Am 16. Dezember 2016 jährte sich zum 50. Mal die Verabschiedung der beiden grundlegenden UN-Menschenrechtspakte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen: des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) sowie des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt). Außenminister Frank-Walter Steinmeier hob im Jubiläumsjahr die große Bedeutung der Pakte für den internationalen Menschenrechtsschutz hervor. Doch die Kontrollverfahren des Sozialpakts hat die Bundesregierung bis heute nicht vollends akzeptiert. All jenen Menschen, die sich in Deutschland in ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte des Sozialpakts verletzt sehen, bleibt nach Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs eine Beschwerdemöglichkeit vor den Vereinten Nationen verwehrt.
Seit Jahren weigern sich die Bundesregierungen, ein entsprechendes Fakultativprotokoll zu ratifizieren, das ein solches Beschwerdeverfahren vorsieht, wie es bei anderen UN-Menschenrechtsabkommen üblich ist. Zwar kommen die Bundesregierungen ihren Berichtspflichten nach, berichten also dem entsprechenden UN-Ausschuss alle fünf bis sechs Jahre, wie Deutschland den Sozialpakt umsetzt. Doch mit einem Beschwerdeverfahren taten sich die Regierungen gleich welcher Couleur bislang schwer. Stets wurde Klärungs- und Prüfbedarf angemeldet: bei der Ausarbeitung (2003–2008), nach der Verabschiedung (2008) und nach Inkrafttreten (2013) des Fakultativprotokolls zum Sozialpakt. Deutlich ablesen lässt sich dies in den Menschenrechtsberichten und Menschenrechtsaktionsplänen der Bundesregierung, in denen mit schöner Regelmäßigkeit eine (intensive) Prüfung versprochen wird. Auch in der aktuellen Regierungsperiode versprach die Ministerin im federführenden Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Andrea Nahles, die Ratifizierung des Protokolls ernsthaft prüfen zu lassen. Doch die 2014 angekündigte Ratifizierungsinitiative im BMAS hat sich inzwischen in den Endlosschleifen der Prüfung verheddert. In der Opposition hatte die SPD die Ratifizierung noch selbst gefordert.
Angesichts des klaren Bekenntnisses der Bundesregierung zur Unteilbarkeit der Menschenrechte ist weniger die Ratifizierung als die Nicht-Ratifizierung des Fakultativprotokolls gerade zum Sozialpakt erklärungsbedürftig.
Angesichts des klaren Bekenntnisses der Bundesregierung zur Unteilbarkeit der Menschenrechte ist weniger die Ratifizierung als die Nicht-Ratifizierung des Fakultativprotokolls gerade zum Sozialpakt erklärungsbedürftig. Was spricht also dagegen? Und was ist von den Einwänden, soweit diese überhaupt öffentlich benannt werden, zu halten? Der prinzipielle – auch von deutscher Regierungsseite – in den 2000er Jahren vorgetragene Einwand, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte seien zu vage und nicht justiziabel genug, um in quasi-gerichtlichen Beschwerdeverfahren geprüft werden zu können, lässt sich heute nicht mehr halten. Zu weit sind die Kommentierungen dieser Rechte durch den UN-Ausschuss vorangeschritten, und zu viele gerichtliche Entscheidungen zu diesen Rechten sind auf nationaler und regionaler Ebene getroffen worden – und zwar im Verständnis davon, dass den Staaten ein weiter Ermessens- und Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung dieser Rechte zukommt. Einer rechtlichen Bewertung in einem Beschwerdeverfahren am ehesten zugänglich sind unzulässige staatliche Eingriffe in die Menschenrechte. Das kann das diskriminierende Vorenthalten öffentlicher Leistungen sein sowie die Untätigkeit oder das offenkundig unzureichende Handeln von Staaten beim Schutz und bei der Gewährleistung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Diese schützen die Menschen etwa vor ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, Diskriminierungen auf dem Arbeit- und Wohnungsmarkt und beim Zugang zu Bildung, zur Gesundheitsversorgung und zu Systemen sozialer Sicherheit, oder auch vor willkürlichen Landvertreibungen, Mietwucher und der Ausgrenzung vom kulturellen Leben. Zugleich fordern sie eine aktive Arbeitsmarkt-, Sozial- und Bildungspolitik.
Wenig überzeugend ist auch der von der Vorgängerregierung vorgebrachte, zweifelhafte Einwand, Deutschland würde erst dann einer Ratifizierung zustimmen, wenn die sich daraus ergebenden Pflichten mit deutschem Recht in Einklang stünden – und dies wäre eben sorgsam zu prüfen. Das Fakultativprotokoll zum Sozialpakt schafft keine neuen Rechte. Auch ohne das Protokoll war und ist Deutschland völkerrechtlich verpflichtet, den Pakt umzusetzen und sicherzustellen, dass Recht und Politik den Verpflichtungen aus dem Vertrag entsprechen. Allenfalls ist es möglich, dass in Beschwerdeverfahren etwaige Interpretationsdifferenzen zwischen dem UN-Ausschuss und der Bundesregierung zum Tragen kommen. Dies könnte die Bundesregierung dazu verleiten, weitere Kommentierungen einzelner Paktrechte und die weitere Spruchpraxis in den Beschwerdeverfahren abzuwarten, bevor sie eine Entscheidung über die Ratifizierung des Zusatzprotokolls trifft. Doch böten gerade Beschwerden die Möglichkeit, sich über rechtliche Auslegungsfragen zu verständigen, zumal sie den UN-Ausschuss disziplinieren, seine Entscheidungen auf justiziable Weise zu begründen. Im Unterschied zu einem allgemeinen Staatenberichtsverfahren wäre es dem Ausschuss möglich, einzelfallbezogen Rechtsverletzungen zu identifizieren – und darüber mit der Regierung in den Dialog zu treten.
