innenpolitischen Erfordernissen. Indem er regionale Konflikte für sich nutzt, die Verteidigungsindustrie zum Symbol des Nationalstolzes stilisiert und Wahlprozesse durch aggressive außenpolitische Narrative untermauert, festigt er sein Image als starker und unentbehrlicher Staatsmann. Diese Strategien sind weltweit typisch für populistische Staats- und Regierungschefs: Sie nutzen regionale Konflikte aus, schüren nationalistische Gefühle und inszenieren sich als alleinige Verteidiger der nationalen Souveränität, um ihre Basis zu mobilisieren – insbesondere in Zeiten innenpolitischer Unsicherheit oder im Wahlkampf.

Erdoğan bindet die außenpolitischen Aktivitäten der Türkei in seine innenpolitische Strategie ein.

Erdoğan bindet die außenpolitischen Aktivitäten der Türkei in seine innenpolitische Strategie ein und nutzt internationale Entwicklungen, um seine Position im Inland zu festigen. Indem er die Türkei unter den sich wandelnden Paradigmen im Nahen Osten als maßgeblichen Akteur in Stellung bringt, stellt er die Nation als unverzichtbaren Akteur dar, der auf die Stabilität der Region Einfluss nehmen kann.

Mit seinem Engagement für neue globale Initiativen wie die BRICS-Gruppe (den Zusammenschluss von Brasilien, der Russischen Föderation, Indien, China und Südafrika) signalisiert Erdoğan die Hinwendung zu einer eigenständigeren Außenpolitik und will dem Westen zeigen, dass er alternative Optionen hat. Dieses Vorgehen stößt auf nationalistische Resonanz und spricht Wählerinnen und Wähler an, die für eine starke, autonome Türkei statt für traditionelle westliche Bündnisse sind. Erdoğan jongliert mit den heiklen Beziehungen zur NATO, nutzt Spannungen oftmals zu seinem Vorteil und gibt sich als Regierungschef, der in der Lage ist, dem Druck des Westens standzuhalten und trotzdem wichtige strategische Beziehungen aufrechtzuerhalten. Dieser Balanceakt verschafft ihm bei seiner Wählerschaft das Image des versierten Staatsmannes, der die nationalen Interessen auf der weltpolitischen Bühne zu schützen weiß.

Ein markantes Beispiel ist Erdoğans lang anhaltender Widerstand gegen den NATO-Beitritt Schwedens. Er stellte seine ablehnende Haltung als prinzipienfeste Position gegenüber Ländern dar, die seiner Meinung nach terroristische Organisationen in ihrem Land dulden, und festigte damit sein Image als Staatsoberhaupt, dem die nationale Sicherheit wichtiger ist als internationaler Druck. Im Inland half ihm diese Widerstandshaltung, mit einer politischen Agenda von Wirtschaftsproblemen abzulenken und Rückhalt zu gewinnen, indem er die seit langem bestehende Frustration seiner Basis über die vermeintliche Doppelmoral des Westens aufgriff. Dass er Schwedens NATO-Mitgliedschaft am Ende doch zustimmte, nachdem Zugeständnisse gemacht und eine Sicherheitskooperation versprochen worden waren, ließ sich als diplomatischer Sieg und als Beweis für sein internationales Verhandlungsgeschick präsentieren.

Dass populistische Machthaber paradoxerweise „andere“ – auch untereinander – ins Visier nehmen, ist ein Mittel, um ihren Narrativen mehr Nachdruck zu verleihen und die eigene Basis zu mobilisieren. So erweckte zum Beispiel Donald Trump 2019 mit einem Brief an Erdoğan unter der Überschrift „Don’t be a fool“ („Sei kein Narr“) öffentlich den Eindruck, er ginge auf Konfrontationskurs, indem er Erdoğan auf sehr undiplomatische Weise vor Militäraktionen in Syrien warnte. Hinter den Kulissen jedoch hielten beide Staatschefs die Kommunikationskanäle offen und machten damit deutlich, dass aggressive Rhetorik mit der notwendigen pragmatischen Zusammenarbeit und Realpolitik durchaus Hand in Hand gehen kann. Diese Dynamik kommt dort zum Tragen, wo Transparenz und institutionelle Rechenschaftspflicht ausgehöhlt sind, sodass Staats- und Regierungschefs die öffentliche Meinung unkontrolliert beeinflussen können. In ähnlicher Weise illustriert Erdoğans an Griechenland gerichtete Warnung „Es kann sein, dass wir irgendwann in der Nacht plötzlich kommen“, wie man scharfe Rhetorik einsetzt, um die eigene Führungsposition zu behaupten und innenpolitisch Rückhalt zu gewinnen. Während solche Aussagen die mediale und öffentliche Stimmung anheizen, werden hinter verschlossenen Türen die diplomatischen Beziehungen oft fortgesetzt. In letzter Zeit verbessert die Türkei ihre Beziehungen zu Griechenland wieder.

