Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.

Wolodymyr Selenskyj baut diese Woche seine Regierung um. Mehr als die Hälfte der ukrainischen Kabinettsmitglieder werden ausgetauscht. Was steckt dahinter?

Gerüchte um eine Regierungsumbildung gab es in Kiew schon seit vielen Monaten. Präsident Selenskyj hat bereits im Frühjahr von einem notwendigen „Reboot“ der staatlichen Institutionen gesprochen. Die eigentlich für Oktober 2023 und Frühjahr 2024 geplanten Parlaments- und Präsidentenwahlen konnten unter Kriegsrecht nicht stattfinden. Die turnusgemäße Erneuerung des politischen Personals ist damit ausgeblieben. Nun sollen die angekündigten Rotationen die fehlenden Wahlen mindestens teilweise kompensieren, das Volk bekommt neue Gesichter zu sehen. Auf der individuellen Ebene können Rücktritte auch persönliche Gründe haben: Ein Ministerjob in Kriegszeiten ist extrem kräftezehrend. Die Ukraine steht nach den verheerenden russischen Angriffen der letzten Tage auf Energieinfrastruktur, Bildungseinrichtungen und zivile Ziele vor einem sehr schweren Herbst und Winter. Selenskyj hat davon gesprochen, sein Team benötige „neue Energie“. In Kiew wird gemutmaßt, dass neben Effektivität und Effizienz die Loyalität zum Präsidenten das Hauptkriterium für die Neubesetzungen ist.

Unter anderem muss auch Außenminister Dmytro Kuleba sein Amt räumen. Was erhofft sich Selenskyj von einem Wechsel auf dem Posten des Chefdiplomaten?

Kuleba war als Außenminister im In- und Ausland anerkannt. Über inhaltliche Differenzen mit Selenskyj ist wenig bekannt. Grund für die Entlassung könnte die Konkurrenz zwischen Außenministerium und Präsidialbüro sein. So sei Kulebas starke Medienpräsenz dem Präsidenten ein Dorn im Auge gewesen. Kulebas Nachfolger wird wenig überraschend dessen bisheriger Stellvertreter Andrij Sybiha, der erst im April aus dem Präsidentenbüro ins Außenministerium gewechselt war. Schon damals gab es Gerüchte über einen baldigen Ministerwechsel. Traditionell hat der ukrainische Präsident eine wichtige Rolle in der Außenpolitik. Selenskyj und sein Büroleiter Andriy Jermak haben Kuleba in den vergangenen Monaten immer weiter an den Rand gedrängt. Mit einem Politikwechsel ist jedoch nicht zu rechnen.

Welche Herausforderungen kommen in den nächsten Monaten auf die neue Regierung zu?

Die Herausforderungen für die teilerneuerte Regierung bleiben gigantisch: Neben den Kriegsanstrengungen ist hier in erster Linie die Sicherung der Energieversorgung vor dem Winter zu nennen. Auf internationalem Parkett geht es um die weitere militärische und finanzielle Unterstützung. Gleichzeit muss die heimische Wirtschaft am Leben erhalten und die ukrainische Waffen- und Munitionsproduktion angekurbelt werden, damit die absolut kritische Abhängigkeit von externer Unterstützung abnimmt.

Parallel will die Ukraine im Zuge des EU-Beitrittsprozesses ein anspruchsvolles Reformprogramm umsetzen.

Parallel will die Ukraine im Zuge des EU-Beitrittsprozesses ein anspruchsvolles Reformprogramm umsetzen. Dass angesichts dieser Vielzahl an komplexen Baustellen nicht alles perfekt laufen kann, liegt in der Natur der Sache. Ob allerdings Personalwechsel – die primär erstmal die Abläufe in den Ministerien durcheinanderwirbeln – zumindest kurz- bis mittelfristig mehr schaden als nützen, ist eine Frage, die von der ukrainischen Regierung sicherlich intensiv mit den westlichen Partnern diskutiert worden ist.

Putins Truppen rücken im Osten des Landes weiter vor. Die Ukraine konnte zuletzt wiederum in Kursk sowie durch Drohnenangriffe auf russischem Territorium Erfolge erzielen. Wie ist die Stimmung derzeit in der ukrainischen Bevölkerung?

Das ist eine schwierige Frage: Persönliche Eindrücke sind wie immer sehr selektiv. Ich nehme einerseits große Erschöpfung, andererseits starken Durchhaltewillen wahr. Es gibt natürlich Umfragen, aber die sind unter Kriegsbedingungen mit einem hohen Konformitätsdruck auch nicht ganz unproblematisch. Aus ihnen war Anfang des Sommers sinkendes Vertrauen in Regierung, Parlament und Präsident abzulesen – Letzteres kommend von einem sehr hohen Niveau. Daneben war eine wachsende Bereitschaft zu Verhandlungen mit Russland zu verzeichnen, um den Krieg zu beenden. Der Regierungsumbau wird in den Sozialen Medien eher kritisch und mit viel Skepsis kommentiert. Die Kursk-Offensive hat sicherlich Hoffnungen geweckt, dass die Ukraine im Krieg das Blatt noch einmal wenden kann. Allerdings kann dieser Effekt auch schnell wieder verpuffen, wenn der russische Vormarsch im Donbass weitergeht.