Wirtschaftswachstum und Bevölkerungsdaten sprechen für Indien als "aufstrebende Macht". Beobachter kritisieren jedoch die "Bedeutungslosigkeit Indiens in globalen Fragen". Ist diese Kritik berechtigt? Wie würden Sie Indiens Rolle in der heutigen Weltpolitik beschreiben?
Diese Kritik ist zum Teil berechtigt. Indien bringt auf der globalen Bühne nicht sein volles Gewicht zur Geltung. Die letzte größere Neuerung in der Außenpolitik – die "Look-East"-Doktrin in Asien – geht auf Mitte der 1990er-Jahre zurück. Formuliert wurde sie während der Amtszeit von Premierminister P.V. Narasimha Rao (1991-1996), der in den 1980er-Jahren schon das Amt des Außenministers bekleidet hatte. Die Gründe für Indiens Zurückhaltung in globalen Fragen sind zahlreich und komplex. Einer dieser Gründe ist der verkrustete Auswärtige Dienst. Indiens Diplomaten sind viel zu häufig desinteressiert oder charakterschwach (auch wenn es da bemerkenswerte Ausnahmen gibt) und gehören einer Bürokratie an, die weder organisatorisch noch ideell mit der Zeit gegangen ist. Der diplomatische Dienst ist außerdem viel zu klein, um Indiens Anforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Ein wesentlicherer Grund ist jedoch der Mangel an strategischem Denken und Handeln auf den höheren Ebenen der gewählten Regierung. Auch hier gibt es wieder Ausnahmen. Der frühere Premierminister Inder Kumar Gujral, der ebenfalls zuvor Außenminister gewesen war, verfolgte ab 1997 eine Politik, die unter dem Namen "Gujral-Doktrin" bekannt wurde: eine Politik der Flexibilität und Großzügigkeit in den Beziehungen mit Indiens Nachbarländern. Als Premierminister von 1998 bis 2004 versuchte Atal Behari Vajpayee (der in den späten 1970er-Jahren als Außenminister diente) immer wieder, ein neues Kapitel in den Beziehungen zu Pakistan aufzuschlagen. Gujral und Vajpayee hatten ein ausgeprägtes Interesse an außenpolitischen Angelegenheiten; beide fungierten in den 1990er-Jahren als Vorsitzende des ständigen parlamentarischen Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten.
Im letzten Jahrzehnt fehlt es jedoch auf den höchsten Regierungsebenen eindeutig an strategischen Denkweisen und Initiativen, um Indiens zunehmendes Gewicht in der Welt wirksam einzusetzen.
Im letzten Jahrzehnt fehlt es jedoch auf den höchsten Regierungsebenen eindeutig an strategischen Denkweisen und Initiativen, um Indiens zunehmendes Gewicht in der Welt wirksam einzusetzen (das indisch-amerikanische Abkommen von 2008 über die friedliche Nutzung von Kernenergie war eher ein Ad-hoc-Ereignis als eine strategische Vision). Indiens Ansätze in den weltweiten Verhandlungen zu Handel und Klimaschutz waren taktisch klug, aber strategisch einfallslos und wenig ambitioniert. Eine grundlegende Instandsetzung des indischen außenpolitischen Apparates ist überfällig. In diesen Apparat muss ein frisches, kreatives und vorausschauendes Denken Einzug halten, das ihn neu belebt. Experten, die nicht selbst eine Laufbahn im Auswärtigen Dienst eingeschlagen haben, sollten in die Debatte und die Neuformulierung der Politik miteinbezogen werden und auch jüngere Politiker sollten eine größere Rolle spielen.
Die chinesisch-indischen Beziehungen schwanken weiterhin zwischen einer Vertiefung der wirtschaftlichen Bindungen und gelegentlichen militärischen Konfrontationen. Gibt es so etwas wie eine umfassende indische Strategie gegenüber China?