Erdoğan stellt politische Probleme als existenzielle Bedrohungen dar und instrumentalisiert Ängste, um sich als einzig legitimer Garant nationaler Interessen zu positionieren.

Mit ihrer Außenpolitik betreiben populistische Staats- und Regierungschefs eine starke Versicherheitlichung und schüren die „Wir gegen die anderen“-Dichotomie, mit der sie ihre Basis mobilisieren. Erdoğan stellt politische Probleme als existenzielle Bedrohungen dar und instrumentalisiert Ängste, um sich als einzig legitimer Garant nationaler Interessen zu positionieren. Diese aggressive Pose wird mit der Zeit zur Normalität und weckt nationalistische Gefühle.

Aktuelle Themen wie die Kurdenfrage – der seit langem andauernde Kampf der kurdischen Minderheit in der Türkei um politische und bürgerliche Rechte – sowie die gefühlten Bedrohungen von außen und sogar das Schreckgespenst eines „Dritten Weltkriegs“ werden in diesem Zusammenhang wirksam ins Spiel gebracht. Neuerdings mehren sich die Anzeichen für eine mögliche Wiederaufnahme der Friedensgespräche mit kurdischen Gruppierungen, was einen deutlichen politischen Kurswechsel Erdoğans markiert. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch den Vorschlag seines Bündnispartners Devlet Bahçeli, des Vorsitzenden der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die pro-kurdische HDP solle direkte Gespräche mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Anführer der Terrororganisation Kurdische Arbeiterpartei (PKK), aufnehmen, um den langjährigen Konflikt zu beenden. Erdoğan bezeichnete diesen Vorstoß als „historische Chance“ und stellte sich damit als ein Staatsoberhaupt dar, das in der Lage ist, innere Konflikte zu lösen. Seine früheren Versuche, die Kurdenfrage zu lösen, setzten in den vergangenen Jahren sicherheitspolitisch vor allem auf zunehmende Unterdrückung der Kurden und Oppositionsgruppen.

Für die Zukunft wird erwartet, dass Erdoğan die Entwicklungen in Syrien innenpolitisch instrumentalisieren wird.

Bis zu dieser jüngsten Wende, die noch schwer einzuschätzen ist, hatte Erdoğan mit Militäroperationen in Syrien gegen kurdische Gruppen, die mit der PKK in Verbindung stehen, etwa mit den Operationen „Schutzschild Euphrat“, „Olivenzweig“ und „Quelle des Friedens“, gezielt nationalistische Ängste vor territorialer Zersplitterung wachgerufen und sein Image als entschlossener Staatschef aufpoliert, der die Grenzen und die Souveränität der Türkei verteidigen kann. Nach Assads Sturz konnte Erdoğan sein Ansehen als „starker Führer“ weiter festigen, indem er einen neuen Bezugsrahmen schuf und sich als „Eroberer von Aleppo“ inszenierte. Für die Zukunft wird erwartet, dass Erdoğan die Entwicklungen in Syrien innenpolitisch instrumentalisieren wird.

Dieses innenpolitische Taktieren fällt zeitlich mit verschärften regionalen Spannungen zusammen, insbesondere im Hinblick auf den anhaltenden Konflikt im Gazastreifen. Erdoğan suggeriert mit seiner Rhetorik zunehmend, Israels Vorgehen könnte so eskalieren, dass es zur unmittelbaren Bedrohung für die Türkei würde. Obwohl in den türkischen Medien laufend über die Aufrechterhaltung der Handelsbeziehungen der Regierung mit Israel debattiert wird, gibt sich Präsident Erdoğan, indem er Israel als „Terrorstaat“ bezeichnet und die westliche Unterstützung für seine Militäroperationen offen kritisiert, als Verteidiger der regionalen Stabilität wie auch der Interessen der Muslime im Allgemeinen und sichert sich so den Rückhalt der eigenen Bevölkerung.

