Etwa zehn Millionen Syrer sind auf der Flucht, von denen rund fünf Millionen Syrien verlassen haben. Von ihnen gelangen etwa zwei Prozent auf die Schiffe nach Europa. Diese kleine Gruppe besteht vermutlich nicht aus den Bedürftigsten. Um einen Platz auf einem Schiff zu ergattern, muss man sehr mobil sein, und auch über genügend Finanzkraft verfügen, um betrügerischen Schleusern mehrere Tausend Dollar zahlen zu können. Eine Lösung ist nur dann effizient, wenn sie nicht nur den zwei Prozent hilft, sondern den 98 Prozent. Die meisten von ihnen leben als Flüchtlinge in Syriens Nachbarländern: in Jordanien, im Libanon und in der Türkei. Das Kernproblem und der Schlüssel zur Lösung bestehen darin, diesen Menschen ein besseres Leben zu verschaffen.

Kürzlich besuchte ich Zaatari, das größte Flüchtlingslager in Jordanien. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen in Afrika war ich angenehm überrascht über die materielle Lebensqualität: Die UNHCR kümmert sich wirklich gut um die Flüchtlinge. Aber die Menschen haben keine Arbeitserlaubnis. Das hat zur Folge, dass das Lager eine gigantische „Wohlfahrtsstraße“ ist, in der die Bewohner nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihre Selbständigkeit verlieren. Als Arbeitslose büßen die Haushaltsvorstände nach und nach an Autorität ein: Ihre Töchter werden in die Prostitution getrieben und ihre Söhne zieht es zurück nach Syrien zu den gut zahlenden bewaffneten Gruppierungen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Flüchtlinge arbeiten, aber verständlicherweise will Jordanien nicht zulassen, dass sie mit den einheimischen Jordaniern um Arbeitsplätze konkurrieren. Daher halten sich die meisten Flüchtlinge mit illegalen Gelegenheitsbeschäftigungen über Wasser. Ebenso verständlich ist, dass Jordanien angesichts seiner besonderen und komplizierten Legitimitäts- und Autoritätslage in einer ständig von Unruhen heimgesuchten Region nicht will, dass die Syrer sich auf Dauer niederlassen. Aber die syrischen Flüchtlinge wollen ohnehin nicht für immer in Jordanien bleiben: Sie wünschen sich nichts sehnlicher, als in ihre Häuser in Syrien zurückkehren zu können.

 

Schon jetzt für die Zeit nach dem Krieg planen

Die EU könnte zur Lösung dieser Tragödie der Vertreibung beitragen, indem sie schon jetzt den Grundstein dafür legt, dass die syrische Wirtschaft nach Kriegsende schnell wieder aufgebaut werden kann. Wenn Syrien den üblichen Konfliktmustern folgt, wird in Teilen des Landes innerhalb der nächsten Jahre wieder Frieden herrschen. So ein Frieden nach einem Konflikt ist allerdings häufig unsicher: Die Schaffung von Arbeitsplätzen wirkt da stabilisierend. Die Grundlage für einen wirtschaftlichen Aufschwung im befriedeten Syrien kann jetzt durch die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten in den Nachbarländern gebildet werden. Beispielsweise befindet sich in nur zehnminütiger Entfernung vom Lager Zaatari ein riesiges, nahezu leeres Gewerbegebiet mit vollständiger Infrastruktur. Dies könnte zu einer Oase sowohl für syrische Unternehmen werden, die im Heimatland nicht mehr tätig sein können, als auch für eine Gruppe global tätiger Unternehmen, die für den europäischen Markt produzieren und sowohl Syrer als auch Jordanier einstellen. Die EU könnte hier mit einer Kombination aus Finanzhilfen und der Gewährung eines privilegierten Zugangs zum EU-Markt Anschub leisten.

Sobald in Syrien Frieden einkehrt, könnten die Unternehmen mit den dorthin zurückkehrenden Arbeitnehmern nach Syrien umsiedeln und gleichzeitig den Betrieb in Jordanien mit der jordanischen Arbeiterschaft erfolgreich weiterführen. Die jordanischen Behörden würden dieses Vorgehen sicherlich begrüßen, weil es sowohl eine glaubwürdige Alternative zur gefürchteten dauerhaften Ansiedlung der Syrer darstellt, als auch global tätige Unternehmen nach Jordanien lockt. Dieses Modell könnte in allen Nachbarländern Syriens nachgeahmt werden. Um effektiv zu sein, sollte diese Grundsteinlegung so dicht wie möglich an Syriens Grenzen erfolgen. Es wäre ein glaubhafter Hoffnungsschimmer für die fünf Millionen Vertriebenen, die aus dem Land geflohen sind, aber auch für die fünf Millionen Binnenvertriebenen. Sichere Zufluchtsorte jenseits der Grenze wären attraktiver und der wirtschaftliche Aufschwung würde sehr viel schneller gehen, sobald er möglich ist. Es würde die EU eine Menge Geld kosten, aber es wäre eine moralisch gut begründete Alternative zur gegenwärtigen blamablen Politik.

Gegenwärtig stellt die EU den Syrern das Paradies in Aussicht. Diese Politik ist so verantwortungslos, dass sie moralisch eher als fahrlässige Tötung denn als tugendhafte Rettung zu bezeichnen ist.

Denn die Boatpeople sind das Resultat einer beschämenden Politik, in der die Pflicht zur Rettung von einer gleichermaßen verlockenden moralischen Regel abgekoppelt wurde: „Führe uns nicht in Versuchung“. Gegenwärtig stellt die EU den Syrern das Paradies in Aussicht (in Deutschland zu leben), aber nur, wenn sie zuvor betrügerische Schleuser bezahlen und ihr Leben aufs Spiel setzen. Nur zwei Prozent erliegen dieser Versuchung, aber auf dem Weg ertrinken Tausende. Diese Politik ist so verantwortungslos, dass sie moralisch eher als fahrlässige Tötung denn als tugendhafte Rettung zu bezeichnen ist. Sie bringt nur Wenigen Glück, tötet Tausende und ignoriert Millionen. Natürlich müssen die Schiffbrüchigen aus dem Meer gerettet werden, aber dann sollten sie in sichere Flüchtlingslager gebracht werden, wo ihnen jetzt Arbeitsplätze angeboten werden und sie die Aussicht auf eine Rückkehr nach Syrien haben, sobald dort wieder Frieden herrscht. Erst wenn sich diese Maßnahmen etabliert haben, wird die EU ihren moralischen Seelenfrieden finden. So kann sie der Flucht- und Vertreibungskrise angemessen entgegenwirken und es wird niemand mehr ertrinken: Die Menschen werden gerettet, ohne ein Boot besteigen zu müssen.

Dieser Beitrag ist im englischen Original zuerst auf Social Europe erschienen.