Die deutschen Ministerien treibt offenbar die diffuse Sorge um, dass eine nicht vorhersehbare Beschwerdeflut auf sie zukommen könnte.
Einen solchen Dialog scheut aber offenbar die Bundesregierung. Vor allem in jenen Ressorts, die für die innenpolitische Umsetzung des Sozialpakts zuständig sind, finden sich Bedenkenträger. Diese treibt offenbar die diffuse Sorge um, dass eine nicht vorhersehbare Beschwerdeflut auf sie zukommen könnte. Diese Sorge ist aber überzogen – und hat sich auch im Falle der UN-Frauen-, UN-Kinder- und der UN-Behindertenrechtskonvention nicht bewahrheitet. Denn auch diese Verträge sehen ein – von Deutschland akzeptiertes – Beschwerdeverfahren für die in ihnen enthaltenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vor. Selbst das vielkritisierte generelle Streikverbot von Beamten in Deutschland wird, wenn überhaupt, eher in einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte münden, da es auch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kollidiert. Manche andere Streitpunkte, wie Studiengebühren und Mindestlohn, haben sich inzwischen politisch erledigt.
Selbst wenn es nur sehr wenige Beschwerden geben sollte, wäre ein Beschwerdeverfahren nicht nutzlos. Da im Grundgesetz keine sozialen Grundrechte enthalten sind, kann ein Beschwerdeverfahren für soziale Menschenrechte ein Korrektiv sein gegenüber solchen Gesetzen, Verordnungen und politischen Maßnahmen, die menschenrechtliche Probleme aufwerfen. Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht beispielsweise in den ersten 15 Monaten nur einen eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsleistungen für Asylsuchende vor, was aus Sicht einiger Juristen gegen das Diskriminierungsverbot des Sozialpakts verstößt. Beschwerdeverfahren stellen dabei nicht nur ein Instrument dar, das Betroffenen hilft, ihre Rechte einzufordern. Von ihnen können Impulse auf die Rechtspraxis ausgehen, die Rechte des Sozialpakts besser zu achten, zu schützen und umzusetzen. Auch bieten Beschwerden dem UN-Ausschuss die Möglichkeit, anhand von Einzelfällen den justiziablen Gehalt der Paktrechte und die Reichweite der Staatenpflichten noch weiter zu konkretisieren. Eine solche Spruchpraxis ist griffiger als die allgemeine Bewertung der Menschenrechtspolitik im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens – und wird von Gerichten, die in Deutschland bislang kaum auf den UN-Sozialpakt Bezug nehmen, vielleicht eher berücksichtigt.
Hinzu kommt die politische Signalwirkung: Indem nicht nur für den UN-Zivilpakt, sondern auch für den UN-Sozialpakt ein Beschwerdeverfahren anerkannt wird, wird betont, dass die bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte gleichwertig und untrennbar miteinander verbunden sind. Dies stärkt den internationalen Menschenrechtsschutz und dient zugleich der Glaubwürdigkeit deutscher Menschenrechtspolitik. Der Vorwurf der Doppelstandards liegt nahe, wenn die Bundesregierung außen- und entwicklungspolitisch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte einfordert und fördert, sie zugleich aber vor dem UN-Ausschuss keine Beschwerden gegen Verletzungen des UN-Sozialpakts im eigenen Land zulässt. Beim allgemeinen Überprüfungsverfahren im UN-Menschenrechtsrat forderten bezeichnenderweise viele Staaten die Bundesregierung auf, das Fakultativprotokoll zu ratifizieren. Seit 2009 haben es 48 (der 164) Vertragsstaaten des Sozialpakts unterzeichnet, 22 haben es ratifiziert, darunter Belgien, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Montenegro, Portugal, die Slowakei und Spanien. Deutschland stünde es gut an, es ihnen gleichzutun und für weitere Ratifizierungen zu werben. Zur vollen Anerkennung der Menschenrechte gehört eben auch die volle Anerkennung entsprechender Kontrollverfahren. Das Menschenrechtsnetzwerk „Forum Menschenrechte“ und etliche seiner rund 50 Mitgliedsorganisationen fordern dies schon lange.
2 Leserbriefe
In dem Zusammenhang fällt mir auch ein, dass es für Firmen wie KIK und Co. noch immer keinen gesetzlichen Zwang zur besseren Überwachung der Arbeitsverhältnisse in Ländern wie z.B. Pakistan gibt. Wieder einmal die ziemlich wirkungslose Selbstverpflichtung. Einfach nur traurig!
Es wird u.a. auch deutlich, welche Heucheleien Bundespolitiker + Bundesminister mit ihren MR-Bekundungen betreiben.