Indem Erdoğan die wachsende Verteidigungsindustrie in den Fokus rückt, untermauert er seine innenpolitische Botschaft von Widerstandskraft und Unabhängigkeit. Der Erfolg einzelner im eigenen Land hergestellter militärischer Rüstungsgüter wie der Drohne Bayraktar TB2, die in Konfliktregionen wie in Bergkarabach, Syrien und Libyen eingesetzt wird, ist in den Medien ein großes Thema. So werden militärische Erfolge zum Symbol für Nationalstolz und technologische Überlegenheit.

Indem Erdoğan solche Errungenschaften herausstellt, stärkt er das Narrativ von der Türkei als aufstrebender Macht, die es mit den globalen Playern aufnehmen kann. Laut einer Studie des IstanPol-Instituts kommt diese Botschaft im gesamten politischen Spektrum gut an. Selbst Anhänger der Opposition erkennen die Verteidigungsindustrie oft als positiven Aspekt der türkischen Außenpolitik an. Die öffentliche Zurschaustellung der in der Türkei produzierten Rüstungserzeugnisse dient als starkes und sichtbares Symbol der Stärke und Unabhängigkeit und soll das Gefühl vermitteln, gemeinsam etwas erreicht zu haben und sich gegen vermeintliche Bedrohungen von außen behaupten zu können.

Indem er regionale Konflikte für sich nutzt, die Verteidigungsindustrie fördert und den Wahlprozess absichert, festigt Erdoğan sein Image als starker Anführer.

Unter Erdoğan wird die türkische Außenpolitik aktiv innenpolitisch genutzt, um Unterstützung zu mobilisieren und die politische Vorherrschaft zu behaupten. Indem er regionale Konflikte für sich nutzt, die Verteidigungsindustrie fördert und den Wahlprozess absichert, festigt Erdoğan sein Image als starker Anführer. Da die Türkei jedoch mit wirtschaftlichen Problemen und geopolitischen Umwälzungen zu kämpfen hat, wird dieses Vorgehen langfristig einen hohen Preis haben – sowohl im Inland als auch international.

Ein zentraler Schwachpunkt ist, dass es die demokratische Opposition in der Türkei nicht schafft, Erdoğans Narrativ vom „Starken Mann“ und seinem konfrontativen Ton gegenüber verbündeten Ländern und Staats- und Regierungschefs wirksam Paroli zu bieten. Das erhöht die Bereitschaft der Wählerinnen und Wähler, Erdoğans Selbstdarstellung als Beschützer zu akzeptieren – zumal in Zeiten der Unsicherheit und vermeintlichen Bedrohung. Vor den Wahlen im Jahr 2023 ergaben vom IstanPol-Institut durchgeführte Fokusgruppen, dass Erdoğans Selbstinszenierung als Verteidiger gegen „ausländische Agenten“ trotz der anhaltenden Wirtschaftskrise bei seiner Anhängerschaft sehr gut ankam. Dieses Narrativ gab ihm die Möglichkeit, innenpolitische Probleme in den Hintergrund rücken zu lassen und die Ängste der Bevölkerung so zu kanalisieren, dass sie seine Führung unterstützten.

Demokratische und progressive Kräfte müssen das populistische Drehbuch verstehen lernen und sich ihm wirksam entgegenstellen. Dabei sollten sie sich nicht nur mit den Taktiken von Machthabern wie Erdoğan auseinandersetzen, sondern auch ein überzeugendes alternatives Narrativ anbieten, das den Wünschen der Wählerinnen und Wähler nach Sicherheit, Stolz und Führungsstärke Rechnung trägt. Eine neue, integrative nationale Identität, die Vielfalt und Gefühle von Nationalstolz und Zugehörigkeit mit einschließt, kann dazu beitragen, gesellschaftliche Spaltungen zu überbrücken. Indem demokratische Kräfte ein kollektives Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, das mit Wertschätzung für alle Bürgerinnen und Bürger verbunden ist und sie einbezieht, können sie einer polarisierenden Rhetorik entgegenwirken und eine breitere Wählerschaft ansprechen. Mit einem solchen integrativen Nationalismus lässt sich ein Narrativ schaffen, das die Menschen eint, die kollektiven Errungenschaften der Nation feiert und die gemeinsame Zukunft neu denkt.

Aus dem Englischen von Christine Hardung