Nein, das glaube ich nicht. Es besteht ein stillschweigendes Abkommen zwischen den beiden Ländern, die Grenzstreitigkeiten vorerst auf sich beruhen zu lassen, da die Aussichten auf eine Einigung sehr gering erscheinen. Der chinesisch-indische Handel floriert (wenn auch mit einem deutlichen Ungleichgewicht zugunsten Chinas). Es gibt auch einige Kontakte auf militärischer Ebene. Allerdings sind in Indien das Bewusstsein für oder sachkundige öffentliche Debatten über China und Indiens Beziehungen zu China sehr selten (dasselbe ist in China vis-à-vis Indien zu beobachten). Eine Ausweitung des wissenschaftlichen und kulturellen Austauschs sowie von Reiseverbindungen und bilateralem Reiseverkehr könnte hier Abhilfe schaffen.
In Ihrem Buch "Transforming India" deuten Sie auf eine Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb des Landes hin. Können Sie das näher ausführen?
Indiens politische Landschaft hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten sehr verändert. Das bis Ende der 1980er-Jahre bestehende vorherrschende Einparteiensystem wurde von einem verwirrend unübersichtlichen Mehrparteiensystem abgelöst, das immer mehr von "regionalen" Parteien dominiert wird – d. h. von Parteien mit einer Massenbasis in einer der Bundesstaaten der Indischen Union (derzeit gibt es 28 Bundesstaaten). Seit 1996 gab es in Indien immer Koalitionsregierungen im "Zentrum" (Neu-Delhi); von 1998 bis 2004 war die hinduistisch-nationalistische Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei, BJP) Dreh- und Angelpunkt der Regierungskoalition und danach übernahm die Kongresspartei diese Rolle. Die Kongresspartei wird allerdings schon seit Ende der 1980er Jahre stetig schwächer und ihr Niedergang könnte in den anstehenden Parlamentswahlen im April/Mai 2014 seinen Endpunkt erreichen. Die einst hegemoniale Partei ist entweder schon in die Bedeutungslosigkeit gerutscht oder tut dies gerade in vielen Teilen des Landes, darunter in fünf oder sechs der bevölkerungsreichsten Bundesstaaten. Die Stärke der BJP konzentriert sich nur auf einige Staaten in Nord- und Westindien. In fast ganz Süd- und Ostindien sind die Hindunationalisten dagegen sehr schwach und selbst in wichtigen nördlichen Staaten wie Uttar Pradesh und Bihar hat die BJP starke politische Konkurrenz, vorwiegend in Form regionaler Parteien.
Dem seit Langem währenden Niedergang der Kongresspartei und dem dauerhaften Stagnieren der BJP steht der explosionsartige Aufstieg regionaler Parteien gegenüber.
Dem seit Langem währenden Niedergang der Kongresspartei und dem dauerhaften Stagnieren der BJP steht der explosionsartige Aufstieg regionaler (staatengebundener) Parteien gegenüber, die die Identität und Interessen einer Vielfalt sowie komplexen Umstellungen und Kombinationen von ethnischen und subethnischen, linguistischen und sublinguistischen Gruppierungen sowie Kasten und untergeordnete Kasten repräsentieren.
Das hat zu einer dynamischeren und repräsentativeren Demokratie geführt und gleichzeitig – vielleicht paradoxerweise – die indische nationale Identität gestärkt, da verschiedene Identitäts- und Interessengruppen an den demokratischen Prozessen und Institutionen teilhaben und sich dadurch Gehör verschaffen (für die große Mehrheit der Inder gründet das indische nationale Selbstverständnis auf machtvollen kommunitären Identitäten und existiert mit diesen zusammen). Daraus hat sich eine Situation herausgebildet, die ich in meinem gerade erschienenen Buch Transforming India – Challenges to the World’s Largest Democracy "de-zentrierte Demokratie" nenne. Eine dynamische Föderalisierung von unten nach oben hat zu durchsetzungsfähigeren und autonomeren Bundesstaaten geführt. Während die 1950 in Kraft getretene indische Verfassung ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht zwischen gesamtstaatlichen und föderalen Merkmalen verkörperte, hat sich Indien im 21. Jahrhundert zu einem im Wesentlichen föderalen Gemeinwesen entwickelt. In den kommenden Jahren wird Indiens Erfolg – einschließlich des so entscheidenden wirtschaftlichen Erfolgs – weitgehend davon abhängen, ob dieser Föderalismus funktioniert, insbesondere im "Zentrum" in Neu-Delhi.
Welche Auswirkungen wird diese Machtverlagerung vom Zentrum zu den indischen Bundesstaaten auf Indiens zukünftige Außenpolitik haben?
Die Auswirkungen sind insofern schon sichtbar, als bundesstaatliche Regierungen und mächtige Regionalparteien bei außenpolitischen Angelegenheiten mit Indiens regionaler Nachbarschaft ihre Muskeln spielen lassen. Als Beispiel sei hier Tamil Nadu angeführt, ein bevölkerungsreicher Staat ganz im Süden Indiens. Dieser Staat wird von regionalen Parteien beherrscht und auch die Regierung wird von einer Regionalpartei gebildet, mit einer Frau als Regierungschefin. Die Regierung und die Regionalparteien von Tamil Nadu haben erfolgreich darum gekämpft, dass die Regierung in Neu-Delhi eine harte Haltung gegenüber der Regierung von Sri Lanka eingenommen hat in der Frage der Behandlung und der Rechte der tamilischen Minderheit in dem Land.
Auch im bevölkerungsreichen Bundesstaat Westbengalen in Ostindien wird die Regierung von einer regionalen Partei geführt (die sich in den späten 1990er-Jahren als Abspaltung von der Kongresspartei gründete), ebenfalls mit einer durchsetzungsfähigen Frau als Chief Minister. Diese regionale Regierung hat kürzlich mit ihrer kompromisslosen Haltung gegenüber dem Nachbarstaat Bangladesch de facto die Versuche der Regierung in Neu-Delhi zum Stillstand gebracht, ein Abkommen mit der Regierung Bangladeschs auszuhandeln über die Aufteilung des Wassers eines Flusses, der durch Westbengalen nach Bangladesch fließt. Die Durchsetzungskraft der bundesstaatlichen politischen Führungen ist und bleibt jedoch auf bestimmte, den jeweiligen Staat betreffende Angelegenheiten beschränkt und hat keine Auswirkungen auf die indische Außenpolitik insgesamt.
Welche Bedeutung haben die Wahlen im nächsten Jahr für Indiens Außenpolitik? Erwarten Sie, dass außenpolitische Themen eine wichtige Rolle im Wahlkampf spielen werden?
Nein, ich glaube nicht, dass außenpolitische Themen eine nennenswerte Rolle bei den Parlamentswahlen von 2014 spielen werden. Das wichtigste Thema ist und wird auch im nächsten Jahr die Wirtschaft sein, die seit 2011 erheblich ins Stocken geraten ist, was nicht nur für die arme Bevölkerung, sondern auch für die Mittelschichten sehr negative Folgen hat. Mit dieser zentralen Bedeutung der Wirtschaftslage auf den Wahlkampf ähnelt Indien den USA und anderen Demokratien in Europa und der entwickelten Welt. Der wirtschaftliche Abschwung und insbesondere die Inflation (vor allen bei den Preisen für Grundnahrungsmittel) werden der regierenden Kongresspartei teuer zu stehen kommen. Außerdem wird die wahrgenommene Inkompetenz der von der Kongresspartei angeführten Regierung in Neu-Delhi bei einer ganzen Reihe anderer innenpolitischer Fragen ein wesentlicher Faktor sein. Das einzige außenpolitische Thema, das möglicherweise eine wichtige Rolle spielen wird, ist Pakistan, aber auch nur, wenn zwischen heute und nächstem April/Mai in Indien größere mit Pakistan in Zusammenhang stehende terroristische Angriffe verübt werden.